Im Blickpunkt: Die neue Verfahrensordnung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts

Von Dr. rer. nat. Bernd Christian Janssen, LL.M.

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Einleitung
Seit dem 01.01.2020 ist die neue Verfahrensordnung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts (VOBK) in Kraft und gilt für alle anhängigen oder eingelegten Beschwerden. Die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts dienen – ähnlich wie das Bundespatentgericht für Entscheidungen des Deutschen Patent- und Markenamts – als Überprüfungsinstanz für Entscheidungen des Europäischen Patentamts, insbesondere bei Entscheidungen der Prüfungsabteilungen in Ex-parte-Verfahren und der Einspruchsabteilungen in Inter-partes-Verfahren. Die Beschwerdekammern – jetzt mit Sitz in Haar bei München – sind zwar in die Organisationsstruktur des EPA integriert, sind jedoch bei ihren Entscheidungen nicht an Weisungen des Amts gebunden, sondern allein dem Europäischen Patentübereinkommen unterworfen. Pro Jahr gehen bei den Beschwerdekammern derzeit rund 2.500 neue Fälle ein; im gleichen Zeitraum erledigen die Kammern ca. 2.300 Beschwerden.

Regelungszweck
Die VOBK wurde neu verfasst, hauptsächlich um den Rückstau der anhängigen Verfahren vor den Beschwerdekammern, der sich über die Jahre aufgebaut hat, zu mindern und die Dauer der Beschwerdeverfahren zu verkürzen. Entsprechend ist in der Kommentierung der Neufassung von einem dreistufigen „Konvergenzansatz“ die Rede, der die im Verfahren nachgereichten und zu berücksichtigenden Unterlagen immer weiter beschränkt.
Die Neufassung der VOBK verleiht den Vorsitzenden der Beschwerdekammern auch mehr Flexibilität, Beschwerden, die von der Sache her zusammenhängend sind, in Abweichung vom „First in, first out“-Prinzip unmittelbar nacheinander oder sogar in einem gemeinsamen Verfahren abzuarbeiten, auch wenn die Beschwerden zu unterschiedlichen Zeitpunkten eingelegt wurden. Eine gemeinsame Behandlung von Beschwerdeverfahren bedarf nicht mehr der Zustimmung der Beteiligten. Auf Antrag der Parteien, von Amts wegen oder auf Antrag eines Gerichts kann die Beschwerdekammer bestimmte Verfahren beschleunigen, also vorrangig behandeln (Art. 10 VOBK).
Im Zentrum der Änderungen der VOBK stehen allerdings die Restriktionen bezüglich der Zulassung neuen Vorbringens und neuer Anträge im Beschwerdeverfahren, die schon im Vorfeld kritisch kommentiert wurden (siehe hierzu beispielsweise K. Richter, „EPO Administrative Council adopts Boards of Appeal’s revised Rules of Procedure“, JUVE-Verlag, August 2019, veröffentlicht unter: https://www.juve-patent.com/news-and-stories/legal-commentary/epo-adopts-boards-of-appeal-revised-rules-of-procedure/).
Schon mit den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammern G 9/91 und G 10/91 aus dem Jahr 1993 (ABl. EPA 1993, 408 ff.) stellte das Europäische Patentamt klar, dass das Beschwerdeverfahren – anders als das rein administrative Einspruchsverfahren – als „verwaltungsgerichtliches Verfahren“ anzusehen sei und dass ein solches Verfahren seiner Natur nach weniger auf Ermittlungen ausgerichtet sei als ein Verwaltungsverfahren, wie etwa das Prüfungsverfahren oder das Einspruchsverfahren. Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens sei es, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten. Insofern wurde auch mit diesen Entscheidungen die Möglichkeit für die Einsprechenden beschränkt, in der Beschwerdeinstanz neue Einspruchsgründe vorzutragen. Gemäß der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 10/93 aus dem Jahr 1993 (ABl. EPA 1995, 172 ff.) sind diese Grundsätze nicht grundsätzlich auf das Ex-parte-Beschwerdeverfahren zu übertragen, obwohl das Verfahren vor den Beschwerdekammern auch im Ex-parte-Verfahren primär auf die Überprüfung der angefochtenen Entscheidung abgestellt ist, denn im Gegensatz zum Einspruchsbeschwerdeverfahren bezieht sich die verwaltungsgerichtliche Überprüfung im Ex-parte-Verfahren auf das Stadium vor der Patenterteilung und lässt einen streitigen Charakter vermissen.

