Standortbestimmung und Positionierung

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Unser Leben ist um zwei Buzz-Wörter reicher ­geworden: „Nachhaltigkeit“ und als Ausfluss ­dessen „ESG“ (Environmental, Social and ­Governance). Nun, das Thema Nachhaltigkeit ist ­bekanntlich nicht gerade neu, wenn man zum Beispiel an den Ende der 1960er Jahre gegründeten Club of Rome denkt. Auch das Thema Governance sollte kein Kopf­zerbrechen mehr ­bereiten. Dieses wird schon seit Jahren intensiv bearbeitet und weist keinen eigentlichen Neuigkeits­gehalt mehr auf. Anders sieht es jedoch für die beiden weiteren Bereiche aus. In der Vergangenheit waren die Themen ­Umwelt und Soziales nicht wirklich sichtbar, und wenn doch, wirkten sie für die Wirtschaft nicht ­besonders bedrohlich.

Das hat sich heute schlagartig geändert. Das Thema Umwelt hat – beschleunigt durch die Klimadebatte und angefeuert durch die „Fridays for Future“-Bewegung und die Coronapandemie – rasant Fahrt aufgenommen, wird branchenübergreifend wahrgenommen, ist für einige Marktteilnehmer schon schmerzhaft geworden und hat mit Nachdruck einen realen Anstrich erhalten. Demgegenüber hat das Thema Soziales diesen Status zwar noch nicht ganz erreicht, weil der Fokus noch immer sehr stark auf dem „E“ liegt, es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis auch das „S“ weiter an Sichtbarkeit, Relevanz und Durchschlagskraft aufholen wird.

Im Westen nichts Neues

Für Rechtsabteilungen bedeutet das, ein paar weitere Bälle gleichzeitig in der Luft jonglieren zu müssen. Und dies trotz Störungen von verschiedenen Seiten: zum Beispiel durch Kunden, Lieferanten, Regulatoren, Investoren, Aktionäre und Medien. Für Anwaltskanzleien scheint die Gleichung vordergründig einfacher zu sein: Neue gesetzliche Vorgaben bedeuten einen erhöhten Bedarf an Rechtsberatung. Aber nun zu glauben, man könne den eigenen Newsletter entlang der eigenen Spezialisierung einfach mit dem Suffix ESG versehen (etwa Kartellrecht und ESG, M&A und ESG), ist in der Eile zwar nachvollziehbar, scheint mir aber doch zu kurz gegriffen. Kundenverständnis und damit auch Kundenorientierung gehen anders.

Dass die Juristen die rechtlichen Rahmenbedingungen rund um ESG kennen, wird vom Kunden schlicht vorausgesetzt. Damit gewinnt man heute keinen Blumentopf mehr, sprich: Das taugt nicht wirklich als ausreichendes Differerenzierungsmerkmal im Wettbewerb (oder ­Neudeutsch: USP). Die Frage für Anwälte ist deshalb vielmehr, wer sich – aus Sicht der Kunden – in diesen Themen richtig positionieren kann und dann dort auch erfolgreich bleiben wird. Es stellt sich dabei auch die Frage, ob das Thema Nachhaltigkeit und ESG für Rechtsdienstleister zu einem neuen Eldorado werden könnte, das sie – gleich einem magischen Füllhorn – mit ständig neuen Manda(n)ten versorgen und die Auftragsbücher laufend füllen beziehungsweise die Wichtigkeit der Rechtsabteilung unterstreichen wird.

Nachhaltigkeitsstrategie oder nachhaltige Geschäftsstrategie?

Aber wo gehört das Thema Nachhaltigkeit im Unternehmen überhaupt hin? Um diese Frage zu adressieren, braucht es zunächst einen Blick zurück, um das neue „Biest“ richtig verorten zu können. Eine Möglichkeit, dies geordnet zu tun, besteht darin, sich den allgemeinen Strategieentwicklungsprozess vor Augen zu führen, der übrigens nicht nur für das Business, sondern auch auf Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen anwendbar ist. Zunächst geht es bei diesem Vorgehen um die Klärung der Frage, welche Werte ein Unternehmen ganz allgemein bei seinen Aktivitäten vertritt, nach innen wirklich lebt und nach außen authentisch kommuniziert. Die Antwort darauf steuert nicht nur dessen sogenannte Mission und Vision, sondern auch die daraus abgeleiteten Ziele. Hier spielt auch das neudeutsche Wort „Purpose“ mit hinein, das – insbesondere im Zusammenhang mit einem gerade heißlaufenden Rekrutierungsmarkt vor allem für sogenannte Talente (Stichwort: Great Resignation) – auch in Bezug zur eigenen Belegschaft gedacht werden muss. Das Ergebnis davon wiederum bestimmt dann, welche Produkte und Dienstleistungen ein Unternehmen für welche Kundensegmente anbieten will. Hier wird es gleich doppelt schwierig, weil nicht nur gewisse Produkte oder Materialien über Nacht auf dem Nachhaltigkeitsindex gelandet sind, sondern überdies auch die Kunden einen Wertewandel durchgemacht und ihre Erwartungen geändert haben. Der nächste Schritt widmet sich der Umsetzung der einmal definierten strategischen Ziele. Hier spielen auch organisatorische Fragen eine Rolle („Form follows Strategy“), etwa: Richtet man eine spezialisierte Rolle oder einen eigenen Governance-Body ein (z.B. Chief Sustainability Officer oder ein ESG-Komitee)? Wieviel Ressourcen will man dafür bereitstellen, und wie erfolgt das Reporting nach innen und außen? Als letzter Schritt kommt schließlich noch das Controlling, mit dem man prüft, ob man überhaupt noch auf Kurs ist. Wie misst man die Zielerreichung in Sachen Nachhaltigkeit (Stichwort: KPIs), und welches Rating wird gewählt?

