Der Musterfall Thomas Cook und der neue Reisesicherungsfonds

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Die Tourismusindustrie hat sich von der Coronakrise erholt, muss aber neue Herausforderungen meistern. Was passiert im Insolvenzfall des Reiseveranstalters, und wie sind Urlauber geschützt? Und warum sollte auch in der Touristikbranche bei einer Insolvenz die Betriebsfortführung im Vordergrund stehen?

Januar: Die Tage werden langsam länger. Gemeinsam mit der Frage des Arbeitgebers nach der Jahresurlaubsplanung meldet sich die Reiselust. Und so steigen langsam die Kundenbuchungen auf den Onlineplattformen der Pauschalreiseveranstalter und in den Reisebüros.

Allmählich erholt sich die Reisebranche wieder, die 2020 und 2021 aufgrund der Coronasituation einen existenzbedrohenden Umsatzabsturz verkraften musste. Gaben die Deutschen im Jahr 2019 noch 69,5 Milliarden Euro für Reisen aus, brach der Umsatz im Jahr 2020 auf 31,9 Milliarden Euro und 2021 noch einmal auf 28,8 Milliarden Euro ein. Ohne staatliche Überbrückungshilfen wäre ein wirtschaftlicher Kahlschlag unter den Pauschalreiseveranstaltern und Reisebüros kaum zu verhindern gewesen. Immerhin: Für das Jahr 2022 liegen erste Einschätzungen vor, nach denen die Reisebranche wieder auf ein Niveau von 75% des Umsatzes von 2019 zurückgekehrt ist (Deutscher Reiseverband DRV: Der Deutsche Reisemarkt, Zahlen und Fakten 2021).

Trotz der Markterholung von Corona steht die Branche vor erheblichen Herausforderungen. Europaweit stark steigende Energiekosten drücken auf der Kostenseite die ohnehin nicht üppigen Ertragsaussichten. Reiseveranstalter und Fluggesellschaften reagieren mit deutlichen Preisanhebungen, die gerade bei der zumeist preissensiblen deutschen Kundschaft nicht auf Gegenliebe stoßen. Gleichzeitig verunsichern hohe Energiepreise und eine allgemeine Inflation zwischen acht und zehn Prozent die Kundschaft und lassen die finanziellen Spielräume der Urlauber kleiner werden.

Aktuellen Umfragen zufolge planen etwa 70% der Deutschen Einsparungen beim Urlaub ein, ein Fünftel der Befragten spielt mit dem Gedanken, statt einer Auslandsreise den Urlaub zu Hause oder in der unmittelbaren Umgebung zu verbringen. Der wirtschaftliche Druck auf die Branche wird also nicht sinken. Was aber passiert, wenn ein Reiseveranstalter Insolvenz anmelden muss?

Insolvenzsicherung für Kundengelder

In der Reisebranche ist es üblich, dass Reisekunden finanziell in Vorleistung gehen. Bei Buchung einer Reise müssen sie eine Anzahlung bis zu 20% des Reisepreises leisten. Vereinzelt werden auch 40% Anzahlung fällig, wenn der Veranstalter entsprechend teure Leistungen einkaufen muss. Der Rest des Reisepreises wird zwischen vier und sechs Wochen vor Abreise fällig. Der Kunde erhält seine Reiseunterlagen erst nach vollständiger Zahlung des Reisepreises. Um Kunden vor den Folgen einer Insolvenz des Veranstalters zu schützen, sind Reiseveranstalter gemäß der Richtlinie (EU) 2015/2302 vom 25.11.2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen verpflichtet, Kundengelder gegen den Insolvenzfall abzusichern und die Rückholung von Kunden eines insolventen Veranstalters sicherzustellen. Die Umsetzung in deutsches Recht erfolgt über die §§ 651r ff. BGB.

Bis 2021 schlossen die Reiseveranstalter zu diesem Zweck eine Versicherung bei einer der fünf marktbeherrschenden Versicherungsgesellschaften ab. Deren Haftungshöchstgrenze war gesetzlich bei 110 Millionen Euro pro Versicherungsjahr und Versicherer gedeckelt. Ein deutscher Sonderweg, den sonst kein Mitgliedstaat der Europäischen Union beschritten hatte und dessen Vereinbarkeit mit der EU-Richtlinie seit seiner Einführung hoch umstritten war.

Mit einer Haftungssumme von 110 Millionen Euro ist im Ernstfall wenig abgedeckt, wie die Umsatzzahlen der sieben größten Veranstalter in der DACH-Region zeigen. Der Marktführer TUI Deutschland erzielte 2019 einen Umsatz von 7,3 Milliarden Euro, die drei darauffolgenden Veranstalter setzten jeweils zwischen 3,2 und 3,4 Milliarden Euro um. Auch der siebtplatzierte Reiseanbieter lag 2019 mit 1,3 Milliarden Euro Umsatz bei mehr als dem Zehnfachen der ehemals gültigen Haftungshöchstsumme. Insbesondere in der Hochsaison der Sommerferien standen schon seit langem bei den großen Gesellschaften wesentlich höhere potentielle Schäden im Raum, als durch die jeweilige Versicherung abgedeckt war.

Der Pauschalreisemarkt ist in Deutschland traditionell heißumkämpft und margenarm. Durch Internetvergleichsportale hat sich die Wettbewerbssituation für die Reiseanbieter noch einmal verschärft, weil Kunden hierdurch eine völlige Markttransparenz erhalten haben und das angebotene Produkt wenig Differenzierungsmöglichkeiten bietet. Das gilt gerade bei den am stärksten nachgefragten Sonne-Strand-Meer-Destinationen.

