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Gesetzgebungskultur im Abseits?

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Von Manfred Ungemach, LL.M. (Univ. of Wisconsin), Rechtsanwalt, Bird & Bird LLP, Düsseldorf

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Die „Energiewende“ ist das zentrale politische Projekt der Bundesrepublik. Sie wird von allen maßgeblichen Parteien mitgetragen; Streit gibt es eher im Detail. Die Politik kann sich dabei einer breiten gesellschaftlichen Unterstützung sicher sein.

Die Gerechtigkeitsfrage
Es gibt aber Anzeichen dafür, dass die Unterstützung brüchiger wird, je mehr die mit der Energiewende verbundenen Kosten ins Bewusstsein rücken. Denn über diese wurde zu lange geschwiegen. Im Kern geht es hier um die gerechte Verteilung von Chancen und Lasten politisch gewollter und letztlich von der Allgemeinheit zu finanzierender Veränderungen.

Auch der Widerstand gegen den Netzausbau kann nicht allein mit dem „Sankt-Florians-Prinzip“ erklärt werden. Denn es ist schwer nachzuvollziehen, wieso für den Standort einer Windenergieanlage oder eines Photovoltaikparks Pachtzinsen weit über dem wirtschaftlichen Wert der landwirtschaftlichen Nutzung zu erzielen sind, während der Eigentümer des Mastgrundstücks einer Stromleitung einen wesentlich geringeren Ausgleich erhält. Der örtliche Widerstand gegen Windparks lässt sich bei sogenannten „Bürgerprojekten“ durch die Möglichkeit der Beteiligung der Anlieger eindämmen, denen hier Renditen von oft über 10% im Jahr winken.

Hingegen haben die Anlieger einer Leitungstrasse nur Nachteile; die Vorschläge des Bundesumweltministers, auch diese an den Erlösen des Netzausbaus zu beteiligen, sind nicht über eine Gedankenskizze hinausgekommen.

Ganz unmittelbar stellt sich die Gerechtigkeitsfrage bei der Verteilung der Belastungen infolge der umfassenden Förderung erneuerbarer Energien und des Netzausbaus. Die volkswirtschaftlichen Kosten und individuellen Belastungen der Stromverbraucher wurden lange ignoriert. Denn die Politik war sehr erfinderisch, deren Höhe durch ein ganzes Sortiment an Kostentragungs-, Umlage- und Kostenwälzungsmechanismen zu verschleiern.

Mittlerweile ist aber politisches Allgemeingut, dass letztlich der Stromverbraucher die Kosten als Bestandteil höherer Netzentgelte und zusätzlich erhobener Umlagen trägt. Und so wundert es nicht, dass die Entlastung energieintensiver Industrien neuerdings zum Zankapfel der Politik wird, obwohl sich auch hier Bundesregierung, Opposition und Bundesländer einig sind, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in der Energiewende erhalten bleiben muss und nicht durch steigende Energie- und Netzkosten belastet werden darf.

Entscheidungen gegen Netzentgeltbefreiung
In diesem Umfeld wirkten zwei gleichzeitige Entscheidungen, die die Befreiung stromintensiver Unternehmen von den Netzentgelten nach § 19 Abs. 2 StromNEV (Verordnung über die Entgelte für den Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen, Stromnetzentgeltverordnung) jüngst in Frage stellten, elektrisierend:
Am 06.03.2013 hat das OLG Düsseldorf diese Netzentgeltbefreiung für verfassungswidrig und nichtig erklärt und die dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen der Bundesnetzagentur (BNetzA) aufgehoben.
Am selben Tag teilte außerdem die Europäische Kommission mit, dass sie ein Beihilfeverfahren gegen die Bundesrepublik wegen dieser Netzentgeltbefreiung eingeleitet habe (Pressemitteilung IP/13/191). Sie prüft nun, ob es sich bei der „§ 19-Umlage“, durch die die Lasten der Befreiung unter den Netzbetreibern weitergewälzt und gleichmäßig verteilt werden, um staatliche Mittel handelt und die Befreiung den Begünstigten – großen industriellen Stromverbrauchern – einen selektiven Vorteil gegenüber Wettbewerbern in anderen Mitgliedsstaaten verschaffen könnte.

Diese Regelung betrifft zwar nur einige wenige, sehr große industrielle Stromabnehmer mit einem sehr stetigen Strombezug. Für diese ist sie aber von großer Bedeutung. 2012 entfielen so Schätzungen zufolge Entgelte i.H.v. rund 300 Millionen Euro; 2013 könnten es gar 800 Millionen Euro werden.

Dass eine Regelung von solcher Bedeutung so grundlegend in Zweifel gezogen werden kann, offenbart große Defizite der Qualität der derzeitigen Gesetzgebung in der Energiewende. Diese sind leider kein Einzelfall.

Historie und Normgebungsverfahren
Interessant ist schon die Historie. Die ursprüngliche Fassung des § 19 Abs. 2 StromNEV verpflichtete die Netzbetreiber, solchen Letztverbrauchern ein individuelles Netzentgelt anzubieten, deren Höchstlastbeitrag entweder erheblich von der zeitgleichen Jahreshöchstlast aller Entnahmen auf dieser Netz- oder Umspannebene abwich oder deren Verbrauch an der Abnahmestelle 10 Gigawattstunden und 7.500 Jahresbenutzungsstunden überstieg. Das individuelle Netzentgelt durfte 50% des veröffentlichten Netzentgelts nicht unterschreiten und sollte sich an dem Beitrag des Letztverbrauchers zur Senkung der Netzkosten aufgrund seines besonderen Nutzungsverhaltens orientieren. 2009 wurden dann die Jahresbenutzungsstundenzahl auf 7.000 und die Entlastung auf bis zu 20% des veröffentlichten Entgelts abgesenkt.

