Derzeit erleben wir ein unstetiges Marktumfeld. Das jüngere Wirtschaftsgeschehen war und ist geprägt von der Coronakrise, Material- und Rohstoffknappheit, Lieferengpässen, Digitalisierung, steigenden Energiepreisen, der allgemeinen Inflation, zuletzt dem Ukraine-Krieg und der sich abzeichnenden Zinswende. Kurzum: Unternehmen und Marktakteure stehen vor signifikanten Herausforderungen in einem sich ständig ändernden Marktumfeld. Hinzu kommt ein weiterer Umstand, der in Zukunft von erheblicher Bedeutung für Unternehmen sein wird: ESG.
Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich das Ansinnen von Politik und Gesellschaft, für zunehmend verbindlichere Nachhaltigkeit sorgen zu wollen. Dieser Beitrag gibt einen fokussierten Überblick über den potentiellen Einfluss von ESG-Aspekten auf die Restrukturierung und mögliche Insolvenz von Unternehmen. Soviel vorab: Die Umsetzung von ESG-Kriterien hat einen erheblichen und tendenziell steigenden Einfluss auf die Refinanzierbarkeit und die Bonität von Unternehmen. ESG ist ein Aspekt, der bei künftigen Restrukturierungen eine Rolle spielen wird.
Was ist ESG?
ESG steht für „Environmental, Social and Governance“. Dabei geht es um Belange der Umwelt (insbesondere Klima, Luft, Boden, Wasser und biologische Vielfalt) und um soziale Aspekte (insbesondere Arbeitnehmerbelange, Chancengleichheit, die Einhaltung von Menschenrechten und die gesamtgesellschaftliche Einbindung von Unternehmen). Ferner geht es um die Frage nachhaltiger Unternehmensleitung, guter und verantwortungsvoller Corporate Governance, das Bestehen von Risikomanagement- und Frühwarnsystemen, die Ausrichtung der Unternehmenskultur und Unternehmensethik.
Derzeit sind bestimmte große Unternehmen im Hinblick auf ihre ESG-Struktur bereits in bestimmtem Maß berichtspflichtig. Ein wesentliches Ziel der Berichterstattung über ESG-Faktoren ist es, die Nachhaltigkeitsrisiken und Nachhaltigkeitsinformationen eines Unternehmens und dessen Auswirkungen auf Mensch und Umwelt besser darzustellen. Die Berücksichtigung der ESG-Faktoren steht im Zusammenhang mit dem EU-Aktionsplan „Finanzierung grünen Wachstums“ sowie der Umsetzung des „European Green Deal“ und soll nachhaltige Investitionen fördern, finanzielle Risiken, die sich aus dem Klimawandel, der Ressourcenknappheit, der Umweltzerstörung und sozialen Problemen ergeben, bewältigen sowie die Transparenz und Langfristigkeit in der Finanz- und Wirtschaftstätigkeit fördern.
Rechtlicher Rahmen
Die derzeit für bestimmte größere Unternehmen geltende, nichtfinanzielle Berichterstattung zu ESG-Faktoren beruht auf der „EU-Richtlinie zur Corporate Social Responsibility“ (CSR) aus dem Jahr 2014, die in den §§ 289 ff. HGB, insbesondere § 289c HGB, umgesetzt ist. Hiermit ist bereits ein großes Spektrum der ESG-Komponenten abgedeckt. Betroffene Unternehmen müssen die nichtfinanzielle Berichterstattung in den Lagebericht zum Jahresabschluss aufnehmen oder, den Vorgaben entsprechend, separat veröffentlichen. Sofern zu bestimmten ESG-Aspekten kein Konzept verfolgt wird, müssen die Abweichungen erklärt werden (comply or explain).
