Im Blickpunkt: Einspruchsverhandlungen beim Europäischen Patentamt als Videokonferenz

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Einleitung
Die Kontakt- und Bewegungsbeschränkungen zur Eindämmung von Covid-19 haben Europa weiterhin fest im Griff und machen auch vor den mündlichen Verhandlungen in Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) nicht halt. Dabei führten zunächst die unterschiedlichen Standorte des EPA in Kombination mit in den unterschiedlichen Vertragsstaaten des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ) ansässigen Vertretern zu Beginn der Pandemie schnell zu einer Situation, in der bereits angesetzte mündliche Verhandlungen aufgrund von Reisebeschränkungen oder Quarantänemaßnahmen nicht mehr durchgeführt werden konnten. In der Folge wurden zahlreiche Verhandlungen abgesagt oder verschoben, was zu einer ungewollten Verzögerung der Verfahrensdauern und zu einer Erhöhung des Rückstaus („Backlog“) beim Abschluss der Einspruchsverfahren führte. Diese Verzögerungen stehen auch im Widerspruch zu der Initiative des EPA, einen Großteil der Verfahren nach 15 Monaten abschließen zu wollen.
Das EPA hat früh reagiert und ermöglicht es seit dem 14.04.2020 in einem Pilotprojekt, nach Ermessen der Einspruchsabteilungen, Verhandlungen als Videokonferenz durchzuführen, wenn die Beteiligten zustimmen. Auf diese Weise können Verhandlungen durchgeführt und die Verfahren in der ersten Instanz abgeschlossen werden.
In der Zwischenzeit ist die anfängliche Skepsis der Einspruchsabteilungen und der Parteien einer zögerlichen Akzeptanz
der Verhandlungen in Form einer Videokonferenz gewichen. Der folgende kurze Bericht über die Erfahrungen aus den ersten sieben Monaten unter diesem Regime soll auf die am 10.11.2020 beschlossene Fortführung des Pilotprojekts bis zumindest zum 15.09.2021 einstimmen, wobei ab dem 04.01.2021 sämtliche Verhandlungen als Videokonferenz durchgeführt werden sollen.

Technische Voraussetzungen
Um Verhandlungen in Form einer Videokonferenz zufriedenstellend durchführen zu können, müssen die technischen Voraussetzungen für den Aufbau der Videokonferenz erfüllt sein. Dies sollte die Nutzer aber nicht vor größere Herausforderungen stellen, denn die vom EPA gewählten Plattformen zur Durchführung der Verhandlungen sind weit verbreitet und werden von den Beteiligten auch in anderen Kontexten benutzt.
Die vom EPA verwendeten Plattformen „Skype for Business“ und (seit dem 14.09.2020) „Zoom“ benötigen keine spezielle Hardware, sondern können auf jedem herkömmlichen PC, Notebook, Tablet oder gar Smartphone verwendet werden. Die Plattformen lassen sich auch über einen Browser benutzen, so dass nicht einmal die Installation von spezieller Software auf den jeweiligen Geräten notwendig ist.
Einzig ein Mikrofon oder Headset und eine Kamera müssen vorhanden sein. Dies dürfte aber ohnehin zur Standardausrüstung gehören, zumal aufgrund der Kontakt- und Reisebeschränkungen derzeit sowieso ein Großteil der Kommunikation über solche Plattformen und die entsprechenden dafür ausgestatteten Geräte stattfindet.
Die für andere Videokonferenzen bekannten Optimierungsmaßnahmen stehen auch hier zur Verfügung, also eine ausreichende Beleuchtung der von der Kamera aufzunehmenden Personen und die Bereitstellung eines Headsets oder separaten Mikrofons für den jeweils vortragenden Teilnehmer, um sowohl ein gutes Bild als auch eine gute Tonqualität zu ermöglichen. Dass für eine gute Verständlichkeit eines Sprechers letztlich die Akustik des verwendeten Videokonferenzraums ebenfalls von Bedeutung ist, ist wohlbekannt.
