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Aktuelle Ausgabe

Erste Hilfe für den kranken Zivilprozess

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Wäre die Ziviljustiz ein Wirtschaftsunter­nehmen, müsste man sich ernsthafte Sorgen um ihren Fortbestand machen. Die Kritik an ihrer Arbeit wird angesichts der kontinuierlich steigenden Verfahrensdauer immer lauter, die Effizienz des weitgehend nicht digitalisierten Workflows entspricht nicht mehr den heutigen Anforderungen, und der Auftragseingang ist dramatisch eingebrochen: Bei den Amtsgerichten ist die Zahl der Zivilprozesse seit 1995 um mehr als die Hälfte, bei den Landgerichten um rund ein Viertel geschrumpft. Und trotzdem müssen Rechtsuchende immer länger auf ein Urteil warten: Die durchschnitt­liche (!) Verfahrensdauer ist im selben Zeitraum beim Amtsgericht von 6,6 auf 8,8 Monate, beim Landgericht von 10,4 auf 17,5 Monate angewachsen. Bis zu einem Berufungsurteil des Oberlandesgerichts dauert es im Mittelwert 37 Monate, also über drei Jahre, und etwa jedes sechste Verfahren zieht sich über vier Jahre hin; in manchen Fällen vergehen bis zum rechtskräftigen Urteil zehn Jahre und mehr. Dadurch werden nicht nur wirtschaftliche Ressourcen vernichtet und menschliche Bedürfnisse frustriert, sondern es wird auch das Vertrauen in die Rechtsordnung erschüttert.


Unverständlich lange haben die Justizverantwortlichen ­dieser Entwicklung zugeschaut, doch jetzt scheinen ernsthafte Reformbestrebungen in Gang zu kommen. Bemerkenswerterweise sind die ersten Initiativen hierzu nicht aus der Rechtspolitik, sondern aus der Justizpraxis hervor­gegangen. Von Gerichtspräsidentinnen und -präsidenten eingesetzte Arbeitsgruppen entwickelten Thesenpapiere, die sich nicht wie frühere ZPO-Novellierungen auf kleinere Einzelmaßnahmen beschränkten, sondern sehr grund­legende Innovationen forderten. Das Bundesjustizministerium hat, von den Bundesländern angetrieben, den Ball aufgenommen und eine Reformkommission „Zivilprozess der Zukunft“ eingesetzt, die zu Beginn dieses Jahres einen umfangreichen Abschlussbericht vorgelegt hat. Wie zu hören ist, sollen dessen Vorschläge bereits im nächsten Jahr gesetzgeberisch umgesetzt werden. Dabei ist wohl – schon wegen der Notwendigkeit technischer Vorkehrungen – an ein schrittweises Vorgehen, nicht an eine völlig neue ZPO gedacht. Aber immerhin ist jetzt die Bereitschaft erkennbar, effizienzhemmende Strukturen grundlegend zu bereinigen und nicht, wie bei bisherigen ZPO-Novellen, ohne nach­haltige Wirkung an kleinen Stellschrauben zu drehen.


Plattform statt Postfach


Die bedeutendste Umwälzung bezieht sich auf die Kommunikation zwischen den Prozessbeteiligten und dem Gericht. Das Hin- und Herschicken von Schriftsätzen, die beim Gericht in einer unübersichtlichen Akte gesammelt ­werden, beruht auf den Gegebenheiten des vordigitalen Zeitalters und ist nicht dadurch zeitgemäß geworden, dass man die Schriftsätze durch PDF-Dateien und den Briefkasten durch ein elektronisches Postfach ersetzt hat. Künftig soll die verfahrensbezogene Kommunikation im Zivilprozess über eine bundeseinheitliche und cloudbasierte Kommunikationsplattform erfolgen. Das Vorbringen der Parteien und die Mitteilungen des Gerichts sollen als elektronische Dokumente dort eingestellt, eingesehen, abgerufen und bearbeitet werden können. Dabei sollen auch strukturierte Datensätze zum Einsatz kommen, die eine maschinelle Informationsverarbeitung ermöglichen. Richter und Rechtsanwälte können dann jederzeit einen aktuellen Überblick über Verfahrensstand und -inhalte gewinnen, ohne sich durch einzelne Schriftstücke oder Dateien ­wühlen zu müssen. Der Entlastungs- und Beschleunigungseffekt einer solchen, in anderen Bereichen (auch der Schieds­gerichtsbarkeit) längst üblichen Kommunikationsform liegt auf der Hand. Sie soll nach dem Bericht der Reformkommission zunächst erprobt werden; eine zügige Umsetzung ist aber dringend geboten.


