Bewältigung von Massenverfahren – ein Dauerbrenner

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Das Thema „Bewältigung von Massenverfahren“ beschäftigt seit einigen Jahren Gerichte, Interessenverbände, Anwaltschaft und zuletzt auch den Gesetzgeber. So beriet der Bundestag (siehe hier) am 02.03. 2023 auf Antrag der Opposition zu diesem Thema und diskutierte dabei auch die EU-Verbandsklagenrichtlinie (siehe hier), durch welche man sich unter anderem eine Entlastung der Justiz von Individualklagen in Massenverfahren verspricht. Mit dieser Richtlinie, die am 25.12.2020 in Kraft trat, bezweckt die EU die unionsweite Stärkung des Schutzes der Kollektivinteressen von Verbrauchern und Verbraucherinnen und verpflichtet die Mitgliedstaaten, hierfür die prozessualen Werkzeuge zur Verfügung zu stellen.

Mit einiger Verspätung veröffentlichte das Bundesjustizministerium am 16.02.2023 einen Gesetzentwurf (siehe hier) zur Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie.

Der deutsche Gesetzgeber will mit dem Gesetzentwurf eine neue sogenannte Abhilfeklage einführen, mit der Ansprüche gegen Unternehmen gebündelt durchgesetzt werden können. Der Entwurf ist bereits im Herbst vergangenen Jahres fertiggestellt worden, wurde allerdings im Anschluss zwischen dem Bundesjustizministerium und dem Bundesministerium für Verbraucherschutz kontrovers diskutiert. Da jedoch die Frist zur Umsetzung der Richtlinie bereits am 25.12.2022 ablief und die neuen Vorschriften ab dem 25.06.2023 angewendet werden sollen, drängte die Zeit. Daher hatten interessierte Parteien und Verbände nur bis zum 03.03.2023 – in einem außergewöhnlich kurzen Zeitfenster – die Möglichkeit, ihre Anmerkungen zum Entwurf mitzuteilen.

Deutschland ist mit der verzögerten Umsetzung übrigens in guter Gesellschaft: Am 27.01.2023 kündigte die Europäische Kommission an (siehe hier), gegen insgesamt 24 Mitgliedstaaten formale Schritte einzuleiten.

Abgrenzung zur Musterfeststellungsklage und zum KapMuG

Im Zentrum des deutschen Entwurfs steht ein neues Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG), das die bisher in der Zivilprozessordnung enthaltenen Regelungen zur Musterfeststellungsklage mit den Regelungen zur Einführung der neuen Abhilfeklage zusammenführt. Beide Instrumente werden unter dem Oberbegriff der Verbandsklage zusammengefasst.

Anders als die bisher allein auf Feststellung von Tatsachen und Rechtsfragen gerichtete Musterfeststellungsklage soll die neue Abhilfeklage ermöglichen, Unternehmen gebündelt auf tatsächliche Leistung in Anspruch zu nehmen. Musterfeststellungsklage und Abhilfeklage sollen fortan gleichberechtigt nebeneinanderstehen.

Der entscheidende Unterschied der geplanten Abhilfeklage zur Musterfeststellungsklage ist, dass die registrierten Teilnehmer im Erfolgsfall – bei Verurteilung des Unternehmers zur Leistung eines kollektiven Gesamtbetrags – direkt eine Auszahlung ihrer Entschädigung erhalten. Anders die Musterfeststellungsklage, die lediglich zur gerichtlichen Feststellung von Tatsachen oder Rechtsfragen führt und die individuelle Anspruchsdurchsetzung im Anschluss den Verbrauchern überlässt.

Die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK, siehe hier) sieht in ihrer Stellungnahme Nachbesserungsbedarf bei der klaren Abgrenzung zum Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG).

Anwendungsbereich der Abhilfeklage

Die Abhilfeklage soll für sämtliche zivilrechtlichen Streitigkeiten offenstehen. Der deutsche Gesetzgeber geht damit in seiner Umsetzung weiter als die Richtlinie, die nur die Verletzung von EU-Normen erfassen kann. Die geforderte Leistung kann dabei Schadensersatz, aber auch Reparatur, Vertragsauflösung, Preisminderung oder Kaufpreiserstattung betreffen. Die BRAK kritisiert dabei, dass im Entwurf nicht ausreichend deutlich werde, dass auch kartellrechtliche und urheberrechtliche Schadensersatzansprüche vom Anwendungsbereich der Verbandsklage umfasst sein sollen.