Es bietet sich an, die vom EPA bereitgestellte Möglichkeit zum Testen sowohl der Hardware als auch der Verbindung für die Verhandlung frühzeitig wahrzunehmen, um sicherzugehen, dass am Tag der Verhandlung alle Systeme zuverlässig funktionieren.

Ablauf der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz
In dem üblichen Ablauf einer Verhandlung als Videokonferenz nimmt die Einspruchsabteilung – normalerweise der zweite Prüfer – vor der Eröffnung der Verhandlung zunächst die Personalien der Beteiligten auf. Dazu kann beispielsweise ein Vertreterausweis oder ein Personalausweis für die jeweils zu identifizierende Person in die Kamera gehalten werden.
Weiterhin übermittelt die Einspruchsabteilung eine ­E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer, unter denen die Einspruchsabteilung zu erreichen ist, an die Beteiligten. Es wird gleichzeitig auch die Übersendung der ­E-Mail-Adresse und einer Telefonnummer der jeweiligen Beteiligten von der Einspruchsabteilung angefordert, so dass im Fall von Verbindungsproblemen eine telefonische Kommunikation zwischen der jeweiligen Partei und der Einspruchsabteilung aufgebaut werden kann und Nachrichten per E-Mail ausgetauscht werden können.
Nach dem Austausch dieser Formalia und dem Sicherstellen, dass auch eine Notfallkommunikation stattfinden könnte, wird die Verhandlung dann ganz regulär durch den Vorsitzenden eröffnet und durchgeführt.
Dabei wird den Beteiligten – wie auch bei einer Verhandlung mit physischer Präsenz – nacheinander das Wort erteilt. Als einzige Besonderheit wird darum gebeten, dass alle Beteiligten, denen das Wort gerade nicht erteilt wurde, ihre Mikrofone ausschalten, um die Tonqualität zu verbessern.
Bis auf die obengenannten Besonderheiten nimmt die Verhandlung dann ihren gewohnten Verlauf.
In den Verhandlungsunterbrechungen schaltet die Einspruchsabteilung ihre Kameras und Mikrofone aus und zieht sich auf einen separaten, nicht öffentlichen Videokonferenzkanal zurück. Die Beteiligten können Kameras und Mikrofone ebenfalls ausschalten, aber die Videokonferenz der Verhandlung an sich bleibt bestehen, so dass eine schnelle Fortführung der Verhandlung durch einfaches Einschalten der Kameras und Mikrofone nach der Unterbrechung wieder möglich ist.
Die Verhandlung wird vom Vorsitzenden wieder aufgenommen, nachdem sichergestellt wurde, dass alle Beteiligten wieder anwesend sind und sich untereinander sehen und hören können.
Das Einreichen von Dokumenten wie beispielsweise neuen Anträgen, geänderten Beschreibungsseiten oder des Stands der Technik findet per E-Mail an die zu Beginn der Verhandlung festgelegte E-Mail-Adresse der Einspruchsabteilung statt. Falls die Beteiligten auch untereinander eine E-Mail-Adresse bekanntgegeben haben, können die neuen Dokumente gleich an alle Beteiligten übermittelt werden. Sollten diese E-Mail-Adressen nicht zur Verfügung stehen, verteilt die Einspruchsabteilung die eingegangenen Dokumente dann an die übrigen Beteiligten.
Die Verwendung von E-Mail zur Einreichung von neuen Dokumenten stellt dabei eine Abkehr von der sonstigen Übung des EPA dar, gemäß welcher E-Mail keine Möglichkeit der wirksamen Vornahme von Verfahrenshandlungen ist. Die Verwendung von E-Mail zur Einreichung von Dokumenten während der mündlichen Verhandlung ist gemäß den Beschlüssen des EPA zum Pilotprojekt nun aber explizit als (einzige) Möglichkeit der Einreichung vorgesehen.
