Praxishinweise zur Entscheidung G1/19 des EPA

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Zusammenfassung

In der modernen Produktentwicklung ist der Einsatz von Simulationssoftware längst eine Selbstverständlichkeit. Durch den Einsatz von Simulationsverfahren können Produkteigenschaften effektiv prognostiziert und optimiert werden. Da die Softwareentwicklung kostenintensiv ist und der Einsatz von Simulationsverfahren auf Seiten der Anwender signifikante Effizienzsteigerungen und Kosteneinsparpotentiale mit sich bringt, stellt Simulationssoftware inzwischen einen erheblichen wirtschaftlichen Wert dar. Die Forderung nach einem wirksamen Patentschutz für Simulationssoftware ist daher mehr als gerechtfertigt.

Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat sich in ihrer im März 2021 veröffentlichten Entscheidung G1/19 mit der Frage der Patentierbarkeit von computerimplementierten Simulationen befasst. Sie hat entschieden, dass der COMVIK-Ansatz, den das Europäische Patentamt bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit computerimplementierter Erfindungen anwendet, auch bei solchen Erfindungen anzuwenden ist, die sich auf computerimplementierte Simulationsmethoden beziehen. Hervorzuheben ist dabei, dass die G1/19 feststellt, dass eine unmittelbare Verknüpfung der Simulation mit der (äußeren) physikalischen Realität keine notwendige Bedingung für die Anerkennung eines technischen Effekts ist.

Einleitung

Hintergrund der Entscheidung G1/19 ist der Vorlagefall T0489/14, der ein Verfahren zur Simulation von Fußgängern betrifft, die sich durch eine Umgebung bewegen. Auf Grundlage der Simulationsergebnisse kann beispielsweise überprüft werden, ob ein Gebäude konstruktiven Anforderungen für den Fall einer Evakuierung entspricht.

Das Europäische Patentamt hatte die Ansprüche, die auf ein computersimuliertes Verfahren zur Modellierung der Bewegungen einer Fußgängermenge in einer Umgebung gerichtet waren, zunächst aufgrund mangelnder erfinderischer Tätigkeit zurückgewiesen und betont, dass nur die Verwendung eines Computers zum technischen Charakter des beanspruchten Verfahrens beitrage. Die Prüfungsabteilung argumentierte, das Simulationsmodell sei nicht technisch und bewirke keinen technischen Effekt, der über die bloße Implementierung der Software auf einem Computer hinausgehe.

In ihrer Beschwerde gegen die Zurückweisung verwies die Anmelderin auf die Entscheidung T1227/05, in der eine Anmeldung auf eine Simulation eines elektronischen Schaltkreises, der 1/f-Rauscheinflüssen unterworfen ist, als schutzfähig erachtet wurde. In der zugrundeliegenden Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer wurde ausgeführt, dass die Simulation technische Aufgaben erfüllt, die für eine moderne Ingenieurtätigkeit typisch sind, und einen hinreichend definierten technischen Zweck für eine computerimplementierte Erfindung darstellt: Die Simulation erlaubt eine realitätsnahe Vorhersage des Verhaltens eines entworfenen Schaltkreises und unterstützt dadurch dessen Entwicklung im Idealfall so genau, dass vor einer Fertigung abgeschätzt werden kann, ob der Bau eines Prototyps Erfolg verspricht. In der bisherigen Rechtsprechung kam dieser Entscheidung eine besondere Bedeutung zu, da sie in Bezug auf Computersimulationen bereits häufig als positives Beispiel für deren Patentierbarkeit zitiert wurde.

Im Vorlagefall T0489/14 war die Technische Beschwerdekammer jedoch nicht geneigt, dieser Rechtsprechung zu folgen. Nach Meinung der Beschwerdekammer können die Berechnungen, die der Simulation der Bewegung von Fußgängern zugrunde liegen, zumindest im Prinzip rein mental durchgeführt werden. Die Rolle des Computers bestehe darin, eine zufriedenstellende und zuverlässige Leistung/Berechnungsgeschwindigkeit zu gewährleisten. Die Technische Beschwerdekammer legte der Großen Beschwerdekammer daher drei Fragen zur Prüfung vor, die sich im Kern mit der Frage beschäftigen, ob und wie sich einem computerimplementierten Simulationsverfahren technische Effekte zuordnen lassen, die über die Implementierung der Simulation auf einem Computer hinausgehen.

Technische Effekte in Verbindung mit computerimplementierten Simulationen.

