Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 16.05.2024 (Rs. C-706/22) entschieden, dass es nach europäischem Recht keine Verpflichtung gibt, ein Verhandlungsverfahren nachzuholen, wenn eine Europäische Gesellschaft (Societas Europaea, SE) mangels Arbeitnehmern zunächst ohne Verhandlungsverfahren gegründet wurde. Laut europäischem Recht sei das Verhandlungsverfahren mit Arbeitnehmervertretern nur vor der Eintragung der SE ins Register durchzuführen, nicht jedoch danach. Damit widerspricht der EuGH der Rechtsprechung einzelner nationaler Gerichte wie dem OLG Düsseldorf vom 30.03.2009 und der bisherigen überwiegenden Beratungspraxis.
Einführung: Besonderheiten der SE
Die SE ist eine in den Mitgliedstaaten der EU und den übrigen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (im Folgenden: Mitgliedstaaten) weit verbreitete kapitalmarktfähige Rechtsform. Sie bietet Unternehmen die Wahlmöglichkeit zwischen zwei unterschiedlichen Leitungsstrukturen – entweder wie bei deutschen Aktiengesellschaften dualistisch (mit Vorstand und Aufsichtsrat) oder monistisch (mit einem Verwaltungsrat und geschäftsführenden Direktoren), wie aus anderen Rechtsordnungen bekannt.
Die SE unterliegt darüber hinaus nicht den nationalen Mitbestimmungsgesetzen (insbesondere dem Mitbestimmungsgesetz und dem Drittelbeteiligungsgesetz). Die Beteiligung von Arbeitnehmern in der jeweiligen SE orientiert sich im Wesentlichen an dem Mitbestimmungsregime, das in den an der SE-Gründung beteiligten Gesellschaften vor der SE-Gründung Bestand hat (dazu Weiteres sogleich), kann aber im Grundsatz – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – flexibel gestaltet werden.
Muss der Aufsichts- oder Verwaltungsrat einer inländischen SE anteilig mit Arbeitnehmervertretern besetzt werden, kann im Gegensatz zum deutschen Mitbestimmungsrecht auch Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen anderer Mitgliedstaaten das Recht zustehen, einen eigenen Vertreter in das Gremium zu wählen oder zu entsenden, so dass nicht nur die inländische Belegschaft repräsentiert wird.
Zweck des Verhandlungsverfahrens: Schutz der Unternehmensmitbestimmung
Inländische Arbeitnehmervertreter stehen der zuvor beschriebenen Flexibilität im Vergleich zu einer deutschen Aktiengesellschaft oft kritisch gegenüber und befürchten, dass die Rechtsform der SE genutzt wird, um Mitbestimmungsrechte zu umgehen.
Um einen Verlust von Mitbestimmungsrechten zu verhindern, hat der europäische Gesetzgeber jedoch in Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 (SE-VO) ein Verhandlungsverfahren zur Voraussetzung der Eintragung einer SE im (Handels-)Register gemacht. Hieran sind die Unternehmensleitungen der Gründungsgesellschaften und Arbeitnehmervertreter aller betroffenen Betriebe und Tochtergesellschaften in den Mitgliedstaaten zu beteiligen. Das Verfahren, das in der europäischen SE-Richtlinie 2001/86/EG seine Grundlage hat und im deutschen Umsetzungsgesetz, dem SE-Beteiligungsgesetz (SEBG), geregelt ist, sieht zunächst die Wahl eines besonderen Verhandlungsgremiums (bVG) der Arbeitnehmer vor. Das bVG verhandelt mit den Unternehmensleitungen sodann über eine Beteiligungsvereinbarung, die neben der Einrichtung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmervertretern (üblicherweise durch einen SE-Betriebsrat) die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichts- oder Verwaltungsrat der SE regelt. Kommt binnen einer sechsmonatigen Verhandlungsfrist zwischen den Verhandlungspartnern keine Einigung in Form einer Beteiligungsvereinbarung zustande, greifen gesetzliche Auffangregeln. Zum Schutz bestehender Mitbestimmungsrechte richtet sich die Unternehmensmitbestimmung nach den Auffangregeln nach dem Stand der Unternehmensmitbestimmung in den an der SE-Gründung beteiligten Gesellschaften vor der SE-Gründung (sogenanntes Vorher-Nachher-Prinzip). Ist keine an der Gründung beteiligte Gesellschaft mitbestimmt, ist die SE es auch nicht.
Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass eine SE erst nach Durchführung des Verhandlungsverfahrens ins Handelsregister eingetragen und wirtschaftlich tätig werden kann, besteht dann, wenn die Gründungsgesellschaften und deren Tochtergesellschaften keine Arbeitnehmer beschäftigen. Denn in diesem Fall kann kein bVG aus Arbeitnehmervertretern gebildet werden.
Nachholung des Verhandlungsverfahrens bei arbeitnehmerlos gegründeter SE?
Lange war ungeklärt, ob ein Verhandlungsverfahren nachzuholen ist, wenn eine zunächst ohne Verhandlungsverfahren gegründete SE oder deren Konzerngesellschaften zu einem späteren Zeitpunkt Arbeitnehmer beschäftigen. Diese Frage ist nun vom Bundesarbeitsgericht (BAG) und dem Europäischen Gerichtshof behandelt worden.
Der Fall: Arbeitnehmerlos gegründete SE wird Gesellschafterin einer drittelbeteiligten GmbH
Im vorliegenden Fall stritten der Vorstand einer SE und der Konzernbetriebsrat darüber, ob ein Verhandlungsverfahren nachgeholt werden muss, wenn eine SE, die zunächst ohne Verhandlungsverfahren gegründet worden ist, kurz später Gesellschafterin einer GmbH wird, die Arbeitnehmer beschäftigt und sogar der Unternehmensmitbestimmung nach dem Drittelbeteiligungsgesetz unterliegt.
BAG: Keine Pflicht zur Nachholung des Verhandlungsverfahrens
Das BAG stellte in seinem Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 17.05.2022 (ABR 37/20 (A)) fest, dass das SEBG eine Pflicht zur Nachholung des Verhandlungsverfahrens nicht unmittelbar regele. Eine Nachholungspflicht aufgrund analoger Gesetzesanwendung hielt es nur im Fall einer planwidrigen Regelungslücke für möglich, die sich aus europäischem Recht ergeben müsse. Die Frage, ob europäisches Recht eine Nachholung des Verhandlungsverfahrens vorschreibe, legte das BAG dem EuGH vor.
EuGH: Keine nachträgliche Verhandlungspflicht nach Unionsrecht
Der EuGH verneinte diese Frage in seinem Urteil vom 16.05.2024 (C-706/22). Auch das Unionsrecht, konkret die SE-VO, sehe keine Pflicht zur nachträglichen Durchführung des Verhandlungsverfahrens vor. Das Verhandlungsverfahren müsse nur bei der Gründung der SE und vor deren Eintragung durchgeführt werden. Das Gericht stellte in seinem Urteil ausdrücklich klar, dass es sich hierbei auch nicht um ein Versehen handele, sondern um eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers, der ein Kompromiss über das Vorher-Nachher-Prinzip zugrunde liege.
Auch für den Fall eines Missbrauchs der Rechtsform der SE lehnte der EuGH eine Nachholungspflicht aufgrund Unionsrechts ab. Die SE-Richtlinie belasse jedoch den Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum bei der Auswahl der gegen einen Missbrauch der Rechtsform zu ergreifenden Maßnahmen.
Unmittelbare Auswirkungen des Urteils auf Bestandsvereinbarungen und die Anwendung der gesetzlichen Auffangregeln
Das Verhandlungsverfahren muss somit bei einer arbeitnehmerlos gegründeten SE weder nach deutschem noch europäischem Recht zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden.
Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zur überwiegenden bisherigen Beratungspraxis, das Verhandlungsverfahren bei einer wirtschaftlichen Aktivierung einer arbeitnehmerlos gegründeten Vorrats-SE vorsorglich nachzuholen. Dennoch kann es auch künftig sinnvoll sein, das Verhandlungsverfahren bei einer arbeitnehmerlos gegründeten SE nachträglich durchzuführen, um eine maßgeschneiderte Beteiligungslösung – vorrangig im Hinblick auf Informations- und Anhörungsrechte – zu erreichen und dem Vorwurf eines Missbrauchs der Rechtsform der SE entgegenzuwirken.
Nicht abschließend geklärt ist, wie sich die Rechtsprechung auf die Wirksamkeit von in der Vergangenheit nachträglich geschlossenen Beteiligungsvereinbarungen auswirkt. Nach hier vertretener Ansicht dürften solche Beteiligungsvereinbarungen – sofern sie kein Lösungsrecht der Parteien enthalten – fortgelten. Zwingendes Recht steht dem Abschluss freiwilliger Beteiligungsvereinbarungen nicht entgegen. Die SE-Richtlinie und das SEBG als Umsetzungsgesetz gewähren den Verhandlungspartnern vielmehr eine weitgehende Gestaltungsfreiheit (vgl. beispielsweise Art. 4 Abs. 2 SE-Richtlinie, §§ 21 Abs. 1, 16 Abs. 1 Satz 1, 18 Abs. 1 Satz 2 SEBG). Selbst eine Minderung von Mitbestimmungsrechten ist grundsätzlich einvernehmlich zulässig (Art. 3 Abs. 4 Satz 3 SE-Richtlinie, § 15 Abs. 3 SEBG). Der Möglichkeit, auch ungeachtet des Vorliegens einer gesetzlichen Pflicht freiwillig eine Beteiligungsvereinbarung abzuschließen, dürfte auch keine angestrebte Vollharmonisierung des Rechts in den Mitgliedstaaten entgegenstehen. Denn im Bereich der Sozialpolitik ist die Zuständigkeit der Europäischen Union einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits nach Art. 4 Abs. 2 Buchstabe b Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geteilt. Eine andere Frage ist, ob Bestandsvereinbarungen auf Grundlage der EuGH-Rechtsprechung gekündigt werden können – die Antwort ist den jeweiligen Beteiligungsvereinbarungen im Wege der Auslegung selbst zu entnehmen.
Das EuGH-Urteil entzieht jedoch Beteiligungsrechten die Grundlage, die in arbeitnehmerlos gegründeten SEs nach erfolglosen nachträglichen Verhandlungen auf Grundlage der gesetzlichen Auffangregeln gewährt werden. Unternehmen sollten jedoch erwägen, die in der Vergangenheit gewährten Beteiligungsrechte in eine freiwillige Beteiligungsvereinbarung zu gießen. Zum einen müssen sich Unternehmensgruppen, in denen die Voraussetzungen für die Bildung eines Europäischen Betriebsrats nach dem Gesetz über Europäische Betriebsräte (EBRG) vorliegen, andernfalls darauf einstellen, dass ein solcher errichtet wird und künftig anstelle des SE-Betriebsrats Informations- und Anhörungsrechte wahrnimmt. Hiermit wäre vermeidbarer Kosten- und Zeitaufwand verbunden. Zum anderen ist nicht auszuschließen, dass der deutsche Gesetzgeber das Urteil des EuGH zum Anlass nimmt, eine nachträgliche Verhandlungspflicht bei arbeitnehmerlos gegründeten SEs ausdrücklich im SEBG zu regeln, wobei sich der Anknüpfungspunkt des Vorher-Nachher-Prinzips nicht sicher vorhersagen lässt.
Autor
Dr. Anne-Kathrin Bertke
Kliemt.ARBEITSRECHT, Hamburg
Rechtsanwältin, Principal Counsel