Der Weg der Abhilfeklage steht dann offen, wenn sich ein Teilnehmerkreis von mindestens 50 betroffenen Verbraucherinnen und Verbrauchern gefunden hat, wobei kleine Unternehmen laut Entwurf Verbrauchern gleichgestellt werden. Auch in diesem Punkt geht der deutsche Gesetzgeber über die Anforderungen der Richtlinie hinaus: Zu kleinen Unternehmen sollen bereits Betriebe zählen, die weniger als 50 Personen beschäftigen und einen Jahresumsatz von unter zehn Millionen Euro erzielen.

Ansprüche, die mittels Abhilfeklage verfolgt werden, müssen nach dem Entwurf „gleichartig“ gelagert sein, das heißt, sie müssen auf demselben Sachverhalt beruhen und die gleichen Tatsachen- und Rechtsfragen aufwerfen. In seiner Stellungnahme begrüßt der Deutsche Richterbund (siehe hier) die Herangehensweise des Entwurfs, wonach für einen effizienteren Verfahrensablauf „schablonenhaft“ über alle Fälle gebündelt in einem einzigen Verfahren zu entscheiden sein muss, ohne individuellen Besonderheiten Rechnung tragen zu müssen.

Der Ablauf der Abhilfeklage

Klageberechtige Parteien im Sinne des VDuG sind sogenannte qualifizierte Einrichtungen, die – vergleichbar mit den Musterfeststellungsklagen – in die Liste nach § 4 Abs. 1 UKlaG eingetragen sein müssen.
Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich an einer Abhilfeklage beteiligen wollen, müssen sich – wie bereits bei KapMuG und Musterfeststellungsklage – aktiv in einem entsprechenden Verbandsklageregister mit ihren Ansprüchen anmelden. Diese Opt-in-Lösung soll jedoch nur spätestens bis zu dem Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung zur Verfügung stehen. Insbesondere dieser Zeitpunkt war – und ist – zwischen den beteiligten Ministerien umstritten. Vorgeschlagen wurde seitens der Verbraucherschützer die Möglichkeit der Registrierung auch noch nach Vergleichsschluss oder Urteilserlass. Dass man sich mit dem Entwurf dagegen entschieden hat, begrüßt vor allem der Deutsche Anwaltsverein (DAV, siehe hier) in seiner Stellungnahme. Nur so sei rechtzeitig Klarheit darüber gegeben, wie viele Ansprüche beziehungsweise Rechtsverhältnisse von der Abhilfeklage umfasst werden. Und nur so sei dem betroffenen Unternehmen eine repräsentative wirtschaftliche Einschätzung der Situation möglich.

Die Abhilfeklage soll aus verschiedenen Phasen bestehen: Sofern das Gericht die Ansprüche für dem Grunde nach gerechtfertigt hält, ergeht zunächst ein Abhilfegrundurteil. Damit wird in einem ersten Schritt über das „Ob“ der Anspruchsberechtigung entschieden. Dieses Abhilfegrundurteil hält die Voraussetzungen für eine Anspruchsberechtigung fest, ebenso die von jedem einzelnen Verbraucher zu erbringenden Berechtigungsnachweise.

An den Erlass des Grundurteils schließt sich eine Vergleichsphase an, in der das beklagte Unternehmen und die klagende Stelle versuchen, eine gütliche Einigung zu finden. Den angemeldeten Verbrauchern verbleibt das Recht, den Austritt aus dem Vergleich zu erklären; sie sind dann auch an einer anschließenden Individualklage nicht gehindert.

Kann das Verfahren nicht mittels eines Vergleichs beendet werden, geht es in die nächste Phase, in der das Gericht darüber entscheidet, in welcher Form das Unternehmen die Verbraucher entschädigt. Diese Entscheidung soll „Abhilfeendurteil“ heißen und legt den gegebenenfalls vom beklagten Unternehmen zu leistenden kollektiven Gesamtbetrag sowie die Details der Phase vier, des Umsetzungsverfahrens, fest. Ob und wie in der Praxis die Schätzung eines auszuurteilenden Gesamtbetrags gelingen soll, bleibt abzuwarten. Das Unternehmen soll schließlich seine Leistungen in einen „Umsetzungsfonds“ einzahlen. Ein vom Gericht bestellter Sachverwalter prüft sodann die Anspruchsberechtigung der registrierten Verbraucher und nimmt die Ausschüttung des Gesamtbetrags an die Berechtigten vor.