Für zu unterzeichnende Unterlagen wie beispielsweise neue Anträge oder geänderte Beschreibungsseiten kann die Unterschrift auf die im Anhang enthaltenen Unterlagen oder aber auf die begleitende E-Mail gesetzt werden. Die Unterschrift kann eine Zeichenkette oder eine Faksimileunterschrift sein. Hier reicht eine E-Mail-Signatur aus, aus der sich Name und Stellung der jeweils die Unterlagen einreichenden Person eindeutig ergeben.
Neue Anträge und geänderte Beschreibungsseiten sind im PDF-Format als Anhang einer E-Mail einzureichen. Sonstige Dokumente können in jedem Format übermittelt werden, das vom EPA geöffnet und in lesbarer Form reproduziert werden kann. Nicht lesbare oder unvollständige Unterlagen gelten, wenn der Mangel nach einem Hinweis durch die Einspruchsabteilung nicht behoben wurde, als nicht eingegangen.
Um auch die Möglichkeit der Darstellung von Veranschaulichungen während der mündlichen Verhandlung zu geben, kann mit Zustimmung der Einspruchsabteilung auch der Bildschirm eines Beteiligten präsentiert werden. Eine solche Präsentation gilt nicht als eingereichte Unterlage. Dies entspricht der Möglichkeit eines Vortrags beispielsweise anhand eines Flip-Charts in einer Präsenzverhandlung.
Der übrige Verlauf der Verhandlung in ihrem Kern, also der Austausch von Argumenten zu den einzelnen Einspruchsgründen, bleibt erhalten und erfährt durch das Abhalten der Verhandlung als Videokonferenz keine Änderung.
Es hängt entsprechend weiterhin vom Umfang und der Komplexität des jeweiligen Falls und von der Verhandlungsführung durch den jeweiligen Vorsitzenden ab, wie effizient sich der Verlauf der Verhandlung gestaltet.

Erweiterung auf alle Typen von Einspruchsverfahren
Zu Beginn des Pilotprojekts stand als Plattform zur Durchführung der Verhandlungen in Form einer Videokonferenz nur „Skype for Business“ zur Verfügung, was faktisch zu einer technischen Beschränkung der Videokonferenzen auf Verfahren mit wenigen Beteiligten führte und vor allem die Verwendung von Dolmetschern nicht ermöglichte. Entsprechend konnte weiterhin eine größere Anzahl an mündlichen Verhandlungen nicht durchgeführt werden.
Durch die Einführung der Videokonferenzplattform „Zoom“ ist es im Pilotprojekt ab dem 14.09.2020 nun aber möglich, auch Videokonferenzen mit vielen Beteiligten und/oder Dolmetschern durchzuführen, so dass zumindest keine technische Begrenzung mehr für die Durchführung von Verhandlungen in Form einer Videokonferenz besteht.
Gleichzeitig hat das EPA in München und Den Haag eine Vielzahl von Dolmetscherarbeitsplätzen aufgebaut, mittels derer eine Simultanübersetzung der Verhandlungen unabhängig vom Sitz der Einspruchsabteilung durchgeführt werden kann.
Bei der Verwendung von Dolmetschern auf der Videoplattform „Zoom“ kann der gewünschte Sprachkanal für die Zielsprache ausgewählt werden. Das Umschalten zwischen bereits in der gewünschten Zielsprache vorgetragenen Beiträgen und dem Hören der gedolmetschten Beiträge in der Zielsprache geschieht automatisch. Mit anderen Worten ist nach dem einmaligen Wählen der Zielsprache keine weitere Interaktion mit der Plattform notwendig, so dass technische Ablenkungen während der Verhandlung vermieden werden können.
„Zoom“ ermöglicht es auch, den jeweiligen Originalbeitrag in einer geringen Lautstärke einzuspielen, so dass gleichzeitig der Originalbeitrag und der gedolmetschte Beitrag zu hören sind. Das entspricht im Wesentlichen dem Zustand, der durch Präsenzverhandlungen auch erreicht wird, da die Kopfhörer in den Verhandlungsräumen des EPA nicht vollständig abschließen und entsprechend der Originalbeitrag auch bei aufgesetztem Kopfhörer wahrnehmbar bleibt. Dabei kann in „Zoom“ die Lautstärke aller Beitragenden und auch der Dolmetscher automatisch angeglichen werden, so dass eine gute Verständlichkeit gegeben ist.
