Hintergründe und Zusammenhänge zu den Vorlagen G 1/22 und G 2/22

Beitrag als PDF (Download)

Einleitung

Eine aus pre-AIA („AIA“: Leahy–Smith America Invents Act) Zeiten stammende US-amerikanische Anmeldepraxis bedroht die Wirksamkeit der Prioritätsansprüche zahlloser europäischer Patente. Die Große Beschwerdekammer entscheidet nun über das Schicksal dieser Prioritätsansprüche.

Aktuell liegen der Großen Beschwerdekammer zwei Fragen aus den Vorlagen G 1/22 und G 2/22 vor. Die beiden Vorlagen entstammen der Einspruchsbeschwerde T 1513/17 und der Beschwerde T 2719/19 gegen die Zurückweisung einer Teilanmeldung derselben Patentfamilie. Die Beschwerden sind verbunden worden und konvergieren jeweils zu den zwei vorgelegten Fragen.

Die erste Frage ist weit gefasst und geht dahin zu erfahren, ob das Europäische Patentamt (EPA) die Kompetenz habe, über die Prioritätsberechtigung zu entscheiden. Sofern diese Frage bejaht wird, soll weiterhin entschieden werden, ob der von EPA-Einspruchsabteilungen etablierte „Joint Applicants Approach“ auf PCT-Konstellationen (PCT: Patent Cooperation Treaty) erweitert anwendbar sein soll.

Hintergrund

Ursächlich für den zugrundeliegenden Sachverhalt ist eine vor Inkrafttreten des AIA geltende Vorschrift des Patent Act (35 U.S.-Code), gemäß der nur die Erfinder einer US-Voranmeldung Anmelder sein durften. Folglich traten beispielsweise bei Arbeitnehmererfindungen deren Arbeitgeber erst im Rahmen von Nachanmeldungen als Anmelder in Erscheinung.

Bei PCT-Nachanmeldungen war es gängige Praxis, die Erfinder/Anmelder der US-Voranmeldung für die USA als exklusive Anmelder zu benennen und hinzugekommene Anmelder für Bestimmungsstaaten außer der USA als Anmelder zu benennen, wie in Abbildung 1 skizziert.

Bezug zu den Vorlagen

Der Beschwerdesache T 1513/17 lag ein Einspruch gegen ein Patent mit einer vergleichbaren Anmelderkonstellation zu Grunde.

Die Einspruchsabteilung prüfte die Rechtsnachfolge im Sinne von Artikel 87(1)(b) EPÜ. Da zum Anmeldezeitpunkt der PCT-Nachanmeldung keine vollständige Übertragung des Prioritätsrechts von den Anmeldern der Voranmeldung auf die Anmelder der PCT-Nachanmeldung erfolgt war, verneinte die Einspruchsabteilung die Rechtsnachfolge.

Daraufhin verneinte die Einspruchsabteilung die wirksame Inanspruchnahme der Priorität, verjüngte den Zeitrang des Patents auf das Anmeldedatum der PCT-Anmeldung und widerrief das Patent mangels Neuheit.
Das darauffolgende Beschwerdeverfahren mündete schließlich in den zwei Fragen, die der Großen Beschwerdekammer aktuell zur Entscheidung vorliegen.

Die Fragen im Wortlaut

Übersetzt aus dem Englischen lauten die vorgelegten Fragen wie folgt:

Frage I: Überträgt das EPÜ dem EPA die Kompetenz, zu bestimmen, ob ein Beteiligter wirksam beansprucht, Rechtsnachfolger im Sinne von Artikel 87(1)(b) EPÜ zu sein?

Frage II: Falls Frage I zu bejahen ist, kann sich ein Beteiligter B wirksam auf das in einer PCT-Anmeldung beanspruchte Prioritätsrecht berufen, um Prioritätsrechte nach Artikel 87 (1) EPÜ in Anspruch zu nehmen, wenn
1. in einer PCT-Anmeldung der Beteiligte A als Anmelder nur für die USA und der Beteiligte B als Anmelder für andere benannte Staaten, einschließlich des regionalen europäischen Patentschutzes, benannt ist und
2. die PCT-Anmeldung eine Priorität aus einer früheren Patentanmeldung in Anspruch nimmt und den Beteiligten A als Anmelder benennt und
3. die in der PCT-Anmeldung beanspruchte Priorität mit Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft in Einklang steht?

Wie hängen die beiden Fragen zusammen?

Auf den ersten Blick mögen die Fragen I und II wenig zusammenhängend erscheinen, zumal Frage II nicht einmal die Rechtsnachfolge erwähnt. Bemerkenswert ist vor allem, dass eine Verneinung der Frage I der gängigen Praxis des EPA, die Wirksamkeit der Rechtsnachfolge bei Bedarf zu prüfen, widersprechen würde.

Die Beschwerdekammer rechtfertigt Frage I sinngemäß damit, dass durchaus argumentiert werden könnte, allein die Tatsache der gemeinsamen Einreichung der PCT-Anmeldung als eine konkludent erfolgte Übertragung des Prioritätsrechts anzusehen, wenn keine entgegenstehenden Indizien vorhanden sind. Ein ähnlicher Ansatz ist etwa aus der deutschen Rechtsprechung bekannt, BGH 16 X ZR 49/12 (Fahrzeugscheibe).

Wie ist dieses Argument nun in den zur Entscheidung vorgelegten Sachverhalt einzuordnen?