Offenlegung von Beweismitteln mittels Ordnungsgeldern

Mit dem Entwurf wird auch hinsichtlich der Durchsetzung zur Offenlegung von Beweismitteln Neuland betreten: Die Richtlinie selbst sieht vor, dass die Mitgliedstaaten entsprechende Sanktionen vorhalten sollen, um die Informationsasymmetrien zwischen den Parteien zu überwinden, insbesondere um für das Verfahren relevante Beweismittel zu erlangen. Da die deutsche Zivilprozessordnung keine Discovery kennt, wie sie in anderen Rechtsordnungen zur Verfügung steht, hat man sich im Entwurf dafür entschieden, dass auf die Parteien mittels Androhung eines Ordnungsgelds von bis zu 250.000 Euro Druck ausgeübt werden kann. Mit dieser Neuerung ergeben sich jedoch eine Reihe von Folgefragen, insbesondere ob für die gleiche Offenlegungsanordnung mehrfach ein Ordnungsgeld verhängt werden kann. Vor allem der DAV kritisiert daran, dass es an der Notwendigkeit für eine solche Regelung fehle, da die ZPO bereits ausreichende Regelungen zur Erleichterung der Darlegungs- und Beweislast der entsprechend belasteten Partei kenne. Die BRAK ist demgegenüber der Ansicht, dass nach dortiger Erfahrung von § 142 ZPO bislang nur höchst selten Gebrauch gemacht werde.

Umgang mit Prozessfinanzierung

Gegenstand zahlreicher Stellungnahmen zum Entwurf sind darüber hinaus die Regelungen zum Umgang mit Prozessfinanzierern. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass eine Verbandsklage unzulässig ist, wenn sie von einem Dritten finanziert wird, „von dem zu erwarten ist, dass er die Prozessführung der klageberechtigten Stelle, einschließlich Entscheidungen über Vergleiche, zu Lasten der Verbraucher beeinflussen wird“. Die BRAK kritisiert diese Regelung mangels Überprüfbarkeit als zu unpraktikabel. Da sich Prozessfinanzierer regelmäßig darauf zurückziehen werden, dass eine Beeinträchtigung in ihrem Fall nicht zu erwarten sei, sollte vielmehr allein auf die rein tatsächliche Möglichkeit einer Einflussnahme abgestellt werden, überprüfbar insbesondere anhand der dem Prozessfinanzierer im zugrunde liegenden Vertrag eingeräumten Mitsprache-, Veto- und Kündigungsrechte im Hinblick auf potentielle Vergleichsschlüsse. Manch ein Prozessfinanzierer (siehe hier) sieht darin einen schwerwiegenden Eingriff und unbillige Hürden für die Klägerseite. Es wird von dieser Seite daher angeregt, den Gerichten differenziertere Kompetenzen bei der Beurteilung der Frage einzuräumen, vor allem im Verdachtsfall zunächst „geeignete Maßnahmen“ zu ergreifen, um eine Einflussnahme auszuschließen. Gleiches gilt für die im Entwurf festgelegten Offenlegungspflichten – hier sehen Prozessfinanzierer es beispielsweise nicht als erforderlich an, die gesamte Finanzierungsvereinbarung offenzulegen, sondern, „soweit angemessen, nur relevante Teile“.

Tatsächliche Entlastung der Justiz?

Ein wichtiges Ziel des Entwurfs soll die Entlastung von mit Massenverfahren befassten Gerichten sein. Beispielsweise sieht der Entwurf vor, die in § 148 ZPO geregelten Aussetzungsmöglichkeiten zu erweitern, um zeitraubende parallele Sachverständigenbegutachtungen zu identischen Fragestellungen zu vermeiden und die Verfahren dadurch effizienter führen zu können. Insbesondere der Deutsche Richterbund äußert sich jedoch kritisch hierzu und sieht den Zweck der Entlastung der Justiz als „allenfalls teilweise“ erreicht. Vor allem wird kritisiert, dass sich ein Großteil der Verbraucher nicht davon abhalten lassen werde – unterstützt durch Rechtsschutzversicherer und spezialisierte Anwälte –, eine Individualklage zu erheben. Zumal der Entwurf hierfür ausdrücklich den Weg eröffnet.

 

johanna.weissbach@pinsentmasons.com

sandra.groeschel@pinsentmasons.com

 

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