Einbringen neuen Vortrags oder Einreichung neuer Anträge immer mehr eingeschränkt
Aufgrund dieses Verfahrensverständnisses haben die Beschwerdekammern im Laufe der Zeit die Möglichkeiten neuen Vortrags oder der Einreichung neuer Anträge in der Beschwerdeinstanz immer mehr eingeschränkt, auch für Beschwerden im Anmeldeverfahren. Ein Patentinhaber, der im Einspruchsverfahren unterlegen ist, hat beispielsweise das Recht, die zurückgewiesenen Anträge von der Beschwerdekammer erneut prüfen zu lassen. Will er jedoch andere Anträge prüfen lassen, so lag es bisher im Ermessen der Beschwerdekammer, sie zum Verfahren zuzulassen; einen Rechtsanspruch hatte der Patentinhaber darauf nicht. Es bedurfte guter Gründe, damit die Kammern dieses Ermessen zugunsten des Patentinhabers ausüben und auch solche Anträge zum Verfahren zulassen, die der Einspruchsabteilung noch nicht vorgelegen haben (siehe Entscheidung der Beschwerdekammern mit dem Az. T 840/93 (ABl. EPA 1996, 335ff.)). Nach anfangs großzügigem Verfahren in dieser Hinsicht, wobei die Beschwerdekammern in der Regel geänderte Anträge oder Hilfsanträge im Beschwerdeverfahren zugelassen hatten, sofern sie in der ernstzunehmenden Absicht gestellt worden waren, Beanstandungen auszuräumen, und außerdem eindeutig gewährbar waren (siehe etwa T 406/86 (ABl. EPA 1989, 302ff.), T 295/87 (ABl. EPA 1990, 470ff.), T 127/85 (ABl. EPA 1989, 271ff.)), wurden die Kriterien zur Ausübung des Ermessens bei der Zulassung neuer Anträge und Beweismittel immer restriktiver angewendet (siehe T 840/93 (a.a.O.), T 196/16 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t160195eu1.html), T 1033/10 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t101033eu1.html), T 2075/11 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t112075du1.html)), insbesondere in fortgeschrittenem Stadium des Beschwerdeverfahrens (siehe etwa T 339/06 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t060339du1.html), T 1705/07 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t071705du1.html), T 144/09 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t090144eu1.html), T 23/10 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t100023eu1.html)).
Der geänderte Artikel 12(2) VOBK stellt nunmehr klar, dass im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, das Beschwerdevorbringen der Beteiligten auf die Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel zu richten ist, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen. Artikel 12(2) VOBK geht insoweit über die bisherige Praxis hinaus, als er sich nun auch auf Argumente – im Rahmen der vorgetragenen Einwände – richtet, die spät vorgebracht werden. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern bietet das EPÜ keine Rechtsgrundlage dafür, spät vorgebrachte Argumente unberücksichtigt zu lassen (T 861/93 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t930861du1.html ), T 386/01 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t010386du1.html)). So konnten bislang spät vorgebrachte Argumente nicht mit der Begründung unberücksichtigt gelassen werden, dass sie erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden seien (T 92/92 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t920092eu1.html), T 704/06 (https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t060704eu1.html)). Der geänderte Artikel 12(2) VOBK erweitert erstmals die Befugnisse der Beschwerdekammern, nun auch verspätet vorgetragene Argumente unberücksichtigt zu lassen, die auf präsenten Beweismitteln beruhen, sofern sie nicht der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen.
Weiterhin müssen gemäß Artikel 12(3) VOBK die Beschwerdebegründung und die Erwiderung das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten. Dementsprechend müssen sie deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen, und sie sollen ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen.
Erfüllt ein Teil des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten nicht diese Erfordernisse des Artikel 12(2) VOBK, so ist gemäß der ersten Stufe des Konvergenzansatzes (Artikel 12(4) VOBK) dieser Teil als Änderung zu betrachten, sofern der Beteiligte nicht zeigt, dass dieser Teil in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurde. Mit anderen Worten: Die Einreichung neuer Patentansprüche oder neuer Argumente mit der Beschwerdebegründung oder der Beschwerdeerwiderung ist dann eine Änderung des Verfahrens, die seitens der Beschwerdekammer in das Verfahren zugelassen werden muss, wenn sie nicht schon in der ersten Instanz vorgetragen oder präsentiert wurden. Dementsprechend wird nicht mehr „das gesamte Vorbringen“ zu Beginn des Beschwerdeverfahrens grundsätzlich im Beschwerdeverfahren berücksichtigt. Die Neufassung des Artikels 12(4) VOBK stellt es nunmehr in das Ermessen der Beschwerdekammer, eine bereits zu Beginn des Beschwerdeverfahrens vorgenommene Änderung des Vorbringens zuzulassen.
Selbst wenn die Beschwerdebegründung oder die Erwiderung ein Vorbringen enthält, das nicht als Änderung anzusehen ist, kann die Kammer dennoch beschließen, diesen Teil nicht zuzulassen, also ihn im Entscheidungsprozess nicht zu berücksichtigen, wenn er die Kriterien des Artikels 12(3) VOBK nicht erfüllt. So muss ein Beteiligter, wie auch nach der derzeitigen Verfahrensordnung, ausdrücklich alle Anträge, Tatsachen und anderes, auf die Bezug genommen wird, „im Einzelnen anführen“. Tut er das nicht und verweist er stattdessen nur auf sein Vorbringen vor der ersten Instanz, so kann die Kammer entscheiden, dieses Vorbringen (Anträge, Tatsachen und anderes) unberücksichtigt zu lassen (Artikel 12(5) VOBK). Des Weiteren lässt die Beschwerdekammer grundsätzlich Anträge, Tatsachen, Einwände oder Beweismittel, die im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassen wurden, auch nicht im Beschwerdeverfahren zu, es sei denn, dass die Nichtzulassung ermessensfehlerhaft war (Artikel 12(6) VOBK).
Änderungen des Beschwerdevorbingens nach der Anfangsphase des Verfahrens müssen gemäß der zweiten Stufe des Konvergenzansatzes begründet werden. Die Zulassung steht im Ermessen der Beschwerdekammer, und das Ermessen wird anhand einer – nicht erschöpfenden – Liste von Kriterien geprüft. Bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtigt die Kammer insbesondere den Stand des Verfahrens, die Eignung der Änderung zur Lösung der von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren in zulässiger Weise aufgeworfenen Fragen oder der von der Kammer selbst aufgeworfenen Fragen, ferner die Frage, ob die Änderung der Verfahrensökonomie abträglich ist, und bei Änderung einer Patentanmeldung oder eines Patents, ob der Beteiligte aufgezeigt hat, dass die Änderung prima facie die von einem anderen Beteiligten im Beschwerdeverfahren oder von der Kammer aufgeworfenen Fragen ausräumt und keinen Anlass zu neuen Einwänden gibt (Art. 13(1) VOBK). Noch später eingereichte Änderungen bleiben gemäß der dritten Stufe des Konvergenzansatzes grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen (Art. 13(2) VOBK).
Nach Artikel 14 VOBK gelten die Artikel 12 und 13 entsprechend für Beitritte, die während eines anhängigen Beschwerdeverfahrens erklärt werden, und zwar unabhängig von den jeweiligen Umständen des Beschwerdefalls. Nach der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer erlangt der Beitretende bei einem Beitritt während des Beschwerdeverfahrens die Stellung eines Einsprechenden und hat, mit Ausnahme des Rechts, neue Einspruchsgründe geltend zu machen, die gleichen Rechte und Obliegenheiten wie alle Einsprechenden, die keine Beschwerde eingelegt haben (G 3/04 (ABl. EPA 2006, 118ff. mit Verweis auf G 1/94, ABl. EPA 1994, 787)).

