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ESG-Disputes

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Das öffentliche Bewusstsein für Themen wie Klimawandel, Umweltschutz, Menschenrechte in Lieferketten sowie nachhaltige Produkte und Investitionen wächst stetig. ESG (Environment, Social, Governance)-Aspekte spiegeln sich in konkreten Maßnahmen wider, wie zum Beispiel (Aktionärs-)Aktivismus gegen den Klima­wandel und die in zahlreichen Ländern weltweit sowie trans­national zunehmenden regulatorischen Anforderungen, einschließlich der verstärkten Offenlegungspflichten von Nachhaltigkeitsinformationen. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, ESG-Vorschriften einzuhalten und gleichzeitig die daraus entstehenden Chancen zu nutzen. Dies fördert Entwicklung, Innovation und Attraktivität des Arbeitsplatzes, birgt aber auch Risiken wie Compliance­verstöße, Vertragsverletzungen und ­Schadensersatzklagen.


In unserer Studie „ESG Disputes of the Future: Damage Quantification Challenges“ haben wir 305 Fälle nationaler und internationaler ESG-Streitigkeiten analysiert, die verschiedene Verfahren wie Gerichtsverfahren, Sonderuntersuchungen und Schiedsverfahren betreffen. Die Erkenntnisse aus dieser Analyse bieten Einblicke in die aktuelle Landschaft der ESG-Streitigkeiten, einschließlich der Herausforderungen, die mit einer damit verbundenen Schadensquantifizierung einhergehen.


ESG-Disputes und ihre Vielfalt


Unsere Studie basiert auf Suchanfragen in und ­Daten aus der Unternehmensdatenbank LSEG Refinitiv. Die ­Untersuchung deckt den Zeitraum vom 01.01.2019 bis zum 18.07.2024 ab und umfasst Fälle, die in diesem Zeitraum endeten, begannen oder noch anhängig sind. Für jeden Fall wurden detaillierte Informationen gesammelt, darunter Beginn, beteiligte Parteien, Klagegrund, betroffene Branche, Länder und Gerichte, Argumente, Ausgang des Verfahrens, Datum des Urteils, relevante Gesetze, Schadensersatzhöhe und Berechnungsmethode.
In unserer Analyse von ESG-Streitfällen haben wir sechs Hauptkategorien identifiziert:

  • Klima- und Umweltstreitfälle, in denen Regierungen oder Unternehmen für ihre Klima- und Umweltpolitik, klima- und umweltschädliche Maßnahmen oder Geschäftsmodelle zur Verantwortung gezogen werden.
  • Greenwashingstreitfälle, die sich mit irreführenden Aussagen über die Nachhaltigkeit und Umweltauswirkungen eines Unternehmens oder Produkts befassen, die an Verbraucher und Investoren kommuniziert werden.
  • ESG-Betrugsfälle, die mutmaßlich betrügerisches Verhalten wie unrechtmäßige Bereicherung und Schadensabsicht, einschließlich Betrug, Korruption und Bestechung betreffen. Beispiele für ein solches betrügerisches Verhalten schließen die Manipulation von Abgaswerten durch Automobilhersteller (Dieselgate-Klagen) und Steuerbetrug im Emissionshandel ein.
  • ESG-bezogene Vertragsstreitigkeiten, bei denen Verstöße gegen ESG-bezogene Vereinbarungen im Mittelpunkt stehen, die auf einer vertraglichen Basis beruhen, wie beispielsweise die Verletzung von in Kaufverträgen vereinbarten Umweltgarantien.
  • ESG-Compliancestreitigkeiten, die sich auf Verstöße gegen ESG-(Unternehmens-)Richtlinien und gesetzliche Vorschriften, einschließlich Sorgfalts- und Offenlegungspflichten sowie Umweltverträglichkeitsprüfungen, ­beziehen.
  • Menschenrechtsstreitigkeiten, die Ansprüche ­umfassen, die direkt auf die Situation bestimmter Personen­gruppen abzielen, einschließlich Rechtsstreitig­keiten wegen Menschenrechts- und Arbeitsrechts­verletzungen. ­Behandelte Themen schließen Kinderarbeit, Sklaverei und Diskriminierung ein.


Diese Kategorien zeigen die Vielfalt und Komplexität von ESG-Streitfällen und die zunehmende Bedeutung von ESG-Themen in rechtlichen Auseinandersetzungen.


