Die Energiekrise bedroht den ­Industriestandort Deutschland

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Der massive Anstieg der Energiepreise im Zuge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine bedeutet für Deutschland einen erheblichen Wohlstandsverlust. Mit einer Versechsfachung der Gaspreise gegenüber den Werten von Dezember 2021 verbindet sich ein jährlicher „Gesamtwert“ des deutschen Erdgasmarkts von rund 240 Milliarden Euro. 2020 betrug dieser Wert noch gut ein Zehntel davon. Von diesen 250 Milliarden Euro werden 95 % importiert, was umgerechnet den gesamten Handelsüberschuss Deutschlands aus dem Jahr 2021 übertrifft. Der „Exportweltmeister“ Deutschland wird zum Energiebittsteller.

Auf der Stromseite sieht es nicht grundlegend besser aus: Mit den aktuellen Strompreisen auf den Forward-Märkten von 400 Euro/Megawattstunde erreicht der Strommarkt einen Wert von rund 240 Milliarden Euro, ein Vierfaches des Niveaus von 2021. Zwar bleibt die Wertschöpfung hier zu einem großen Teil im Inland. Gleichwohl ergibt sich eine massive Umwälzung vorhandener Finanzierungspositionen und damit von entsprechenden Risiken, die vor allem den Finanzsektor betreffen.

Deshalb fordern die Kommunen den Staat auf, Rettungsschirme für Stadtwerke aufzuspannen. Es ist gerade kleinen Versorgern kaum noch möglich, die rasant gestiegenen Sicherheiten (Margins) zu stellen, die für eine Absicherung auf den Terminmärkten erforderlich sind. Konsequenz: Viele Versorger agieren nur noch auf den Spotmärkten und können keine gesicherten Angebote mit Laufzeiten von mehreren Monaten oder gar Jahren legen. Hieraus resultiert die Sorge des Mittelstands, bald gar keinen Strom- und Gasversorger mehr zu finden. Denn anders als bei Haushaltskunden gibt es bei gewerblichen oder „großen“ Kunden keinen Kontrahierungszwang. Die Angst vor ausfallenden bzw. kaum noch bezahlbaren Energielieferungen gehört deshalb zu den wichtigsten Sorgen in der deutschen Wirtschaft, wie der ifo Geschäftsklimaindex von Ende September 2022 belegt. In die gleiche Richtung argumentiert DIHK-Präsident Peter Adrian: „Wir brauchen dringend eine Ersatzversorgung auch für Betriebe sowie eine Liquiditätssicherung für die Versorger. Andernfalls drohen Einschränkungen in wichtigen Wirtschaftsbereichen.“¹ Nach einer ifo-Umfrage vom Oktober 2022 planen 25% der befragten Unternehmen den Abbau von Arbeitsplätzen, 17% wollen ihre energieintensiven Geschäftsfelder ganz aufgeben.

Die von der Wirtschaft befürchtete „Vertragslosigkeit“ ist schon deshalb ein massives Problem, weil die Bundesregierung einen großen Teil ihrer Preisdämpfungsmechanismen wie den 200-Milliarden-Euro-Rettungsschirm zur Gas- und Strompreisbremse über die etablierten Versorger auskehren möchte. Nur: Wo kein Vertrag, da keine Lieferbeziehung und somit keine Kompensationsmöglichkeit. Gleichzeitig lassen auch die Erfahrungen mit der Gasumlage befürchten, dass die Vorgaben des Bundeswirtschaftsministeriums zu einer Gas- und Strompreisbremse nicht nur länger brauchen, als von vielen erhofft, sondern auch handwerklich nicht leicht umzusetzen sein werden. Es offenbaren sich erhebliche Zielkonflikte zwischen den mit massiven Kreditfazilitäten unterlegten politischen Versprechungen einerseits und den realen Umsetzungsmöglichkeiten der Versorger andererseits. Dass hieraus auch gesellschaftspolitisches Ungemach droht, liegt auf der Hand.

Die fehlende Digitalisierung ist ein weiteres Problem. Bundeswirtschaftsminister Habeck möchte nun den Einsatz digitaler Energiezähler mit Nachdruck forcieren. Dies ist richtig, bisher aber vor allem am deutschen Datenschutzrecht und den Interventionen des Bundesamts für Informationssicherheit bzw. deutscher Verwaltungsgerichte gescheitert. Ohne digitale Zähler sind aber weitreichende Entlastungen und sog. „Kontingentmodelle“ auf Basis monatlicher Basisverbräuche kaum möglich, weil der Versorger nicht hinter den – bislang einmal jährlich abgelesenen – Zähler sehen kann und vor allem darf. Erst recht scheitern politische Ideen, wonach solche Preisbremsen ausschließlich sozial schwächeren Haushalten zugutekommen sollen. All dies kann ein Versorger beim besten Willen nicht am Zähler ablesen.