Frühe Verfahrensförderung


Dies gilt auch für eine weitere Neuerung, die den Ablauf des Zivilprozesses betrifft. Dieser ist bisher, historisch bedingt, auf eine mündliche Verhandlung fixiert. Nach ­geltendem Recht muss der oder die Vorsitzende bereits bei Zustellung der Klageschrift zu einer solchen Verhandlung laden, falls schriftliches Vorverfahren angeordnet wird, sogleich nach Eingang der entsprechenden Schriftsätze. Je nach Verfügbarkeit von Terminen und Sitzungsräumen vergehen bis zur Sitzung mehrere Monate. In dieser Zeit liegt die Sache auf Halde, allenfalls belebt durch weitere Schriftsätze der Parteivertreter. Verfahrensfördernde Maßnahmen liegen im Ermessen des Gerichts und unterbleiben nicht selten, so dass erst in der Sitzung rechtliche Hinweise gegeben, Beweisaufnahmen angeordnet, Folgetermine verfügt oder Vergleiche vorgeschlagen werden. Nicht selten beschränkt sich die Verhandlung auf ein Stellen der Anträge und die Bestimmung eines Verkündungstermins, erstarrt zur reinen Formalie.


Die Reformkommission will dieser Zeit- und Ressourcenverschwendung ein Ende bereiten, indem das Gericht zu einer frühen Verfahrensförderung angehalten wird. So soll es gleich nach Eingang der Klageerwiderung entscheiden, ob das Verfahren mit oder ohne mündliche Verhandlung zu führen ist. Innerhalb von sechs Wochen hat es dann mindestens eine verfahrensfördernde Maßnahme zu ergreifen. Diese kann in der Durchführung eines informellen Organisationstermins, der Erteilung eines verfahrens­leitenden Hinweises (gegebenenfalls mit einem vorterminlichen Beweisbeschluss) oder der Durchführung eines den Haupttermin vorbereitenden „schnellen Termins“ ­bestehen.


Ein besonderes Novum stellt dabei der Organisations­termin dar, der seit kurzem zwar beim Commercial Court gesetzlich vorgeschrieben ist, ansonsten aber im deutschen Zivilprozess kaum praktiziert wird, obwohl die Case Management Conference in ausländischen Rechtsordnungen und der Schiedsgerichtsbarkeit seit langem als unverzichtbares Element einer stringenten, effizienten Verfahrensführung anerkannt ist. In einer formlosen, in der Regel per Videokonferenz geführten Besprechung zwischen Vorsitzendem und Parteivertretern können dort die Modali­täten des Verfahrensablaufs, auch in Form eines verbind­lichen Verfahrensplans, festgelegt werden. Dies ermöglicht nicht nur eine Strukturierung und Abschichtung des Prozessstoffs, sondern auch die Klärung, welche Substantiierungen, Unterlagen oder Beweismittel beizubringen sind und wie der Rechtsstreit gütlich, etwa durch einen schrift­lichen Vergleichsvorschlag, beigelegt werden kann. Dadurch kann ein Haupttermin unter Umständen entbehrlich, zumindest aber so vorbereitet werden, dass der Prozess in kurzer Zeit zum Abschluss zu bringen ist. Um Verzögerungen durch das Einführen neuer prozessualer Ansprüche zu verhindern, soll das Gericht hierfür Fristen setzen können.


Soweit mündliche Verhandlungen überhaupt noch angezeigt sind, sollen sie so gestaltet werden, dass eine trans­parente Darstellung der Positionen des Gerichts und der Parteien gewährleistet ist. Sie sollen daher grundsätzlich eine Einführung in den Sach- und Streitstand durch das Gericht und eine nachfolgende Erörterung umfassen.


