Bezeichnend, dass die fourword-Redaktion einen Nicht-Juristen gebeten hat, eine „Top-5“-Trend-Watchlist für 2023 zu erstellen. Dementsprechend kann es nicht überraschen, dass der Fokus auf Themen der Organisation, Transformation und Führung liegt – und juristische Themen ausnahmsweise hintenan stehen. Gleichermaßen wird es kaum überraschen, dass die Coronapandemie auch in 2023 noch weiter ihre Schatten werfen wird. Allerdings tut sie dies nunmehr (hoffentlich) in wesentlich proaktiveren strategischen Fragestellungen und (hoffentlich) weniger im Krisenmodus.
(1) Kanzleikultur(kampf)
Eine meiner Lieblingsfragen während der Pandemie und des erzwungenen Homeoffices war: Woran erkennen Mandanten, dass sie mit Ihrer Kanzlei zusammenarbeiten, wenn alle Gespräche über Zoom vom heimischen Wohnzimmer aus geführt werden? – Zum Glück hatten dann alle schnell einen virtuellen Zoom-Hintergrund mit Kanzleilogo als Gedächtnisstütze. Die Kernfrage wird aber nach der Rückkehr ins Büro und der Einführung flexibler Arbeitsformen nur noch akuter: Wie leben Kanzleien ihre Kultur, schaffen eine gemeinsame Identität und differenzieren sich dadurch am Markt – sowohl in den Augen der Mandantschaft als auch in denen der Bewerber?
(2) Managing Partner
Managing Partner – und zwar nicht als bloßer Titel, sondern als Tätigkeit: Partner müssen mehr managen, Tag für Tag und in alle Richtungen. Vor allem dort, wo sich Kanzleien durch neue Kulturen und das „next normal“ der Arbeit definieren, kommt auf Partner wesentlich mehr Managementarbeit zu. Wer flexiblere Arbeitszeiten anbietet, muss sicherstellen, dass Arbeitsprozesse verlässlich verzahnt sind. Wenn im Homeoffice gearbeitet wird, müssen Teammeetings und Get-togethers langfristiger geplant werden. All dies mag in der jüngsten Zeit schon zur Routine geworden sein. Jetzt ist es an der Zeit, diese Koordination technisch zu unterstützen, so wie agile Organisationsformen (etwa in der Softwareentwicklung) dies schon lange tun.
(3) Service-Transformation
Digital-Transformation und Legal-Tech sind so 2022! – 2023 muss das Jahr der Integration werden. Wie können Kanzleien ihre reichen Datenschätze für breitere Beratungsdienstleistungen nutzen? Wie können Krisen vermieden und Dispute effizienter gelöst werden aufgrund verfügbarer Daten? Im Resultat werden die Transformationen der nächsten Jahre noch tiefgreifender? Dies wird auch Mandantenbeziehungen auf den Prüfstand stellen – oder auf neue Fundamente. „Co-Creation” ist das Buzzword und wenn Kanzleien nicht gemeinsam mit Mandanten und Tech-Providern in Innovation investieren, laufen sie Gefahr, „am Markt vorbei“ zu investieren. Integration bedeutet auch, dass Mensch und Maschine enger verzahnt arbeiten. Statt künstlicher Intelligenz (KI), die anwaltliche Arbeit übernimmt, ist das Stichwort „gesteigerte Intelligenz“: Algorithmen unterstützen die anwaltliche Arbeit wertschöpfend.
(4) Ausbildung als Retention-Investment
Dass Großkanzleien zur Vermittlung von Managementwissen und zur Führungskräfteentwicklung auf externe Anbieter wie Business-Schools zurückgreifen, ist nicht wirklich neu – und wird vermutlich so bleiben, so lange diese Themen nicht Teil des juristischen Kerncurriculums werden. Die Teilnehmer solcher Fortbildungen verjüngen sich jedoch deutlich. Waren solche Fortbildungen vor einigen Jahren noch das Privileg neugewählter Partner, sind in den letzten fünf Jahren zunehmend künftige Partner weitergebildet worden. 2023 werden schon Mid-level-Associates für Führungskräfteprogramme ausgewählt – und der Schwerpunkt verschiebt sich gewaltig! Es geht weniger um die Entwicklung zukünftiger Partner, sondern zukünftiger Mandanten. Einige Kanzleien erwarten ausdrücklich, dass immer weniger ihrer Associates Partner werden wollen. Inhouse-„Mini-MBAs“ sind zuerst ein Retention-Tool, um diese Kandidaten länger an die Kanzlei zu binden, und dann ein Relationship-Tool, sollte man sie an ein Inhouse-Department „verlieren“. Solch aktives „Outplacement“, durch das Aussteiger zu Kunden werden, ist seit Jahren das Erfolgsrezept der Unternehmensberater – und bald der Anwälte?
(5) ESG als Kerngeschäft
Pro-bono-Arbeit ist seit jeher Bestandteil anwaltlicher Arbeit. Allerdings – wie der Name suggeriert – streng von der einkommensgenerierenden Arbeit getrennt. Diese Grenzen verschwimmen zunehmend auf der Suche nach einer ausgewogeneren Balance von Profit und „Purpose“ – der Suche nach sowohl sinnstiftender als auch gewinnbringender Arbeit. 2023 charakterisiert diese Suche nicht nur die Arbeit mit Mandanten, sondern auch die interne Organisation und Führung, die Aspekte von Environment, Social und Governance (ESG) holistischer reflektieren. Wenn Unternehmen, Investoren und politische Entscheider zunehmend ihren eigenen sozialen Impact und den ihrer Stakeholder ins Auge fassen, erwarten sie, dass ihre juristischen Berater nicht nur Antworten auf die wichtigsten Fragen haben, sondern sich selbst auch an diesen neuen Standards messen lassen.
Wenn Sie bereit sind, Ihre Kanzleikultur positiv zu beeinflussen, proaktiv das „next normal“ der Arbeit zu managen, Service-Transformation proaktiv zu gestalten, Ihre Talente durch Ausbildung zu binden und ESG-Kriterien in Ihr Kerngeschäft aufzunehmen, dann wird es ein gutes neues Jahr 2023!