Die Große Beschwerdekammer hat nun in ihrer Entscheidung G1/19 grundlegend ausgeführt, dass computerimplementierte Simulationen einen technischen Effekt erzeugen können, der zur Lösung eines technischen Problems beiträgt. Zur Beurteilung der Patentfähigkeit von computerimplementierten Simulationen ist nach Meinung der Großen Beschwerdekammer der COMVIK-Ansatz geeignet. Wie alle anderen computerimplementierten Erfindungen können numerische Simulationen patentierbar sein, wenn eine erfinderische Tätigkeit auf technische und gegebenenfalls auch nichttechnische Merkmale gestützt werden kann, die zu einer durch die Simulation erzielten technischen Wirkung beitragen.

In ihrer Entscheidung weist die Große Beschwerdekammer auf eine Reihe von technischen Effekten hin, die im Zusammenhang mit computerimplementierten Verfahren grundsätzlich auftreten können. So ist ein technischer Input in Form von Messsignalen oder ein technischer Output wie ein Steuersignal bei einem computerimplementierten Verfahren sicherlich technisch und weist eine direkte Verbindung mit der physikalischen Realität auf. Auch eine verbesserte Nutzung von Speicherkapazitäten durch ein computerimplementiertes Verfahren (Anpassungen des Computers oder seiner Funktionsweise) stellt nach Meinung der Großen Beschwerdekammer einen technischen Effekt dar.

Anders verhält es sich jedoch mit computerimplementierten Simulationen, da diese im Regelfall kein Ergebnis bereitstellen, das eine direkte Verbindung zur physischen Realität herstellt, wie beispielsweise das oben genannte Steuersignal. Darüber hinaus ist das Modell, das der Simulation zugrunde liegt, rein mathematisch, unabhängig davon, ob ein „technisches“ oder „nichttechnisches“ System oder ein Prozess modelliert wird. Das Aufstellen des Modells und der Gleichungen, die das Modell darstellen, ist ein rein geistiger Akt, auch wenn diese Tätigkeiten durch Computer unterstützt werden können.

In ihrer Entscheidung hat die Große Beschwerdekammer nun festgestellt, dass bei Anwendung des COMVIK-Ansatzes auf Simulationen die zugrundeliegenden Modelle Rahmenbedingungen bilden, die auch nichttechnisch sein können. Diese können jedoch zum technischen Charakter beitragen, wenn sie zum Beispiel ein Grund für die Anpassung des Computers oder seiner Funktionsweise sind oder wenn sie die Grundlage für eine weitere technische Verwendung der Ergebnisse der Simulation bilden. Die Beschwerdekammer hat somit entschieden, dass eine Simulation ohne einen Output, der einen direkten Bezug zur physischen Realität hat, wie jedes andere computerimplementierte Verfahren auch, ein technisches Problem lösen kann. Das heißt: Werden die Ergebnisse der Fußgängersimulation beispielsweise verwendet, um konstruktive Änderungen an der Gebäudestruktur vorzunehmen, stellt dies eine weitere technische Verwendung der Ergebnisse der Simulation dar, die zum technischen Charakter der Simulation beiträgt. Damit hat die Große Beschwerdekammer klargestellt, dass eine direkte Verbindung mit der physischen Realität keine notwendige Voraussetzung für einen technischen Effekt ist.

Fazit

Mit der G1/19 hat die Große Beschwerdekammer festgestellt, dass die computerimplementierte Simulation als solche patenfähig ist. Insbesondere kann sie einen technischen Effekt in Form einer weiteren technischen Verwendung der Simulationsergebnisse erzeugen. Die Weiterverwendung der Simulationsergebnisse muss jedoch nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer zumindest implizit im Anspruch angegeben werden. Gleiches gilt für etwaige Anpassungen des Computers oder seiner Funktionsweise. Es ist zu erwarten, dass das Europäische Patentamt (EPA) strenge Maßstäbe bei der Beurteilung des technischen Charakters von computerimplementierten Simulationen anlegt. Von daher wird empfohlen, bei der Ausarbeitung von Patentanmeldungen besonderes Augenmerk auf diese Aspekte zu legen und auch in der Beschreibung ausführlich darzulegen, in welcher Weise die Weiterverwendung der Simulationsergebnisse erfolgt und/oder welchen Einfluss der Simulationsalgorithmus auf die interne Funktionsweise des Computers hat.

kuehn@uex.de

jacob@uex.de

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