Keine Industrie ist sicher vor ESG-Disputes


Energieunternehmen, als größte globale CO2-Emittenten, sind häufig Ziel von Klima- und Greenwashingklagen. ­Einige der größten Energieunternehmen wie BP, ­Chevron und Shell gehören zu den Beklagten, insbesondere ­wegen ihrer hochemittierenden Geschäftstätigkeiten. Der Konsum­güter- und Einzelhandelssektor, insbesondere die ­Lebensmittelindustrie, ist ebenfalls stark in Green­washingfällen vertreten.


Es zeigt sich jedoch, dass keine Branche vor ESG-Streitigkeiten sicher ist – ein Trend, der sich seit einigen Jahren abzeichnet. Auch der öffentliche Sektor, das Finanz- und Versicherungswesen, die Automobilindustrie und der Tourismus sind zunehmend betroffen.


Akteurskonstellationen in ESG-Disputes


In ESG-Streitigkeiten sind die Kläger vielfältig und reichen von Regierungsvertretern und Unternehmen bis hin zu Verbänden, Gewerkschaften und Non-Profit-Organisationen (NPOs) bzw. Non-Governmental-Organisationen (NGOs). Greenpeace, ClientEarth und Friends of the Earth sind prominent vertreten. Regierungen verklagen in einigen Fällen Unternehmen wegen Greenwashing und Umweltverstößen. Zivilgesellschaftliche Akteure, wie ­Jugendbewegungen und spezialisierte NGOs, initiieren Klimaklagen, die neue Formen des Klima- und Nachhaltigkeitsaktivismus darstellen.


Unternehmen und staatliche Akteure sind in den von uns analysierten Fällen gleichermaßen als Beklagte vertreten, wobei Greenwashing und Klima- und Umweltstreitig­keiten besonders häufig auftreten. Selbst führende ­Unternehmen im Bereich Nachhaltigkeit können in Streitig­keiten verwickelt werden, wie die Fälle gegen ­Tomorrow GmbH und Oatly Group AB zeigen.


Herausforderungen bei der ESG-bezogenen Schadensberechnung


Eine der größten Herausforderungen bei ESG-Streitig­keiten ist die Wahl der geeigneten Methodik zur Schadens­quantifizierung, die den spezifischen Anforderungen des jeweiligen Falls gerecht wird. Es gibt vier ­konventionelle Ansätze zur Schadensberechnung: den ertragswert­orientierten Ansatz (Income-Approach), den Kosten­ansatz, den Marktansatz und den assetbasierten Ansatz:

  • Der ertragswertorientierte Ansatz (Income-Approach) konzentriert sich auf erwartete zukünftige Erträge, häufig unter Verwendung der Discounted-Cash-Flow (DCF)-Methode. Er ist umfassend und flexibel, erfordert jedoch detaillierte Finanzprognosen und ist komplexer und zeitaufwendiger als andere Ansätze.
  • Der Kostenansatz legt die Kosten für den Ersatz oder die Wiederherstellung eines Vermögenswerts ­zugrunde. Diese Methode ist besonders bei spezialisierten Ver­mögenswerten einfach anzuwenden, da sie sich auf ­aktuelle Material- und Arbeitskosten stützt. Allerdings besteht bei diesem Ansatz für sich genommen die ­Gefahr, dass aktuelle Marktbedingungen keine Berücksichtigung finden, was zu unrealistischen Ergebnissen führen kann.
  • Beim Marktansatz wird der Wert eines Vermögenswerts anhand des Marktpreises ähnlicher Vermögenswerte ­ermittelt. Er liefert realistische Bewertungsergebnisse und ist einfach und objektiv, leidet in vielen Fällen ­jedoch unter der mangelnden Verfügbarkeit vergleichbarer Daten und Vermögenswerte.
  • Mit dem assetbasierten Ansatz werden Unternehmen basierend auf ihren materiellen und immateriellen Vermögenswerten abzüglich ihrer Verbindlichkeiten bewertet. Er bietet einen klaren und transparenten Rahmen, berücksichtigt jedoch nicht das zukünftige ­Ertragspotential, was insbesondere bei wachstums­starken Unternehmen zu einer Unterbewertung führen kann.


