Eine Normalisierung und Selbstregulierung der Märkte steht an

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Die Coronapandemie hat ihre Auswirkungen in der Wirtschaft gezeigt: Die Jahre 2020, 2021 und auch noch der Anfang des Jahres 2022 waren, insbesondere aufgrund der mehrmaligen Lockdowns, des Wegbrechens internationaler Lieferketten sowie der durch die Coronaschutzmaßnahmen und neuen Coronavarianten ausgelösten Unsicherheit, äußerst turbulente Jahre in der jüngeren europäischen Wirtschaftsgeschichte.

Völlig wider Erwarten kam es aber nicht zu einem starken Anstieg von Firmenpleiten und Insolvenzen. Vielmehr gingen seit dem Beginn der Coronakrise die Zahlen der Unternehmensinsolvenzen in fast ganz Europa erheblich zurück. Interessant ist dabei die Frage, woran dies liegt und was das für die zukünftige Marktentwicklung zu bedeuten hat.

Auswirkungen der Coronakrise auf die europäischen Volkswirtschaften

Die konjunkturellen Rahmenbedingungen für die Unternehmen verschlechterten sich seit dem 1. Quartal 2020, und die Verluste bei den nationalen Bruttoinlandsprodukten (BIP) der EU-Staaten sind bis heute in der Regel nicht aufgeholt. In Deutschland beispielsweise führte der Ausbruch der Coronapandemie im Jahr 2020 zu einem Rückgang des preisbereinigten BIP um 4,6%. Auch in anderen europäischen Staaten gab es eine ähnliche Entwicklung. In Frankreich ging das BIP im Jahr 2020 um 7,9% zurück, in Italien sogar um 9%. Besonders stark zeigten sich die schweren wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie auch in Spanien: Hier wurde ein Rückgang des BIP im Jahr 2020 um 10,8% verzeichnet. Von dieser Entwicklung waren fast alle westeuropäischen Staaten betroffen.

Im Jahr 2021 konnte nach dem markanten Rückgang des BIP-Wachstums wieder ein positiver Aufwärtstrend bemerkt werden. In Deutschland stieg das BIP im Jahr 2021 um 2,9% im Vergleich zum Vorjahr an, in Frankreich waren es 7% und in Italien 6,6 %. Auch Spanien konnte einen positiven Aufwärtstrend des BIP-Wachstums 2021 um 5,1% aufweisen. Die Verluste konnten aber bis heute nicht völlig ausgeglichen werden. Erschwerend hinzugekommen sind vielmehr jetzt der seit Februar 2022 laufende Ukraine-Konflikt und der damit verbundene Anstieg von Rohstoffpreisen (insbesondere Öl und Gas) weltweit.

Reaktionen der europäischen Mitgliedstaaten

Fast alle Mitgliedstaaten der EU haben mit unterschiedlichsten umfangreichen nationalen und europäischen Hilfsmaßnahmen und Finanzierungspaketen auf die durch die Coronapandemie geschaffene drohende wirtschaftliche Notlage reagiert und dadurch Unternehmen, Arbeitnehmer und Branchen unterstützt. Dies geschah darüber hinaus in der Regel unabhängig davon, ob diese von den coronabedingten Einschränkungen stark betroffen waren oder nicht.

Auch die europäische Union schnürte umfassende Hilfspakete. 2,018 Billionen Euro betrug das europäische Hilfspaket, auf das sich die europäischen Staats- und Regierungschefs geeinigt haben und in dessen Rahmen der EU-Haushalt 2021–2027 durch NextGenerationEU flankiert wird. Die Kommission kann damit rund 750 Milliarden Euro an den Märkten aufnehmen. Die Mittel werden auf den internationalen Finanzmärkten aufgenommen und fließen in Höhe von rund 360 Milliarden Euro als Kredite und 312 Milliarden Euro als Finanzhilfen an die Mitgliedstaaten. Bisher sind mehrere Transaktionen durchgeführt worden. So hatte die Kommission bis Ende August bereits 19 der eingereichten nationalen Konjunktur- und Resilienzpläne bewertet und gebilligt.

Zusätzlich werden nach wie vor staatliche Finanzierungshilfen verlängert. In Deutschland wurde das vom Staat finanzierte Kurzarbeitergeld nochmals bis Juni 2022 verlängert. Dies ist jedoch auch der Grund dafür, dass die Verschuldung der europäischen Staaten neue Höchststände aufweist: in Frankreich beispielsweise 118% und in Italien 160% des Bruttoinlandsprodukts.

