Unser Wirtschafts- und Finanzsystem ist in hohem Maße von Naturkapital wie fruchtbaren Böden und entsprechenden Ökosystemleistungen wie Nahrung abhängig: Alle Wirtschaftssektoren verfügen über einen bestimmten Abhängigkeitsgrad von Biodiversität. Mehr als die Hälfte aller Sektoren, so wie die Landwirtschafts- und Ernährungsbranche, sind sogar in einem moderaten oder hohen Maße abhängig von Biodiversität. Im globalen Risikobericht des World Economic Forum stehen der Verlust an Biodiversität und ein Kollaps der Ökosysteme bei den langfristigen Risiken (die ab einem Zeitraum von zehn Jahren greifen) an vierter Stelle. Auch die mit noch höherer Priorität genannten Risiken, ein Scheitern der Maßnahmen zur Vermeidung sowie zur Anpassung an den Klimawandel, stehen in direktem Zusammenhang mit diesem wichtigen Thema. Denn Klima- und Biodiversitätsschutz bedingen sich gegenseitig, und es gibt viele Synergien, wie beispielsweise Aufforstungsmaßnahmen, die zum Erhalt der Biodiversität beitragen und gleichzeitig natürliche Kohlenstoffspeicher bieten.
Umgang mit Biodiversitätsrisiken im Finanzsektor
Auch die EU betont die Wichtigkeit der Biodiversität und hat bereits einige Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Dem Finanzsektor kommt als Finanzierer der nachhaltigen Transformation der Wirtschaft und als Risikomanager eine wichtige Rolle zu. Doch eine aktuelle Studie von PwC Deutschland und WWF Deutschland zeigt auf, dass der deutsche Finanzsektor bei der Formulierung von unternehmensinternen Biodiversitätszielen und der Umsetzung entsprechender Maßnahmen noch zögerlich ist.
Das Bewusstsein für die Relevanz des Themas ist zwar in den letzten Jahren gestiegen, doch sind Biodiversitätsaspekte noch kaum in interne Prozesse integriert. Als wichtigster Grund, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, wird die damit einhergehende Reduzierung von CO2-Emissionen genannt. Darüber hinaus ist das Thema weitgehend compliancegetrieben, denn im Vergleich zum Wissen um die Auswirkungen der Finanzgeschäfte auf und die Abhängigkeit von Biodiversität ist das Wissen über die (kommenden) Regulierungen mit Biodiversitätsbezug stärker ausgeprägt. Transitorische Risiken werden entsprechend höher gewichtet als systemische und physische Risiken, obwohl die Auswirkungen beispielsweise von Ernteausfällen aufgrund des Rückgangs an Bestäuberpopulationen sowohl auf die Kreditwürdigkeit wie auf den Markt beachtlich sind.
Herausforderungen und Chancen beim Thema Biodiversität
Als größte Herausforderungen betrachten Finanzunternehmen die Komplexität von Biodiversitätsdaten sowie das Fehlen allgemein anerkannter Ziele und Metriken. Biodiversitätsdaten sind im Gegensatz zu Klimadaten multidimensional. Es gibt nicht nur einen Faktor – wie CO2-äquivalente Emissionen –, sondern mehrere, darunter zum Beispiel die Artenvielfalt, Flächenverbrauch und Bodenqualität. Zusätzlich sind diese Faktoren schwieriger zu quantifizieren, und alle Analysen müssen lokationsspezifisch sein, da Wirtschaftstätigkeiten in Gebieten mit hoher Biodiversität stärkere negative Auswirkungen haben können als in anderen Gebieten. Eine weitere Herausforderung ist, dass durch die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) das Prinzip der doppelten Materialität verpflichtend angewendet werden muss. Das bedeutet, es müssen sowohl die Auswirkungen des Biodiversitätsverlusts auf das Unternehmen (finanzielle Materialität) als auch die Auswirkungen des Unternehmens auf die Biodiversität (nicht-finanzielle Materialität) analysiert werden.