Die Dolmetscherfunktion für die jeweilige Zielsprache ist, wie in den Präsenzverfahren auch, doppelt besetzt, und die Dolmetscher wechseln sich in vorgegebenen Zeitintervallen ab. Damit unterscheidet sich in einer Verhandlung in Form einer Videokonferenz auch dieser Aspekt nicht von einer Verhandlung mit physischer Präsenz in den Räumen des EPA. Unserer bisherigen Erfahrung nach kann die Verständlichkeit – insbesondere durch die Möglichkeit, den Originalbeitrag abzuschalten, gegenüber einer Präsenzverhandlung sogar besser sein.

Verhandlungen als Videokonferenz werden ab 04.01.2021 obligatorisch
Im Pilotprojekt mit dem ersten Beschluss vom 14.04.2020 hatte es das EPA anfänglich ins Ermessen der Einspruchsabteilungen gestellt, Verhandlungen als Videokonferenz durchzuführen, wenn alle Beteiligten zustimmen.
Entsprechend konnte die Einspruchsabteilung dann, wenn eine Partei mit der Durchführung der Verhandlung in Form einer Videokonferenz nicht einverstanden war, diese lediglich auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Das hatte zur Folge, dass die Beteiligten über einen längeren Zeitraum hinweg im Unklaren darüber gelassen wurden, ob die Verhandlung tatsächlich stattfinden kann. Teilweise führte das auch zu kurzfristigen Absagen der Verhandlungen, weil eine Partei ihre Zustimmung zur Durchführung einer Verhandlung als Videokonferenz nicht erklärte oder kurzfristig zurückgezogen hat.

Mit anderen Worten wurden hier nur Verhandlungen als Videokonferenz durchgeführt, die sich technisch und rechtlich dafür eigneten und bei denen alle Beteiligten und auch die Einspruchsabteilung diesem Ansatz gegenüber prinzipiell offen waren. Skeptiker haben der Durchführung der Verhandlung als Videokonferenz eher nicht zugestimmt.
Mit dem Beschluss vom 10.11.2020 hat das EPA nun die Durchführung als Videokonferenz für alle mündlichen Verhandlungen zwischen dem 04.01.2021 und dem 15.09.2021 obligatorisch gemacht.
Das EPA stützte sich bei diesem Beschluss auch auf einen Bericht, der eine sehr positive Resonanz der Nutzer bescheinigte. Bei dieser Einschätzung muss aber berücksichtigt werden, dass die positive Resonanz nur von Verhandlungen in Form einer Videokonferenz prinzipiell offen gegenüberstehenden Nutzern gegeben wurde.
Der neue Beschluss war notwendig geworden, weil aus Sicht des EPA in zu wenigen Verfahren die Bereitschaft der Beteiligten zur Durchführung einer Verhandlung in Form einer Videokonferenz erklärt wurde und entsprechend die Verfahrensdauer und damit auch der Rückstau beim Abschluss der Verfahren generell zu stark anstieg.