Diese relativ weiche Form der Veröffentlichungspflicht von ESG-Faktoren soll zukünftig konkretisiert und zunehmend verbindlicher werden. Bestimmte Pflichten zur Vertiefung und Quantifizierung der Angaben sind auf Basis der EU-Taxonomie-Verordnung bereits eingeführt worden. Hinzu kommt ein EU-Richtlinienentwurf zur Nachhaltigkeitsberichtserstattung aus dem Jahr 2021, der im Englischen als „Corporate Sustainability Reporting Directive“ bezeichnet und ebenfalls mit CSR-Richtline abgekürzt wird, aber inhaltlich über die CSR-Richtlinie aus 2014 hinausgeht. Mit dem neuen Richtlinienentwurf und der Taxonomie-Verordnung soll die nichtfinanzielle Berichterstattung über ESG-Faktoren weiterentwickelt und externer Prüfung unterworfen werden. Unter der bereits grundsätzlich geltenden Taxonomie-Verordnung müssen die erfassten Unternehmen konkrete, anhand ihrer Geschäftszahlen ausgerichtete ESG-Angaben machen und veröffentlichen. Hier müssen Nichtfinanzunternehmen insbesondere angeben, welchen Anteil ihres Jahresumsatzes sie mit ESG-konformen Produkten bzw. Dienstleistungen erzielen und welchen Anteil ihrer Investitions- und Betriebsausgaben sie für ESG-Ziele aufwenden. Auch die derzeit im Entwurfsstadium vorliegende neue CSR-Richtlinie zielt auf eine Verschärfung der ESG-Angaben ab und soll vor allem den Kreis der berichtspflichtigen Unternehmen erweitern. Das weitere Gesetzgebungsverfahren wird zeigen, welche konkreten Vorgaben in der finalen Richtlinie letztlich enthalten sein und wie diese dann schließlich ins nationale Recht umgesetzt werden.
Hinzu kommt das bereits veröffentlichte und 2023 in Kraft tretende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Hiernach werden größere Unternehmen verpflichtet sein, dass sie selbst und ihre Vertragspartner elementare ESG-Parameter, wie das Verbot von Kinderarbeit, die Beachtung von Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie bestimmte umweltbezogene Aspekte, einhalten.
Neben den gesetzlichen Vorgaben gibt es von Banken und anderen institutionellen Kreditgebern selbstauferlegte ESG-Kriterien. Dazu gehört beispielsweise die Initiative der „Net-Zero Banking Alliance“, die darauf gerichtet ist, das gesamte Kredit- und Investmentportfolio von beteiligten Kreditgebern bis spätestens 2050 auf eine Netto-Null- CO2-Bilanz zu minimieren. Darüber hinaus gibt es natürlich auch kurz- bis mittelfristige Zielvorgaben für Nachhaltigkeitskriterien, wie etwa eine Verpflichtung, bestimmte Kreditvolumina für den Ausbau erneuerbarer Energie zu vergeben und die Volumina für fossile Energiegewinnung zu reduzieren.
Auswirkung auf die Restrukturierung
Anhand der bereits zum Teil geltenden Rechtslage und aufgrund der konkreten Gesetzesvorhaben wird deutlich, dass ESG-Themen insgesamt immer relevanter für die Kreditvergabe und -verlängerung werden. Denn wenn Unternehmen ESG-Faktoren nicht ausreichend berücksichtigen, werden sie sich nur unter erschwerten Bedingungen finanzieren können. Eine negative ESG-Bilanz von Unternehmen kann sich insoweit in ihren Ratings und Bonitätsqualifizierungen widerspiegeln.
ESG ist damit ein erheblicher Indikator für die Refinanzierbarkeit von Unternehmen. Die Nichtbeachtung von ESG-Kriterien kann sogar zu einem Refinanzierungshindernis und damit zu einem originären Krisenauslöser werden. Dies gilt nicht zuletzt für die Erstellung und Aufrechterhaltung einer positiven Fortführungsprognose von Unternehmen. Hierfür müssen Unternehmen in den nächsten 24 Monaten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in der Lage sein, ihre jeweils fällig werdenden Verbindlichkeiten zu erfüllen. Andernfalls müssen überschuldete Unternehmen einen Insolvenzantrag stellen. Sofern Unternehmen bzw. deren Geschäftsleitung aufgrund fehlender Ausrichtung an ESG-Anforderungen nicht mehr mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von einer in den nächsten 24 Monaten anstehenden Refinanzierung ausgehen können, besteht akuter insolvenzrechtlicher Handlungsbedarf.
Dies gilt selbst dann, wenn die Verlängerung einer Finanzierung oder anderweitiger Refinanzierungsbedarf scheinbar in weiter Ferne liegt und erst binnen 24 Monaten ansteht. Deswegen ist mittel- bis langfristige Unternehmensplanung mit Blick auf die relevanten ESG-Kriterien essentiell.