Bezüglich allgemein anerkannter Ziele und Metriken ist mit der Einigung auf das Global Biodiversity Framework (GBF) auf der COP15 zur biologischen Vielfalt Ende 2022 ein großer Fortschritt erzielt worden. Das GBF legt 23 Ziele fest, von denen vier besonders relevant sind für den Finanzsektor. Zudem gibt es Implikationen für verschiedene Stakeholder. Einen Überblick darüber gibt Abbildung 1.
Darüber hinaus gibt es einige internationale Initiativen, die an Handlungsempfehlungen sowie Tools für das Management und die Offenlegung von Biodiversitätsrisiken arbeiten. An erster Stelle ist hier die Taskforce on Nature-related Disclosures (TNFD) zu nennen, die noch dieses Jahr ihren finalen Leitfaden veröffentlichen wird. Auch das Science-based Targets Network (SBTN) spielt eine große Rolle, da es an einem Leitfaden zur Setzung von wissenschaftsbasierten Biodiversitätszielen (Science-based Targets for Nature) arbeitet. Als wichtiges Tool ist ENCORE zu nennen, das bereits einige Finanzinstitute genutzt haben, um einen ersten Anhaltspunkt über die Auswirkungen auf und Abhängigkeiten von Natur (Prinzip der doppelten Materialität) ihrer Portfolios zu erhalten.
Ein weiterer wichtiger Teil des Managements von Biodiversitätsrisiken und -chancen ist – analog zum Umgang mit Klimarisiken – die Analyse anhand verschiedener Naturszenarien. Wie könnte sich der Zustand der Natur in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren entwickeln, je nachdem welche Schutzmaßnahmen etabliert werden? Das Network for Greening the Financial System arbeitet bereits an der Entwicklung dieser Szenarien und hat angekündigt, diese ebenfalls noch dieses Jahr zu veröffentlichen. Die Abbildung 2 zeigt mögliche Entwicklungen des Zustands der Natur, je nachdem, welche Maßnahmen umgesetzt werden.
Das Thema Biodiversität bietet auch zahlreiche Chancen, die vom deutschen Finanzsektor bislang kaum genutzt werden. Beispielsweise ist der Markt für Investitionen in Nature-Tech-Start-ups in den letzten Jahren stark gewachsen, zuletzt auf einen Wert von zwei Milliarden US-Dollar in 2022. Die Spezialisierung oder Entwicklung von Produkten, die in Maßnahmen zum Schutz der Natur investieren, kann sich also auch finanziell lohnen.
Regulatorische Vorgaben erfordern Maßnahmen
Wie bereits erwähnt, gibt es auf EU-Ebene bereits einige regulatorische Vorgaben und Gesetzesinitiativen, um den Schutz der Biodiversität zu fördern. Im Folgenden geben wir einen Überblick über die wichtigsten Regulierungen.
CSRD
Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) soll die Nachhaltigkeitsberichterstattung langfristig auf eine Ebene mit der Finanzberichterstattung stellen. Dafür wurden bereits zwölf Berichtsstandards (European Sustainability Reporting Standards, ESRS) entwickelt, nach denen, teilweise abhängig von der Materialität des Themas für das Unternehmen, berichtet werden muss. Die CSRD-Berichtspflicht tritt schrittweise je nach Unternehmensgröße in Kraft. Die ersten Unternehmen müssen erstmals in 2025 für das Geschäftsjahr 2024 berichten. Ein Berichtsstandard (ESRS E4) widmet sich dem Thema Biodiversität und Ökosysteme. Abbildung 3 zeigt, welche Offenlegungspflichten der Standard beinhaltet, wenn das Thema für das Unternehmen wesentlich ist.
EU-Taxonomie
Die EU-Taxonomie ist ein Klassifikationssystem für nachhaltige und nicht-nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten mit insgesamt sechs Umweltzielen. Damit eine Wirtschaftsaktivität taxonomiekonform ist, muss sie einen wesentlichen Beitrag zu einem der Umweltziele leisten, soziale Mindeststandards erfüllen und darf den anderen Umweltzielen keinen signifikanten Schaden zufügen.