Fazit
Die Tendenz, die Verfahren vor dem Europäischen Patentamt, insbesondere die Einspruchsverfahren und die Einspruchs­beschwerdeverfahren, zu straffen, ist seit vielen Jahren zu beobachten. Mit der neuen VOBK geht das Europäische Patentamt einen Schritt weiter, allerdings auf Kosten der vorzutragenden Einwände und Anträge der beteiligten Parteien. Während ein Einsprechender bei erfolglosem Einspruch eine zweite Chance auf Vernichtung des Patents mittels der Nichtigkeitsklage hat, kann ein einmal vernichtetes Patent nicht wiederbelebt werden. Während diese Tatsache bei der Zulassung von Änderungen bisher bei den Beschwerdekammern Berücksichtigung fand, steht zu befürchten, dass dies mit der geänderten VOBK nicht mehr in gleicher Weise der Fall sein wird. Der Patentinhaber wird daher gezwungen sein, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten und seine Anträge möglichst frühzeitig im erstinstanzlichen Verfahren zu präsentieren. Dies wird die Komplexität insbesondere des erstinstanzlichen Verfahrens deutlich erhöhen, und die erhöhte Komplexität wird sich damit auch auf das Beschwerdeverfahren auswirken. Es steht folglich in Frage, ob damit das angestrebte Ziel der Beschleunigung des Einspruchsverfahrens, insbesondere des Einspruchsbeschwerdeverfahrens, tatsächlich zu erreichen ist.

janssen@uex.de

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