Einfluss von ESG-Kriterien auf Kreditvergabe und -konditionen
Obgleich die Auswirkung von ESG-Faktoren auf die Kreditvergabe und damit auch auf die (finanzielle) Restrukturierung immer wichtiger werden, scheint ihr monetärer Einfluss auf die Kreditkonditionen bisweilen eher überschaubar zu sein. Da gibt es die sog. grünen Darlehen („Green Loans“), bei denen die Kreditmittel für die Umsetzung von umweltrelevanten Maßnahmen gewährt werden. Diese Darlehen werden unter anderem von staatlichen Förderbanken vergeben, die den grünen Zweck der Finanzierung in die im Marktvergleich etwas niedrigeren Zinskonditionen (insbesondere die Zinsmarge) direkt einberechnen. Daneben gibt es nachhaltigkeitsorientierte Darlehen („Sustainable-linked Loans“), bei denen sich die Höhe der Zinsmarge entsprechend bestimmten Nachhaltigkeitserfolgen oder -misserfolgen des Unternehmens auf das vorher vereinbarte Niveau verändert. Allerdings sind diese ESG-orientierten Zinsanpassungen derzeit – wie gesagt – eher marginal und bewegen sich etwa in der Größenordnung von 2,5 bis 5 Basispunkten, also ca. 0,025%–0,05%.
Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ESG-Faktoren bereits im Vorfeld bei der Beurteilung der Kreditnehmer und ihres Geschäfts eine erhebliche Rolle spielen. ESG-bedingte Risiken, die sich z.B. negativ auf das Geschäft des Kreditnehmers oder die Reputation der kreditgebenden Bank auswirken können, sind bereits heute für Kreditinstitute aufsichtsrechtlich relevant. Außerdem ist in der Diskussion, ESG-Komponenten künftig bei Eigenkapitalanforderungen oder aufsichtsrechtlichen Zielsetzungen für Kreditinstitute zu berücksichtigen. Hierdurch können Unternehmen, die wichtige ESG-Entwicklungen nicht hinreichend berücksichtigen, beim „Access to Finance“ in eine zunehmend schwierige Situation kommen – ganz abgesehen von der Frage, wie sich eine verschleppte ESG-Umsetzung auf die eigene Position im Markt oder die Stellung als Geschäftspartner in der Wertschöpfungskette anderer, ESG-bewusster Unternehmen auswirken kann.
ESG als Restrukturierungskatalysator
Die neuen ESG-Aspekte und deren Auswirkung auf Finanzierung und Restrukturierung müssen Unternehmen aber nicht zwangsläufig nur belasten und vor weitere Herausforderungen stellen. ESG-Faktoren können – zumindest teilweise – auch als Restrukturierungskatalysator dienen. Man stelle sich vor, dass Unternehmen, die derzeit mit gewissen Schwierigkeiten ringen, ihre Geschäftsausrichtung und ihr Produktangebot an ESG-Kriterien orientieren. Hierdurch kann das Unternehmen seine Attraktivität, Refinanzierbarkeit und Bonität steigern. Wenn Unternehmen gezielt ESG-Komponenten integrieren oder sich von ESG-Hindernissen trennen, kann dies einen positiven Effekt auf ihre Restrukturierungsfähigkeit haben. Dabei sollte aber klar sein, dass der bloße Aufbau von ESG-Strukturen vermutlich nicht ausreichen wird, um ein angeschlagenes Unternehmen auf die Erfolgsspur zu bringen. Allerdings kann die Etablierung von ESG-Strukturen ein Bestandteil einer erfolgreichen Restrukturierung sein.
Ausblick
ESG und Nachhaltigkeit sind derzeit zukunftsträchtige Themen mit gesellschaftlicher Tragweite. Wie die mannigfaltigen Gesetzesvorhaben und die selbstauferlegten Zielvorgaben von Kreditinstituten zeigen, dürfte es sich hierbei um mehr als eine temporäre Erscheinung handeln. Wer die neuen Anforderungen erfüllt, wird hierdurch nachvollziehbarerweise kaum oder gar keine Nachteile erleiden. Für diejenigen Unternehmen, die sich allerdings schwer damit tun, kann die mangelnde Berücksichtigung von ESG-Kriterien zu einer echten Herausforderung mit Krisenpotential werden. Umgekehrt kann die geschickte Umsetzung von ESG-Konzepten auch zu einer Chance von Unternehmen werden und deren Restrukturierung motivieren und erleichtern. Entscheidend wird nicht zuletzt sein, mit welcher Intensität die neuen gesetzlichen Vorhaben in das nationale Recht umgesetzt werden.
michael.rickert@linklaters.com