Hinzu kamen in fast allen Ländern Europas kurzfristige Änderungen an den jeweiligen nationalen Insolvenzrechten, um einer befürchteten Welle an Insolvenzen zuvorzukommen. Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht für einen bestimmten Zeitraum in den westeuropäischen Ländern führte dazu, dass solche Unternehmen zunächst überleben konnten, die tatsächlich akut zahlungsunfähig geworden waren. In Deutschland wurde am 27.03.2020 im Bundesgesetzblatt das „Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Pandemie COVID 19 im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht“ verkündet. Art. 1 § 1 COVInsAG legte damit beispielsweise fest, dass die Insolvenzantragspflicht nach § 15a der Insolvenzordnung sowie § 42 II BGB bis zum 30.09.2020 ruhte, soweit die Insolvenzreife auf den Folgen der Pandemie beruht und Aussicht besteht, dass die bestehende Insolvenz beseitigt werden kann. Dies sollte den Unternehmen ermöglichen, gestärkt aus der Coronakrise hervorzugehen. Mittlerweile wurden diese Regelungen in einigen Staaten, so zum Beispiel in Deutschland, wieder aufgehoben oder sind abgelaufen.

Entwicklung der Unternehmensinsolvenzen

Bisher zeichnet sich ab, dass die getroffenen Maßnahmen höchst erfolgreich waren und zumindest im Bereich der Unternehmen eine Welle an Insolvenzen in fast allen Staaten der EU ausgeblieben ist.

Es ist davon auszugehen, dass insbesondere die finanziellen Maßnahmen der Staaten in Europa und der europäischen Union hierfür verantwortlich sind, da beispielsweise die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht in Deutschland zu keiner Zunahme an Firmeninsolvenzen geführt hat. Tatsächlich ist vielmehr ein deutlicher Rückgang der Unternehmensinsolvenzen in Westeuropa eingetreten mit rund 120.000 Fällen im Jahr 2020. Damit liegt ein Rückgang um 26,9% im Vergleich zum Jahr 2019 vor. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 lag die Zahl an Firmeninsolvenzen bereits auf dem niedrigsten Stand seit zehn Jahren. Dies lässt sich exemplarisch anhand einiger der großen westeuropäischen Industriestaaten belegen: In Frankeich war der Rückgang 2020 mit 39% besonders drastisch, in Italien betrug er 28,5% und in Deutschland 14,8%. Aber auch in den mittel- und osteuropäischen Staaten kam es zu einem durchschnittlichen Rückgang an Firmeninsolvenzen um etwa 8%.

In 2021 kam es in Deutschland nochmals zu einem weiteren deutlichen Rückgang von Firmeninsolvenzen um 11,7% auf rund 14.000 Fälle, und auch bezüglich der Halbjahreszahlen 2022 ist deutschlandweit keine deutliche Aufwärtsbewegung zu verzeichnen, wie die ersten Auswertungen ergeben. Nach wie vor ist also eine Insolvenzwelle nicht eingetreten. Vielmehr handelt es sich um den niedrigsten Wert seit 1999.

Lediglich im Bereich der Verbraucherinsolvenzen und sonstigen Insolvenzen kam es in Deutschland zu einem fulminanten Anstieg. Dabei handelt es sich aber um Nachholeffekte aufgrund der erfolgten Gesetzesänderung von Dezember 2020, die es Privatpersonen ermöglicht, innerhalb von drei Jahren ihre Restschuldbefreiung zu erreichen und nicht erst nach fünf Jahren. Dies erklärt in diesem Bereich den Anstieg um mehr als 70% in 2021. Dabei sind aber in diesem Bereich auch die Insolvenzen der kleinen Gewerbetreibenden und Selbständigen enthalten, die deutlich angestiegen sind.

Interessant ist, dass Creditreform für 2021 auch das Schadensvolumen ermittelt hat – und dieses liegt mit etwa 54 Milliarden Euro so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. Vermehrt betroffen sind jetzt auch Unternehmen, die es schon mehr als zehn Jahre am Markt gibt.

In Gesamteuropa gab es eine unterschiedliche Entwicklung. Betrachtet man aber die Entwicklung der Fallzahlen in Ländern, wie etwa Frankreich (–11,9%), Spanien (0%) und Deutschland (–11,7%), so ist es teilweise nochmals auch zu deutlichen Rückgängen von Firmeninsolvenzen gekommen.

In einigen größeren Ländern beobachtet man aber bereits eine Umkehr des Geschehens; so nahmen die Firmeninsolvenzen in Großbritannien um 11,4% und in Italien um 17,9% im Vergleich zum Jahr 2020 zu.

Um nochmals den niedrigen Stand an Firmeninsolvenzen in 2020 und 2021 deutlich zu machen: Im Rezessionsjahr der Finanzkrise 2009 gab es in Deutschland rund 32.700 Insolvenzen. Gleichzeitig schrumpfte das deutsche BIP um rund 6%. Im Folgejahr 2010 war die Insolvenzzahl auf einem ähnlich hohen Niveau. Die Pflicht zur Insolvenzantragsstellung wurde damals nicht ausgesetzt.