Die vollständige Befreiung wurde ganz kurzfristig im Juni 2011 im Gesetzgebungsverfahren zum „Gesetz zur Neuregelung energiewirtschaftsrechtlicher Vorschriften“ nachgeschoben. Dieses beschäftigte sich zunächst gar nicht mit der StromNEV. Erst nach einer Sachverständigenanhörung, in der die Wirtschaftsvereinigung Metalle eine vollständige Netzentgeltbefreiung gefordert hatte, wurde sie im Bundestagsausschuss für Wirtschaft und Technologie als Art. 7 des Gesetzentwurfs aufgenommen. Begründet wurde dies damit, dass stromintensive Unternehmen mit einer hohen Bandlast netzstabilisierend wirken würden. Ausführungen dazu, wieso dieser bereits für die Reduzierungen der Entgelte auf höchstens 50 bzw. 20% angeführte Gesichtspunkt nunmehr eine vollständige Befreiung rechtfertigt, finden sich aber nicht.

Verfassungsrechtliche Bedenken des OLG Düsseldorf
Das OLG Düsseldorf stützt sich in seiner Entscheidung, deren schriftliche Begründung noch aussteht, wie bereits in einem Beschluss vom 14.11.2012 darauf, dass die Ermächtigungsgrundlage des § 24 EnWG nur erlaube, das „Wie“ der Netzentgeltberechnung zu regeln, nicht jedoch das „Ob“. Die vollständige Befreiung von Netzentgelten stelle aber ein solches „Ob“ dar.

Zudem verpflichte das horizontale Diskriminierungsverbot des § 21 Abs. 1 EnWG die Netzbetreiber, alle externen Netznutzer gleich zu behandeln und also gleiche Bedingungen der Netznutzung einzuräumen. Nutzungsentgelte seien grundsätzlich kostenbezogen zu berechnen, weshalb auch Preisdifferenzierungen unterschiedliche Zugangskosten widerzuspiegeln hätten. Ein besonderes oder intensives Nutzungsverhalten könne dementsprechend – entgegen der Gesetzesbegründung – keine Befreiung, sondern allenfalls eine entsprechende Absenkung des Netzentgelts rechtfertigen.

Da nunmehr auf eine Prüfung verzichtet wird, in welchem Umfang von den fraglichen Verbrauchern tatsächlich ein Beitrag zur Netzstabilität geleistet würde, von dem die anderen Netznutzer profitieren, steht nun auch die beihilferechtliche Frage im Raum, ob für die Netznutzung überhaupt eine Gegenleistung – etwa in Form eines Beitrags des Großverbrauchers zur Netzstabilisierung – geleistet wird. Insofern betont das OLG Düsseldorf, dass auch europarechtlich eine nichtdiskriminierende und kostenbezogene Regelung der Netzentgelte geboten sei, ohne allerdings zu den europarechtlichen Fragen weiter Stellung zu nehmen.

Beihilferechtliche Bedenken der EU-Kommission
Das ist wohl auch der wesentliche Hintergrund für die Einleitung des beihilferechtlichen Prüfverfahrens durch die EU-Kommission gemäß Art. 107 Abs. 1 AEUV. Netzentgelte gehören zu den Lasten, die ein stromverbrauchendes Unternehmen normalerweise zu entrichten hat. Wird auf diese nunmehr aufgrund der Neuregelung ganz verzichtet, liegt es nahe, darin eine Betriebsbeihilfe zu sehen, die nach der Rechtsprechung des EuGH regelmäßig den Wettbewerb verfälscht. Inwieweit der Umstand, dass die Netzbetreiber letztlich private Mittel umverteilen, genügt, dies der Beihilfekontrolle zu entziehen, ist eine spannende Frage. Doch gibt es bereits Entscheidungen des EuGH, in denen Finanzmittel aus privater Herkunft dem Staat als eigene staatliche Mittel zugerechnet wurden, zumal wenn staatliche Stellen, wie hier die BNetzA, Kontrollmöglichkeiten ausüben. Die beihilferechtliche Prüfung soll sich auch auf die Zeit vor der vollständigen Befreiung im Jahr 2011 erstrecken.

Fazit
Sowohl der Beschluss des OLG Düsseldorf als auch das Beihilfeverfahren der EU-Kommission bringen insbesondere für die betroffenen Industrieunternehmen, aber auch für die Netzbetreiber und die anderen Netznutzer erhebliche Unsicherheiten mit sich.

Es ist unerklärlich, wieso der Gesetzgeber nach den vom OLG Düsseldorf bereits in einem Beschluss vom 14.11.2012 deutlich geäußerten Zweifeln an der Regelung nicht sofort geeignete Schritte ergriffen hat, diese auszuräumen. Nun wird dem Vernehmen nach mit Hochdruck an Reparaturmaßnahmen gearbeitet.
Noch unverständlicher ist es, weshalb die beihilferechtliche Brisanz der vollständigen Netzentgeltbefreiung und des Verzichts auf die Bewertung der Gegenleistung „Netzstabilisierung“ nicht erkannt wurde. Die privilegierten Großverbraucher sehen sich so Risiken der Nachforderung von Stromentgelten, aber auch von Konkurrentenklagen ausgesetzt. Jedenfalls besteht für die Zukunft keine Planungssicherheit mehr.

Damit hat der Gesetzgeber das Gegenteil des politisch Angestrebten erreicht. Und dies zu einer Zeit, in der es – nicht zuletzt aufgrund des bevorstehenden Bundestagswahlkampfs und der zunehmenden Diskussion um die gerechte Verteilung der Lasten der Energiewende – immer schwieriger wird, sachgemäße Regelungen zu treffen.

Kontakt: manfred.ungemach@twobirds.com