Durch den neuen Ansatz wird Sicherheit geschaffen, und die mündlichen Verhandlungen werden nun in Form einer Videokonferenz tatsächlich zum festgelegten Termin durchgeführt. Nur bei Vorliegen eines ernsthaften Grundes kann eine als Videokonferenz angesetzte mündliche Verhandlung auf Antrag abgesagt werden und dann als Verhandlung in den Räumen des EPA durchgeführt werden. Was unter einem solchen ernsthaften Grund verstanden werden wird, bleibt abzuwarten. Vom EPA wurde hier allerdings bezüglich Verhandlungen als Videokonferenz im Erteilungsverfahren exemplarisch mitgeteilt, dass ein ernsthafter Grund beispielsweise dann vorliegt, wenn einer der Teilnehmer aus medizinischen Gründen nicht an einer Videokonferenz teilnehmen kann, beispielsweise weil eine Sehbehinderung vorliegt, welche ein Verfolgen der mündlichen Verhandlung auf einem Bildschirm unmöglich macht, oder wenn Anschauungsmaterial eingereicht wird, welches physisch oder haptisch untersucht werden muss. Inwiefern diese für das Erteilungsverfahren exemplarisch angegebenen ernsthaften Gründe auch für Einspruchsverfahren gelten, bleibt abzuwarten.
Entsprechend kann durch den neuen Ansatz erreicht werden, dass eine größere Anzahl an Fällen nun regulär per Verhandlung als Videokonferenz durchgeführt werden kann.

Beweisaufnahme
Im ersten Beschluss vom 14.04. 2020 zum Pilotprojekt war die Beweisaufnahme explizit von der Durchführung in Form einer Videokonferenz ausgeschlossen.
Im aktuellen Beschluss vom 10.11.2020 ist dieser Ausschluss nicht mehr enthalten, so dass eine Beweisaufnahme prinzipiell auch per Videokonferenz möglich scheint. In der begleitenden Mitteilung des EPA wird darauf hingewiesen, dass ein Verfahren zur Beweisaufnahme vorgeschlagen wurde und derzeit evaluiert wird. Es ist also zu erwarten, dass bald auch eine Beweisaufnahme im Rahmen einer Videokonferenz durchgeführt werden kann.

Öffentlichkeit
Mündliche Verhandlungen im Einspruchsverfahren sind öffentlich. Die Öffentlichkeit kann eine als Videokonferenz geführte Verhandlung über die Fernverbindung verfolgen. Die gewünschte Teilnahme muss spätestens drei Tage vor dem Verhandlungstermin unter Angabe des Aktenzeichens der Verhandlung, des Namens des Antrag­stellers und einer E-Mail-Adresse des Antragstellers beantragt werden, damit die Einwahldaten an den ­Antragsteller kommuniziert werden können.
Die Anzahl der teilnehmenden Mitglieder der Öffentlichkeit kann durch eine festgelegte Obergrenze beschränkt werden – dies unterscheidet sich faktisch nicht von der Sitzplatzbegrenzung bei einer physisch durchgeführten Verhandlung. Der Vorsitzende kann die Mitglieder der Öffentlichkeit dazu auffordern, ihre Kamera kurzzeitig einzuschalten, um deren Identität genauso festzustellen, wie dies bei einer physischen Anwesenheit in den Räumlichkeiten des EPA der Fall wäre. Ansonsten müssen Kamera und Mikrofon der Mitglieder der Öffentlichkeit während der gesamten Verhandlung ausgeschaltet bleiben.
Alternativ kann die Öffentlichkeit die als Videokonferenz geführte Verhandlung in einem entsprechenden Raum in den Räumlichkeiten des EPA verfolgen.

Objektive Vorteile
Neben der Tatsache, dass es mittels der Verhandlungen als Videokonferenz trotz der durch Covid-19 vorliegenden Kontakt- und Reisebeschränkungen möglich ist, Einspruchsverfahren in der ersten Instanz abzuschließen und dadurch einen Zugang zum Recht und zum rechtlichen Gehör zu erreichen, ohne dass eine erhöhte Infektionsgefahr besteht, sind zumindest die folgenden weiteren Vorteile erwähnenswert:
Der Wegfall von Reisen zum Verhandlungsort hilft, den Zeitaufwand zu reduzieren und Reisekosten einzusparen. Durch den Wegfall der sonst möglicherweise notwendigen Reisen ist beispielsweise die Schwelle für die Teilnahme von mehreren Vertretern oder Mitgliedern der Parteien an der Verhandlung gesunken, wodurch die Transparenz der Verfahren erhöht werden kann und von den Einspruchsabteilungen getroffene Entscheidungen durch die Parteien besser eingeordnet werden können. Auf diese Weise kann beispielsweise auch einfacher die Teilnahme von Mitgliedern von Parteien aus Übersee an den Verhandlungen ermöglicht werden.