Umweltziel 6 bezieht sich auf den Schutz und die Wiederherstellung der Biodiversität und Ökosysteme und soll sicherstellen, dass alle Ökosysteme der Welt bis 2050 in einen guten ökologischen Zustand versetzt werden, widerstandsfähig und angemessen geschützt sind. Aktuell ist nur die Berichterstattungspflicht für die Klimaziele (Umweltziele 1 und 2) in Kraft. Allerdings wird für Ende 2023 ein delegierter Rechtsakt zu den Umweltzielen 3 bis 6 erwartet, der dann ein Jahr später verpflichtend angewendet werden muss.
SFDR
Die Offenlegungsverordnung (Sustainable Finance Disclosure Regulation, SFDR) soll für mehr Transparenz im Finanzsektor sorgen und Greenwashing vorbeugen. Für das Geschäftsjahr 2022 müssen Finanzmarktteilnehmer erstmals ein Statement über nachteilige Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit (PAI-Statement, Principle Adverse Impact) veröffentlichen. Dieses schreibt auch Informationen über negative Auswirkungen auf die Biodiversität vor, so müssen Standorte von Investitionen in Unternehmen offengelegt werden, die sich in oder in der Nähe von biodiversitätssensitiven Gebieten befinden, sofern die Aktivitäten dieser Unternehmen diese Gebiete negativ beeinflussen.
Risikomanagement
Auch die Finanzaufsicht auf EU- und nationaler Ebene legt den Fokus auf Biodiversitätsrisiken. Die EZB hat beispielsweise im Rahmen der thematischen Überprüfung zu Klima- und Umweltrisiken im Jahr 2022 vermehrt auf die Bedeutung von Umweltrisiken, insbesondere Biodiversitätsrisiken, hingewiesen. Neben dem Ergebnisbericht veröffentlichte sie auch einen Bericht mit positiven Beispielen aus der Praxis, welcher ein extra Kapitel zu Umweltrisiken und somit auch zu Biodiversität beinhaltet.
Gesetz zur Wiederherstellung der Natur
Im Juni 2022 hat die Europäische Kommission einen Gesetzesvorschlag für die Wiederherstellung der Natur veröffentlicht. Der Gesetzesvorschlag zielt vor allem auf die Wiederherstellung von Ökosystemen, Lebensräumen und Artenvielfalt innerhalb der EU ab. Im Vordergrund steht die Wiederherstellung von Lebensräumen und Arten. Die Maßnahmen sollen beispielsweise bis 2030 mindestens 20 % der Land- und Meeresflächen der EU und bis 2050 alle Ökosysteme, die Renaturierungsbedarf haben, abdecken. Nach Inkrafttreten der Verordnung sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, innerhalb von zwei Jahren Pläne zur Wiederherstellung der Natur bei der EU-Kommission einzureichen.
Das Gesetz stellt transitorische Risiken für die Realwirtschaft und somit auch für die Finanzwirtschaft dar.
Fazit
Um die (kommenden) regulatorischen Anforderungen erfüllen zu können, sollten Finanzunternehmen sich bereits jetzt mit dem Thema Biodiversität beschäftigen. Laut einer aktuellen PwC/WWF-Studie ist der deutsche Finanzsektor hierbei, auch im europäischen Vergleich, noch zögerlich. Die ersten Schritte sollten eine ausführliche Befassung mit den regulatorischen Vorgaben und der eigenen Betroffenheit sowie die Festsetzung von unternehmensspezifischen Zielen sein. Hilfestellung bietet der LEAP-FI-Prozess der TNFD (Taskforce on Nature-related Financial Disclosures) oder auch der bald erscheinende PwC-Leitfaden „Management von Biodiversitätsrisiken und -chancen – eine Einführung für Finanzunternehmen“.