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Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

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Zum 28.06.2025 tritt das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft und markiert damit einen bedeutenden Schritt in Richtung der Förderung und Stärkung der (digitalen) Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen.

Das BFSG richtet sich an Privatunternehmen und verpflichtet diese, bestimmte Produkte und Dienstleistungen künftig barrierefrei in Verkehr zu bringen beziehungsweise anzubieten und zu erbringen. Diese Produkte und Dienstleistungen sind ab Juni kommenden Jahres daher so zu gestalten, dass Menschen mit einer Behinderung die Produkte oder Dienstleistungen ohne Einschränkung nutzen können.

Eine fehlende, lückenhafte oder verspätete Umsetzung des BFSG geht unter Umständen mit erheblichen Sanktionen für das Unternehmen einher, indem etwa Bußgelder festgesetzt werden oder Dienstleistungen einzustellen sind. Doch wer das BFSG nicht umsetzt, verhält sich nicht nur ordnungswidrig, sondern verpasst darüber hinaus die Chance, einen wichtigen Schritt in Richtung Stärkung der Barrierefreiheit zu unternehmen und Produktdesign, Webseitengestaltung und Kundengewinnung neu zu ­denken.

Das BFSG stellt aktuell viele Unternehmen vor Anwendungs- und Umsetzungsfragen, die aufgrund der unternehmensweiten Auswirkungen als neue Compliance­aufgabe gewissenhaft anzugehen sind.

Barrierefreiheit international und national

Der auf EU-Ebene beschlossene European ­Accessibility Act wurde vom deutschen Gesetzgeber in Gestalt des BFSG in nationales Recht überführt und bildet so die ­gesetzliche Grundlage, um es Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen, Produkte und Dienstleistungen ohne ­besondere Erschwernisse und ohne fremde Hilfe auffinden und nutzen zu können.

Mit Blick auf den großen Kreis an Betroffenen und zugleich potentiellen Kunden ist eine gewissenhafte Umsetzung des BFSG für alle betroffenen Unternehmen zwingend erforderlich. Denn schließlich belegen die Auswertungen des Statistischen Bundesamts, dass bereits zum Jahres­ende 2023 rund 7,9 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Schwerbehinderung lebten und knapp die Hälfte der schwerbehinderten Menschen zwischen 55 und 74 Jahre alt sind (siehe hier). Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des demographischen Wandels wird das Thema Barrierefreiheit in den kommenden ­Jahren daher noch deutlich an Bedeutung zunehmen.

Vom BFSG umfasst werden Hersteller, Einführer, Händler und Quasihersteller von Alltagsprodukten wie Computern, E-Books, Fahrschein- und Geldautomaten. Im ­Bereich der Dienstleistungen nimmt das BFSG unter anderem Anbieter von Bankdienstleistungen und die ­Betreiber von Onlineshops, die ihre Leistungen gegenüber Verbrauchern anbieten und erbringen, in die Pflicht. Die Zielrichtung des Gesetzes wird damit offenkundig: Im ­Fokus steht die Stärkung der Rechte von Verbrauchern.

Entsprechend der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlassenen Verordnung (BFSGV) sollen die Teilhaberechte im Bereich der Webshops unter anderem dadurch gefördert werden, dass sämtliche Informationen über mehr als einen sensorischen Kanal bereitgestellt werden müssen (§ 12 BFSGV). Das bedeutet, dass Texte beispielsweise sowohl durch Lesen als auch durch Hören wahrgenommen werden können müssen. Im Rahmen der Webseitenanpassung sind daher Screenreaders einzubetten und auch alternative Darstellungen Nicht-Text-Elemente wie Videos und Bilder zu erstellen. In diesem Zusammenhang sind die „Web Content Accessibility Guide­lines“ (WCAG), die einen europaweiten Standard zur barrierefreien Webseitengestaltung bilden, zu beachten. So ist für eine ausreichende Kontrastierung von Text und Hintergrund Sorge zu tragen, eine ­angemessene Schriftgröße zu wählen und Nutzern die Möglichkeit zu geben, Einstellungen entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse anzupassen.

Weder das BFSG noch die BFSGV fordern von den ­adressierten Unternehmen eine „Übersetzung“ der verwendeten Texte in die sogenannte Leichte Sprache. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), durch das seit 2021 der öffentliche Sektor verpflichtet wird, Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen und zu verhindern, verlangt, dass sämtliche Informationen auch im geregelten Textformat der Leichten Sprache wiedergegeben werden. In Abgrenzung dazu fordert das BFSG von den Privatunternehmen, dass Informationen in „verständlicher Weise“ dargestellt werden. Hierbei ist „verständliche Weise“ auf zwei Ebenen zu begreifen: Zum einen dahingehend, dass in gestalterischer Hinsicht die relevanten Informationen geordnet und einem ­logischen System folgend aufbereitet werden. Zum anderen insoweit, dass verworrene Schachtelsätze vermieden werden sollten und das vorausgesetzte Sprachniveau B2 nicht überstiegen werden sollte.