Weiterhin ist es für die Öffentlichkeit einfacher, Verhandlungen zu verfolgen, da die Hürden für die Anreise wegfallen und die Verhandlung quasi aus dem Home-Office verfolgt werden kann. Dies ist hilfreich, um die Transparenz zu erhöhen.
Während der Videokonferenz können alle oder zumindest viele der Teilnehmer der mündlichen Verhandlung gleichzeitig auf dem Bildschirm beobachtet werden, was aufgrund des eingeschränkten menschlichen Blickwinkels in einer Präsenzverhandlung in den Räumlichkeiten des EPA normalerweise nicht möglich ist. Dies kann als vorteilhaft angesehen werden, da alle Reaktionen der Teilnehmer und der Einspruchsabteilung quasi gleichzeitig und auf einen Blick verfolgt werden können.
Nicht zuletzt hilft der Wegfall der Reisen zum Verhandlungsort auch, den CO₂-Fußabdruck der Einspruchsverfahren zu reduzieren.

Erfahrungen mit den durchgeführten Verhandlungen in Form einer Videokonferenz und sich daraus ergebende strategische Überlegungen
Wir haben in der Zwischenzeit eine Vielzahl von Verhandlungen als Videokonferenz sowohl im Prüfungsverfahren als auch im Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren durchgeführt, wobei auch mehrere Beteiligte involviert waren und der Einsatz von Dolmetschern notwendig war.
Als vorläufiges Resultat ist festzuhalten, dass die Durchführung von Verhandlungen als Videokonferenz prinzipiell als ein gutes Mittel angesehen werden kann, um den Zugang zum Recht aufrechtzuerhalten, die Verfahrensdauern im Rahmen zu halten und den regulären Betrieb auch in Pandemiezeiten zu gewährleisten.
Die von Kollegen geäußerten Bedenken bezüglich möglicher technischer Schwierigkeiten haben sich nicht bestätigt. Hier wird – neben der Stabilität und Geläufigkeit der eingesetzten Videokonferenzplattformen – vom EPA über die Organisation der mündlichen Verhandlung dahingehend, dass neben dem Videokanal auch noch mindestens zwei weitere Kommunikationskanäle bereitgestellt werden, nämlich E-Mail und Telefon, für den Fall des Zusammenbrechens der Videokonferenz sichergestellt, dass dennoch eine Notfallkommunikation mit der Einspruchsabteilung möglich ist, welche die Durchführung von Maßnahmen zur Wiederaufnahme der Verhandlung unterstützen kann.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich die zu Beginn des Pilotprojekts selten auftretenden Abbrüche der Videokonferenzen häufig auf einfache Internetverbindungs­probleme zurückführen ließen. Hier haben – wohl auch durch die Verbreitung von Videokonferenzen überhaupt – die Beteiligten schnell technisch nachgerüstet und Erfahrungen gesammelt, so dass in letzter Zeit zumindest bei den Verhandlungen mit unserer Beteiligung die Videokonferenzen bei allen Beteiligten im Wesentlichen stabil liefen.
Um im Fall eines Zusammenbruchs der eigenen Internetverbindung die Videokonferenz schnell wieder aufbauen zu können, bietet es sich dennoch an, einen alternativen Internetzugang bereitzuhalten – beispielsweise über eine Mobilfunkverbindung (LTE). Da die Videokonferenz im Prinzip auch über ein Tablet oder gar Smartphone abgehalten werden kann, sollte es in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle möglich sein, die Verhandlung dann durchzuführen.