Schlüsselt man die Zahl der Unternehmensinsolvenzen in den betroffenen Ländern nach den vier Hauptwirtschaftsbereichen Bau, Handel (einschließlich Gastgewerbe), Dienstleistungen und verarbeitendes Gewerbe auf, lässt sich bemerken, dass die mit Abstand meisten Firmeninsolvenzen dabei in ganz Europa, wie schon seit Jahren, auf die Hauptwirtschaftsbereiche Dienstleistungen und Handel entfallen. Im Jahr 2022 lässt sich derzeit für Deutschland auch ein Anstieg an Bauinsolvenzen bemerken.

Neben den umfangreichen Hilfspaketen der nationalen Regierungen und der EZB gibt es aber noch einen weiteren wesentlichen Grund, warum die europäischen Unternehmen bisher so glimpflich durch die Krise(n) gekommen sind. Ein großer Teil der Industrien und Dienstleister in Westeuropa befand sich in einer hervorragenden Verfassung, als die Krise begann. Seit Jahren ließ sich feststellen, dass die Firmen, vor allem in Westeuropa, über immer höhere Eigenkapitalquoten verfügen. So hatten im Vorkrisenjahr 2019 46,5% der in einer Analyse von mehr als 3 Millionen Jahresabschlüssen westeuropäischer Unternehmen untersuchten Firmen eine Eigenkapitalquote (EK) von mehr als 50%. Gleichzeitig nahm der Anteil der Unternehmen mit einer niedrigen Eigenkapitalquote von weniger als 10% auf etwa 21% weiter ab. Diese bei vielen Unternehmen sehr gute Kapitalausstattung dürfte, neben den staatlichen Finanzierungshilfen, einer der wesentlichen Gründe dafür gewesen sein, dass die Firmen bisher ziemlich gut die Krise(n) gemeistert haben. Aber diese Polster dürften vor allem bei den Unternehmen, die eine niedrige EK-Quote haben, aufgrund des aktuell enormen Anstiegs der Material- und Energiekosten sowie der Lohnkosten voraussichtlich bald aufgezehrt sein.

Ausblick auf die zukünftige Marktentwicklung

Auch in 2022 gibt es in einigen westeuropäischen Ländern noch eine nicht unerhebliche finanzielle Unterstützung für Unternehmen. Erst wenn diese Programme auslaufen, wird die eigentlich coronabedingte Verwerfung sichtbar werden. Wie die Mehrheit der betroffenen Unternehmen, zum Beispiel in Deutschland, damit umgehen wird, dass nach dem Auslaufen der Hilfsmaßnahmen etwa die staatlichen Finanzierungshilfen in Form von Darlehen in den nächsten Jahren fällig und zurückgezahlt werden müssen und im Fall einer Umschuldung jetzt wesentlich höhere Zinssätze zu bedienen sind, erscheint derzeit ungeklärt und wird erhebliche negative Entwicklungen nach sich ziehen und zu mehr Firmeninsolvenzen in 2023 und 2024 führen.

Fraglich ist auch, inwiefern sich der Ukraine-Krieg und Chinas Coronapolitik negativ auf die bestehende Wirtschaftslage auswirken werden. Der Krieg in der Ukraine belastet die Unternehmen durch die erheblich gestiegenen Rohstoffpreise, insbesondere durch die Energiepreise und die Sanktionen gegen Russland, und das zu einem Zeitpunkt, in dem die Unternehmen in Europa schon mit vielfältigen Herausforderungen wie extrem steigenden Materialkosten und einem Mangel an Arbeitskräften belastet sind. Auch dies wird sich negativ auf die Fälle von Firmeninsolvenzen auswirken und zu deren Anstieg führen.

Gleichwohl ist nicht mit einer großen Welle an Firmeninsolvenzen zu rechnen. Es ist zu berücksichtigen, dass wir derzeit in Deutschland das niedrigste Niveau an jährlichen Firmeninsolvenzen seit 30 Jahren aufweisen. Das heißt, ein erheblicher Anstieg würde eher wieder zu einer Normalisierung der jährlichen durchschnittlichen Fallzahlen im Bereich der Firmeninsolvenzen führen.

Insgesamt ist eine solche Normalisierung und Selbstregulierung der Märkte auch gut. Benötigt werden robuste Industrien, die Krisen ohne staatliche Hilfen überstehen können. Und auch bei Insolvenzverfahren kann man sanierungsfähige Bereiche auf gesunde Beine stellen, währenddessen gescheiterte Geschäftsmodelle vom Markt verschwinden.

 

ivo-meinert.willrodt@pluta.net

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