Bereits die technische Umsetzung und der Einsatz unter­stützender Technologien werden daher eine intensive Zusammenarbeit mit IT- und Softwaredienstleistern ­sowie unterstützenden KI-Anbietern erfordern. Darüber hinaus dürfte eine enge Abstimmung mit den Abteilungen von Marketing und Webdesign nötig werden, um gestalterische Fragen anzugehen.

Veränderung der Wesensmerkmale und weitere Ausnahmen

Das BFSG muss nicht umgesetzt werden, wenn es sich beim adressierten Unternehmen um ein Kleinst­unternehmen handelt, die Einhaltung der BFSG-­Anforderungen eine unverhältnismäßige Belastung für das Unternehmen darstellt oder die Einhaltung zu einer grundlegenden Veränderung der Wesensmerkmale des Produkts oder der Dienstleistung führen würde.

Während die Ausnahmeregelungen „Kleinstunternehmen“ und „unverhältnismäßige Belastung“ an rein ­numerischen Fakten beurteilt werden (Kleinstunternehmen: kumulativ weniger als zehn Mitarbeitende und weniger als 2 Millionen Euro Umsatz pro Jahr; unverhältnismäßige Belastung: Abgleich Umsatz Produkt/Dienstleistung mit den Kosten der Umsetzung), handelt es sich bei der Ausnahme „grundlegende Veränderung der Wesensmerkmale“ um einen auslegungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff. Um eine vorschnelle ­Annahme der Ausnahme zu unterbinden und Unternehmen durch dieses Schlupfloch dem BFSG nicht ­entfliehen zu lassen, ist eine zielorientierte Auslegung erforderlich:

Eine Veränderung der Wesensmerkmale wird wohl erst dann vorliegen, wenn Produkt beziehungsweise Dienstleistung vor und nach der Umsetzung des BFSG nicht länger deckungsgleich sind – sei es durch eine neue Funktion oder eine neue Wirkung. Der Begriff der ­„Wesensveränderung“ dürfte daher mit dem Begriff der „neuen Sache“ aus § 950 BGB vergleichbar sein. Auch hier beurteilt sich die Frage, ob eine neue Sache ­hergestellt wurde sowohl nach der Verkehrsauffassung als auch anhand von Indizien wie einem neuen Namen, einer Veränderung der Sachsubstanz, der Dauerhaftigkeit der Veränderung und einem neuen Erscheinungsbild.

Sanktionsmaßnahmen

Das BFSG sieht vor, dass die zuständige Marktüber­wachungsbehörde in bestimmten Fällen nicht nur ein Bußgeld in Höhe von bis zu 100.000 Euro festsetzen kann, sondern auch nach einer vorherigen Abmahnung anordnen darf, dass das Angebot oder die Erbringung der Dienstleistung eingestellt oder die Bereitstellung des Produkts auf dem Markt untersagt wird. Dieser aus der Einstellung beziehungsweise Untersagung resultierende wirtschaftliche Schaden dürfte das Bußgeld deutlich übersteigen.

Darüber hinaus darf nicht vernachlässigt werden, dass die Anforderungen des BFSG Marktverhaltensregelungen im Sinne von § 3a Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) sind und daher von Mitbewerbern und/oder qualifizierten Verbraucherverbänden zum Gegenstand einer Abmahnung gemacht werden können.

Fazit

Abseits aller Sanktionsmöglichkeiten und Herausforderungen, die die vollständige Umsetzung des BFSG mit sich bringt, ist dieses neue Gesetz als Chance zu begreifen, einen gesellschaftlichen sowie unternehmerischen Mehrwert zu schaffen und zugleich Innovation und Inklusion voranzutreiben. Barrieren abzubauen, Kundenzufriedenheit zu steigern und auch als Arbeitgeber attraktiver zu werden sind Ziele, die unabhängig von gesetzlichen ­Verpflichtungen erstrebenswert sind.

Hinweis der Redaktion:
In einem Beitrag für Ausgabe 05/2024 hat sich István Fancsik, LL.M. ­(London), mit den digitalen Barrierefreiheitsanfordungen für Privatunternehmen und ­öffentliche Stellen befasst.

 

Autor

Julia Dunkel Hoffmann Liebs Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Düsseldorf Rechtsanwältin, Associate julia.dunkel@hoffmannliebs.de www.hoffmannliebs.de

Julia Dunkel
Hoffmann Liebs Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Düsseldorf
Rechtsanwältin, Associate
julia.dunkel@hoffmannliebs.de
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