Noch dramatischer ist die Lage bei der Industrie. Sie zählt im Gasbereich nicht zu den „geschützten“ Kunden und sieht sich massiven Preissteigerungen bei Gas wie Strom und in der Konsequenz erheblichen Produktionseinschränkungen gegenüber. Bei manchen energieintensiven Unternehmen drohen für das kommende Jahr – ohne die politisch versprochenen Preisbremsen – Versechsfachungen der Energierechnungen. Dies wird für viele Unternehmen nicht zu stemmen sein. Bis die von der deutschen Regierung geplanten Erleichterungen bei den Kunden ankommen werden, stehen zudem erhebliche beihilferechtliche Prüfungen durch die EU-Kommission im Raum. Diese dürften nicht einfach werden, nachdem Deutschland wesentlich größere Programme als andere EU-Staaten zur Stärkung der eigenen Unternehmen vorgelegt hat. Nimmt man den am 28.10.2022 von der EU-Kommission verabschiedeten Beihilferahmen als Maßstab, dürften viele von der Gaskommission vorgeschlagene Hilfen gerade bei den energieintensiven Unternehmen nicht ankommen.²

Die aktuell hohen Preise werden auf absehbare Zeit nicht auf das niedrige Energiepreisniveau von vor dem Krieg zurückfallen. Entsprechend plant auch die von der Bundesregierung eingesetzte Gaskommission in ihren Berechnungen die Werte ein, die man als Preisniveau auch in mehreren Jahren sieht. In beliebiger Länge wird sich das nicht mit Staatsmitteln auffangen lassen. Es drohen in der Konsequenz massive Abwanderungen der energieintensiven Industrie. Seit Wochen wirbt die chemische Industrie mit Anzeigen für ihre wichtige Schrittmacherrolle als „Herz“ des deutschen Industriestandorts. Klar erkennbar sind aber heute schon – quer durch alle Branchen von Glas über Chemie bis zu Stahl – Abwerbeversuche aus dem internationalen Umfeld, gerade aus den USA, die hiesige Betriebe mit einer sicheren Energieversorgung und günstigen Preisen umwerben. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, wie schnell vorhandene Lieferketten in Mitleidenschaft gezogen werden können. Der deutschen Industrie stehen also, trotz aller Entlastungspakete und „Doppel-Wumms-Programme“, massive Einschnitte bevor.

Hinzu kommen erhebliche Veränderungen im internationalen Wettbewerb. China setzt erkennbar auf eine Stärkung heimischer Produktion und lokaler Lieferketten. In den USA werden über den „Inflation Reduction Act“ und weitere Programme riesige Milliardenprogramme ins Leben gerufen, die dem Aufbau erneuerbarer Energien, einer funktionierenden Wasserstoffwirtschaft und einer klimaneutralen Wirtschaft dienen. Europa läuft Gefahr, in diesem industriepolitischen Wettbewerb innerhalb der Triade ins Hintertreffen zu geraten. Die eigenen Planungen zur Stärkung einer resilienten Wirtschaft laufen angesichts der massiven Programme zur Dämpfung der Energiepreise stockend an. Zugleich legt sich Europa mitunter selbst Fesseln an. Ein herausragendes Beispiel sind die geplanten Rahmenbedingungen für den Hochlauf einer europäischen Wasserstoffwirtschaft. Hier setzt die EU-Kommission weiter bevorzugt auf „grünen“, also aus erneuerbaren Energien hergestellten Wasserstoff. Länder wie die USA sind bei der Auswahl der zugelassenen Wasserstoffarten wesentlich pragmatischer und technologieoffener und ziehen damit Investitionen an. Europa läuft Gefahr, den Anschluss zu verlieren.

Europa muss zweigleisig fahren: Kurzfristig sind preisdämpfende Maßnahmen wichtig, um insbesondere die sozial Schwächeren und die Industrie vor den massiven Belastungen steigender Energiepreise zu schützen. Dabei sind, wie von der Gaskommission vorgeschlagen, ausreichende Anreize zu einem sparsamen Umgang insbesondere mit Erdgas aufrechtzuerhalten. Gegen nicht vorhandene Moleküle kann der Staat nicht „ansubventionieren“. Mittel- und langfristig ist ein Ausstieg aus dieser Energiekrise nur über massiv steigende Investitionen in erneuerbare Energien, ein zusätzliches Angebot auf der Angebotsseite durch neue Gaslieferverträge sowie die Wiederinbetriebnahme konventioneller Kraftwerke möglich. Hinzu kommt die erforderliche Technologieoffenheit bei Zukunftsmärkten wie Wasserstoff. Nur so können wir uns aus der aktuellen Krise „herausinvestieren“.

¹ Zitiert nach dpa, 23.10.2022.
² https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_6468

 

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