Digitalisierung und Qualitätssicherung


Für das amtsgerichtliche Verfahren soll ein erleichterter Zugang durch ein Justizportal geschaffen werden. Recht­suchende sollen dort Anträge und Erklärungen per Internet eingeben, das Verfahren sogar gänzlich online führen ­können. Weitere Vorschläge der Kommission beziehen sich auf die Ersetzung von Formularen durch dynamische Eingabe- und Abfragesysteme, die Automatisierung bestimmter Nebenverfahren, den Zugang zu und die Verwertung von Beweismitteln aus anderen Verfahren, ein digitales Vollstreckungsregister sowie Vereinfachungen des Zuständigkeitsrechts, der Urteilsverkündung und des Zustellungs­verfahrens.


Die Kommission hat auch erkannt, dass die zunehmende Komplexität der vom Gericht zu behandelnden Sach- und Rechtsmaterien eine stärkere Spezialisierung der Spruch­körper erfordert. Es sollen daher weitere Spezialzuständigkeiten, auch gerichtsübergreifend, geschaffen werden. Dabei weist der Abschlussbericht zu Recht darauf hin, dass die Spezialisierung nicht nur auf dem Papier stehen darf, sondern von organisatorischen und personalwirtschaft­lichen Maßnahmen begleitet werden muss. Dazu können Ausbildungsangebote sowie Regelungen der Geschäfts­verteilung gehören, die eine möglichst langfristige personelle Konstanz in den Spezialspruchkörpern gewährleisten. Entscheidende Bedeutung für die Qualitätssicherung misst die Kommission auch der Stärkung des Kammerprinzips bei; die Zuständigkeit des Einzelrichters soll deutlich zurückgefahren und auch weitgehend in die Disposition der Parteien gestellt werden. In der Kammer für Handelssachen sollen Handelsrichterinnen und -richter nach bereichsspezifischen Kenntnissen ­flexibler hinzugezogen werden können.


Fazit


Die Vorschläge der Reformkommission sind trotz enger Zeitvorgabe sehr tiefgehend und ausgereift. Sie sollten möglichst zeitnah umgesetzt, zumindest in Pilotprojekten erprobt werden. Dabei sollte allerdings nicht übersehen werden, dass noch weiterer Reformbedarf besteht. Nicht behandelt hat die Kommission die Einbeziehung außer­gerichtlicher Verfahren der Konfliktbeilegung, die zum Beispiel über das vorgeschlagene Justizportal möglich wäre. Die Eröffnung dieses Zugangs zur Justiz darf nicht dazu führen, dass die Rechtsuchenden alternative Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung verpassen, die ihnen unter Umständen zu einer schnelleren, weniger Aufwand verursachenden und ihren persönlichen Interessen besser entsprechenden Lösung verholfen und der Justiz unnötige Prozesse erspart hätten. Innovative Lösungen wären auch durch Ermöglichen eines summarischen Rechtsschutzes bei prima facie begründeten Forderungen möglich, etwa durch vorläufige Zahlungsanordnungen oder eine sogenannte nullte Instanz, in der auch KI zum Einsatz kommen könnte. Ausklammern musste die Kommission auch das Rechtsmittelsystem, das nach der missglückten Reform von 2001 dringend überarbeitet werden müsste. Und schließlich wäre für die Bewältigung der Massenverfahren weiter nach wirksamen Lösungen der Verfahrensbündelung zu suchen.


Ob es besser gewesen wäre, der Kommission mehr Zeit und mehr Gelegenheit zu wissenschaftlichem Input zu gewähren, mag dahinstehen. Es ist jedenfalls sehr erfreulich, dass die Reform des Zivilprozesses auf die politische Agenda gehoben und von sachgerechten Vorschlägen gefördert worden ist. Der Zivilprozess braucht schnelle Hilfe; die zeichnet sich jetzt zumindest ab.

Autor

Prof. Dr. Reinhard Greger, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Prof. Dr. Reinhard Greger

Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Univ.-Prof. i.R., Richter am BGH a.D.


regreg@t-online.de
www.reinhard-greger.de