Die von einigen Kollegen geäußerte Vermutung, dass bei einer Verhandlung als Videokonferenz bestimmte Nuancen verlorengehen oder bestimmte atmosphärische Vorgänge innerhalb des Verhandlungssaals nicht bemerkt werden könnten, wie beispielsweise eine bestimmte Mimik, stimmliche Modulationen oder die Körpersprache des Gegners oder der Mitglieder der Einspruchsabteilung, hat sich aus unserer Sicht teilweise bestätigt.
Es können zwar sämtliche Teilnehmer der Videokonferenz gleichzeitig auf einem Bildschirm dargestellt werden, so dass diese im Wesentlichen auf einen Blick erfassbar und damit zumindest die Mimik und Teile der Körpersprache gut erkennbar sind. Durch den gerichteten Blick der Kamera kann es jedoch zu Situationen kommen, in welchen beispielsweise zwei Vertreter gemeinsam für eine Partei auftreten, aber nur einer dieser beiden Vertreter im Bild sichtbar ist, weshalb es manchmal schwierig zuzuordnen ist, wer gerade spricht. Solche Situationen lassen sich aber technisch (Ausrichtung der Kamera) und durch eine entsprechende Abstimmung zwischen den Vertretern vermeiden.
Durch den gerichteten Blick der Kamera kann die Situation außerdem nicht vollständig überblickt werden, und insbesondere die Interaktionen der Mitglieder der Einspruchsabteilung untereinander kann nur schwer verfolgt werden.
Die Tatsache, dass auch die Gegenseite während der gesamten Verhandlung sichtbar bleibt, kann dazu führen, dass irritierende Regungen der Gegenseite wie beispielsweise vehementes Kopfschütteln, theatralische Armbewegungen oder (wegen des abgeschalteten Mikrofons nicht hörbare) Protestbekundungen den Vortrag des eigentlich vortragenden Vertreters irritieren oder stören. Inwieweit sich die Einspruchsabteilung hiervon mehr beeindrucken lässt als in einer Präsenzverhandlung, ist aufgrund der durch das zwischengeschaltete Medium geschaffenen Distanz nur schwer abzuschätzen.
Durch die Möglichkeit, das eigene Mikrofon abzuschalten, können Beteiligte einer Partei auch während der mündlichen Verhandlung miteinander diskutieren, was bei einer Präsenzverhandlung in diesem Umfang ohne Störungen nicht möglich wäre.
Durch die Distanzierung über das zwischengeschaltete Medium ist weiterhin zu beobachten, dass die üblicherweise angedachten Gesprächsregeln nicht zwangsläufig eingehalten werden. So kann das Gefühl, sich in einem geschützten Raum, entfernt von der Einspruchsabteilung, zu befinden, dazu führen, dass bestimmte Regungen und Reaktionen heftiger ausfallen, als dies bei einer physischen Anwesenheit der Fall wäre.
Durch die Distanzierung über das zwischengeschaltete Medium ist des Weiteren auch eine Distanzierung der Einspruchsabteilung zu befürchten, welche dazu führen kann, dass sich die Einspruchsabteilung nicht mehr so offen den Argumenten der Beteiligten gegenüber verhält, sondern lieber auf der bereits mit der Ladung kommunizierten Meinung beharrt.
Hieraus lässt sich für das erfolgreiche Bestreiten von Einspruchsverhandlungen eine gegenüber Präsenzverhandlungen leicht angepasste Dramaturgie ableiten, welche zumindest die obengenannten Punkte berücksichtigt und für jeden Beteiligten eine individuelle Balance zwischen der gefühlten Distanz durch das zwischengeschaltete Medium „Videokonferenz“ und der gleichzeitigen Präsenz aller Beteiligten auf einem Bildschirm sucht.
Es bleibt abzuwarten, wie die Einspruchsabteilungen und die Nutzer des Systems das Pilotprojekt bewerten werden, nachdem zumindest zwischen dem 04.01.2021 und dem 15.09.2021 die Durchführung als Videokonferenz für alle mündlichen Verhandlungen obligatorisch gemacht wurde.

philipp.nordmeyer@df-mp.com

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