Die Komplexität der ESG-Faktoren, die Umwelt-, Sozial- und Governancethemen umfassen, erschwert die Messung ihres direkten Einflusses auf die finanzielle Leistung und den Unternehmenswert. Es ist oft schwierig, einem Verlust an Biodiversität, sauberer Luft oder Wasser einen monetären Wert zuzuweisen. Kausalität nachzuweisen, stellt eine weitere Herausforderung dar, da es in einigen Fällen kompliziert und strittig sein kann, den spezifischen Umweltschaden einem bestimmten Akteur oder einer Investition zuzuschreiben. Zudem gibt es nichtwirtschaftliche Verluste, wie kulturelle und gemeinschaftliche Umweltwerte, die schwer monetär zu bewerten sind.


Der Fall des indonesischen Ministeriums für Umwelt und Forstwirtschaft (MoEF) gegen das Unternehmen PT Rambang Agro Jaya (RAJ) verdeutlicht die Verantwortung, die Unternehmen für Umweltschäden tragen müssen. RAJ wurde für Brände in Torfgebieten haftbar gemacht, die durch die Trockenlegung der Torfmoore für Palmölproduktion verursacht wurden. Das Bezirksgericht Zentral-Jakarta entschied zugunsten des Ministeriums und ver­urteilte RAJ zur Zahlung von 137,6 Milliarden indonesischen Rupiah (IDR, umgerechnet ­8,8 Millionen Euro) sowie zur Wiederherstellung der Umwelt. Die Schadensberechnung umfasste ökologische Schäden, wirtschaftliche Verluste, Wiederherstellungskosten und die Kosten des Verlusts von Umweltfunktionen wie der CO2-Speicherung des verbrannten Konzessionsgebiets. Seit 2013 hat das MoEF 22 Unternehmen wegen ähnlicher Brände verklagt, wobei 14 haftbar gemacht wurden und insgesamt 5,6 Billionen IDR (357 Millionen Euro) zahlen mussten. Die Umweltschäden, für die diese Unternehmen zur Verantwortung gezogen werden, schließen die Kosten für die Wiederherstellung der Umwelt und den Verlust von Umweltfunktionen ein. Darüber hinaus wird deutlich, wie Kombinationen konventioneller Ansätze, hier des Kostenansatzes und des ertragsorientierten Ansatzes, eingesetzt werden können, um dem jeweiligen Fall und entstandenen Schäden gerecht zu werden.


Schlussbemerkungen


ESG-Disputes sind bereits ein fester Bestandteil der rechtlichen Landschaft. Unsere Untersuchung zeigt, dass die Zukunft dieser Streitigkeiten näher ist als erwartet, mit bereits wegweisenden Fällen, die als Präzedenzfälle ­dienen können.
Konventionelle Ansätze der Schadensberechnung ­werden in ESG-Disputes bereits verwendet, aber das ­volle ­Potential der Schadensberechnung ist aufgrund der Komplexität von ESG-Themen noch nicht ausgeschöpft. Für sich ­genommen und unflexibel angewandt, stoßen sie angesichts der Komplexität der Thematik vielfach an ihre Grenzen. Einige Experten betonen daher, dass herkömmliche Methoden für die Schadensberechnung in ESG-Disputes ungeeignet sind. In der Praxis sehen wir jedoch bereits kreative Kombinationen konventioneller Ansätze, die es ermöglichen, ESG-Aspekte umfassend zu berücksichtigen und die Nachteile einzelner Methoden durch innovative Kombinationen zu überwinden. Es ist wichtig, konventionelle Methoden für neue und kreative Anwendungen im Auge zu behalten und nicht vorschnell zu verwerfen. 


Hinweis der Redaktion
Die Analysen basieren auf öffentlich zugänglichen Daten: Einige alte Fälle können öffentlich bekannt werden, während andere laufende Fälle vertraulich sind und daher nicht öffentlich zugänglich sind. Die Autorinnen hatten nicht in allen Fällen Zugang zu den entsprechenden rechtlichen Unterlagen, so dass ihre Analyse teilweise auf der Darstellung der Fakten durch Journalisten in den Medien und auf öffentlich zugänglichen Daten basiert. Weitere Informationen zur Studie finden Sie hier. (tw)

Autor

Irina Novikova

Irina Novikova

Deloitte GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Frankfurt am Main
Partner, Financial Advisory | SPA and Dispute Advice


irnovikova@deloitte.de
www.deloitte.de


Autor

Susanne Kind, Deloitte

Susanne Kind

Deloitte GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Frankfurt am Main
Manager, Financial Advisory | SPA and Dispute Advice


skind@deloitte.de
www.deloitte.de