Entscheidung zu Frage I

Die Bedeutung des Arguments zur vermuteten konkludent erfolgten Übertragung des Prioritätsrechts ist in Abbildung 2 veranschaulicht. Dieses Argument schafft eine Grundlage dafür, den Prioritätsanspruch selbst dann als wirksam erachten zu können, wenn das EPA keine Kompetenz im Sinne der Frage I hätte. Letztlich ermöglicht dieses Argument, Frage I verneinen zu können. Die Verneinung der Frage I könnte eine wesentliche prozessuale Vereinfachung seitens des EPA bewirken, da aufwändige Prüfungen von Übertragungen des Prioritätsrechts nicht mehr in dessen Machtbereich fielen, dargestellt in Pfad 1 in Abbildung 2.
Wird Frage I hingegen bejaht, überträgt das EPÜ laut GBK dem EPA grundsätzlich die Kompetenz, zu bestimmen, ob ein Beteiligter wirksam beansprucht, Rechtsnachfolger im Sinne von Artikel 87(1)(b) EPÜ zu sein, vgl. Pfad 2 in Abbildung 2.

Ergibt eine solche Überprüfung, dass zum Anmeldezeitpunkt der PCT-Anmeldung ein wirksamer Rechtsübergang vorlag, hat der Beteiligte wirksam beansprucht, Rechtsnachfolger im Sinne von Artikel 87(1)(b) EPÜ zu sein und die Priorität ist wirksam beansprucht, vgl. Pfad 4.

Die Wirksamkeit der Prioritätsrechtsübertragung ist nach den Maßstäben des betreffenden US-Bundesstaats zu bewerten und kann etwa aus einem sogenannten Assignment oder aus einer konkreten Regelung im Arbeitsvertrag hervorgehen.

Kann die Wirksamkeit dieses Rechtsübergangs nicht nachgewiesen werden, wie etwa in der T 1513/17 geschehen, hat der Beteiligte nicht wirksam beansprucht, Rechtsnachfolger im Sinne von Artikel 87(1)(b) EPÜ zu sein, mit der Konsequenz, dass die Priorität nicht wirksam beansprucht ist, vgl. Pfad 5.

Entscheidung zu Frage II

Frage II stellt sinngemäß die Frage, ob der „Joint Applicants Approach“ auf PCT-Anmeldungen gemäß dem in Frage II geschilderten Fall zu erweitern ist.

Was besagt der Joint Applicants Approach?

Es ist gängige Praxis beim EPA, dass in Fällen, in denen eine spätere europäische Patentanmeldung von gemeinsamen Anmeldern gehalten wird und die Priorität einer früheren europäischen Patentanmeldung in Anspruch nimmt, der Prioritätsanspruch gültig ist, sofern alle Anmelder (oder ihre Rechtsnachfolger) der Prioritätsanmeldung Teilmenge der Anmelder der späteren europäischen Patentanmeldung enthalten sind. Anders ausgedrückt: Die Hinzufügung von Anmeldern zur Nachanmeldung ist nicht ausgeschlossen, solange alle Anmelder der Prioritätsanmeldung in der Nachanmeldung ebenfalls enthalten sind. Dieser Ansatz wird als „Joint Applicants Approach“ bezeichnet.

Die Beschwerdekammer führte im Verfahren T 1513/17 den Begriff „PCT Joint Applicants Approach“ ein. Dieser Ansatz beruht auf der Annahme, dass Anmelder einer PCT-Anmeldung als gemeinsame Anmelder anzusehen sind, und zwar selbst dann, wenn diese für unterschiedliche Bestimmungsstaaten benannt sind. Folglich müsste ein Prioritätsanspruch auch dann als gültig erachtet werden, wenn Teile der Anmelder keine Anmelder des europäischen Patentanmeldung waren, da sie, wie im konkreten Fall, nur für die USA benannte Anmelder waren. Die Erweiterung des EPÜ-spezifischen „Joint Applicants Approach“ auf den „PCT Joint Applicants Approach“ würde folglich Anmelder jenseits des territorialen Geltungsbereich des EPÜ miteinbeziehen.

Wird Frage II also bejaht, Pfad 6, wäre demnach in Zukunft zu bestimmen, ob alle Anmelder der Prioritätsanmeldung, der US-Voranmeldung, auch in der PCT-Nachanmeldung enthalten waren. Ist dies gegeben, wäre die Priorität wirksam beansprucht, Pfad 7. Ist dies nicht der Fall, bestünde nach wie vor die Möglichkeit zu prüfen, ob ein Rechtsübergang der Anmelder der Prioritätsanmeldung auf die Anmelder der PCT-Nachanmeldung erfolgt ist, und zwar vor dem Anmeldetag der PCT-Nachanmeldung, Pfad 8 in Verbindung mit den Pfaden 4 und 5.

Ausblick

Eine Verneinung der ersten Frage könnte schwerwiegende Auswirkungen darauf haben, wie die Priorität im Allgemeinen vom EPA beurteilt wird, einhergehend mit erheblichen Änderungen der derzeitigen Praxis. Eine Bejahung der zweiten Frage scheint insofern kühn, als dass Anmelder berücksichtigt werden, die keine Anmelder des europäischen Schutzrechts sind. Um das Patent aus T 1513/17 zu retten, müsste jedenfalls Frage I oder zusätzlich Frage II bejaht werden. Sollte hingegen Frage I bejaht und Frage II verneint werden, bleibt für alle betroffenen Patente lediglich zu hoffen, dass zum Zeitpunkt der PCT-Nachanmeldung eine wirksamer Übertragung des Prioritätsrechts vorlag. Der Autor sieht der Entscheidung mit Interesse entgegen.

 

michael.plevan@df-mp.com

Aktuelle Beiträge