Gleichzeitig verführt die Vorkassesystematik dazu, die Situation des eigenen Unternehmens aufgrund des zur Verfügung stehenden Cashs optimistischer einzuschätzen, als die Lage tatsächlich ist. Zudem wird im Preiswettbewerb durch weiteres Unterbieten der Konkurrenz in den Preisvergleichsportalen Sichtbarkeit geschaffen. Nicht wenigen Veranstaltern ist dies in der Vergangenheit zum Verhängnis geworden. Die Versicherungsgesellschaften versuchten, dieser Haftungsausweitung durch ein monatliches oder quartalsweises Reporting der versicherten Veranstalter zu begegnen, hatten aber auf die weitere Unternehmensentwicklung während der Laufzeit des Versicherungsvertrags kaum bis keinen Einfluss. Zudem waren die den Versicherungen von den Veranstaltern gestellten Sicherheiten im Verhältnis zum drohenden Schaden vernachlässigbar.

Thomas Cook als Wendepunkt und Musterfall

Eine Reihe von Veranstalterinsolvenzen (nicko cruises, Unister-Gruppe und insbesondere der Zusammenbruch der Thomas-Cook-Gruppe) haben zum Marktaustritt von Versicherern und zu einer Änderung der deutschen Insolvenzsicherung für Kundengelder geführt.

Die unzureichende Deckung unter der 110-Millionen-Regelung ist spätestens im Insolvenzfall der Thomas-Cook-Gruppe deutlich geworden. Mit den Schadenspotentialen der Gesellschaften Thomas Cook, Bucher Reisen, Öger Tours und Neckermann Reisen wäre das Budget des Versicherers schnell erschöpft. In der Konsequenz hätte das bedeutet, dass Kunden trotz der Insolvenzsicherung nur einen prozentualen Anteil ihrer Anzahlungen und Schlusszahlungen erhalten hätten. Jedoch sieht die Richtlinie (EU) 2015/2302 eine solche faktische Teilabsicherung nicht vor. Deshalb dachten Verbraucherschutzvereinigungen und Anwälte einzelner Betroffener im Fall Thomas Cook laut über eine Amtshaftungsklage gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen einer nicht richtlinienkonformen Umsetzung der Insolvenzsicherung in deutsches Recht nach. Mit durchaus guten Erfolgschancen. Dem kam jedoch der Bund zuvor und sicherte die Zahlung der Differenz zwischen Schaden der Kunden und deren Versicherungsanspruch zu. Am Ende kostete die Thomas-Cook-Insolvenz die deutschen Steuerzahler zusätzliche 130 Millionen Euro, die zur Entschädigung neben der Versicherungsleistung erforderlich wurden.

Der neue Reisesicherungsfonds: Restrukturierung im Insolvenzfall?

Seit November 2021 erfolgt die Insolvenzsicherung über eine Fondslösung, in der alle Pauschalreiseveranstalter mit einem Jahresumsatz ab 10 Millionen Euro netto verpflichtet sind, Kundengelder über die Deutsche Reisesicherungsfonds GmbH gegen den Insolvenzfall zu sichern. Hierfür haben die Veranstalter eine Sicherheit von 5% des abzusichernden Umsatzes zu hinterlegen. Zudem ist pro Absicherungsjahr ein Entgelt von 1% des abzusichernden Umsatzes an den Fonds zu zahlen. Unterschreitet ein Veranstalter die Umsatzgrenze, kann er die Absicherung freiwillig über den Fonds oder eine Versicherung vornehmen.

Nach der gesetzlichen Zielvorgabe soll der Fonds bis Oktober 2027 ein Haftungskapital von 750 Millionen Euro ansparen und danach vorhalten, um auch Großinsolvenzen ohne staatliche Zuwendungen regulieren zu können. Bis Oktober 2027 deckt der Staat fehlende Beträge zwischen Fondsvermögen und möglichen Haftungsansprüchen ab.

Ungeklärt ist derzeit noch die Frage, wie der Fonds den praktischen Insolvenzfall angehen wird. Nach dessen Zweckbestimmung regelt er nur die Rückholung gestrandeter Reisender in die Heimat und die Regulierung der von Kunden geleisteten Zahlungen. Es steht aber zu erwarten, dass der Fonds die Potentiale zur Schadensminimierung im Insolvenzfall nicht ungenutzt lassen wird. Denn eine Fortführung eines insolventen Pauschalreiseveranstalters kann helfen, den Schaden für alle Beteiligten zu reduzieren. Einerseits leisten viele Veranstalter in der schwachen Saison Vorkassezahlungen an ihre Leistungserbringer (zum Beispiel Hotels) und sichern sich so Kapazitäten und Preisvorteile in der Folgesaison. Andererseits ist das Schadenspotential des Fonds in den ersten Monaten einer Veranstalterinsolvenz am höchsten, weil hier die meisten Kundengelder bereits vereinnahmt sind. Beides kann ein Sanierer nutzen, um den Geschäftsbetrieb eines Veranstalters zunächst aufrechtzuerhalten und eine langfristige Perspektive für das Unternehmen zu entwickeln. Aufgrund des Forderungsübergangs der Ansprüche der Kunden auf den Fonds wird dieser in aller Regel zum Großgläubiger im Insolvenzverfahren und profitiert damit auch am meisten von einer hohen Insolvenzquote.

Für den Sanierer wird die Frage gerade jetzt wieder spannend, weil mit dem Abebben von Corona langsam auch der Grund für die sofortige Liquidation eines insolventen Reiseveranstalters schwindet.

 

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