Schließlich sollte man sich fragen, ob es sinnvoll ist, nur eine im Unternehmen irgendwie oder irgendwo „isolierte“ Nachhaltigkeitsstrategie zu verfolgen. Wäre es nicht vielmehr zielführender, Nachhaltigkeit als integrierte und Querschnittsaufgabe zu verstehen und eine nachhaltige Geschäftsstrategie zu verfolgen?

Mangel an Sensibilisierung bei Juristen?

Dieser Ausflug in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre war wichtig, weil ein Rechtsrat – zumindest aus Sicht des Kunden – nicht besonders werthaltig ist, wenn er „nur“ juristisch korrekt ist, das heißt, wenn er isoliert erteilt wird. Er sollte für den Kunden auch nützlich sein, was er erst dann wird, wenn er gleichzeitig auch die konkreten unternehmerischen und branchenspezifischen Rahmenbedingungen des Kunden mitberücksichtigt. Und zu diesen gehören neuerdings eben auch Fragen zur Nachhaltigkeit.

Wird das nicht berücksichtigt, kann eine selektive juristische Bearbeitung einer Rechtsfrage in limitierten Rechtsauskünften enden. Das zeigt beispielhaft die Antwort einer Anwältin, die ich kürzlich auf die Relevanz von ESG für Anwälte angesprochen hatte: „Das Ganze ist für uns Kanzleien etwas übertrieben. ESG ist für uns Kanzleien nicht relevant. Wir sind ein Rechtsdienstleister und müssen dem Klienten helfen, seine Transaktionen rechtlich gut durchzuführen.“ Das mag aus Sicht der Anwälte passen, aber es reicht dem Kunden nicht. Denn gerade in den ­Fragen zur Nachhaltigkeit zeigt sich, dass nicht alles, was legal ist, auch legitim sein muss, und dass das, was zwar heute noch als legal und legitim gilt, es in fünf Jahren nicht mehr sein muss. Diese Fragen werden in der Wertediskussion für Unternehmen in Sachen Reputation überlebenswichtig werden, wie Renata Jungo Brüngger, Vorstandsmitglied der Mercedes-Benz Group AG, kürzlich hierzu in einem Interview erklärte: „Nachhaltigkeit ist kein PR-Feigenblatt und kein ‚Nice to have‘, sondern die Voraussetzung, um langfristig die ‚Licence to Operate‘ zu sichern.“ (vgl. ESG, Zeitschrift für nachhaltige Unternehmensführung, 1/2022).

Es stellt sich deshalb die ernstgemeinte Frage, wie Rechtsdienstleister bei solchen für Kunden schwierigen und nicht lediglich juristischen Fragestellungen und Entscheidungen diesen ein wertvoller Sparringspartner sein können und wollen. Man kann sich natürlich in die juristische Ecke ­zurückziehen, seinen altbewährten Fachbereich neu mit ESG-Spin anbieten, mit ESG-Litigation drohen und darauf hinweisen, dass wie immer am Ende schließlich das „Business entscheiden muss“. Die Gefahr eines solchen Ansatzes ist, dass man mit einem solchen Angebot als Rechtsdienstleister vergleichbar und damit leichter austauschbar wird. Es ist unnötig, darauf hinzuweisen, dass es im Rechtsmarkt bestimmt genügend Anbieter gibt, die bereit sind, in die sich öffnende Lücke zu springen. Dabei handelt es sich vor allem um Anbieter, die Risikomanagement und die ­Unterstützung des Kunden bei seinen schwierigen Entscheidungsfindungen anders verstehen. Wer sich also schon in der Vergangenheit nicht so umfassend für den Kunden und sein Umfeld interessierte, um eine punktgenauere Rechtsberatung zu erbringen, wird auch heute Gefahr ­laufen, aus diesem Grund vernachlässigt zu werden. Denn das Thema Nachhaltigkeit verlangt noch viel stärker, die Kunden und ihre komplexen Wertschöpfungsketten besser zu verstehen, um seinen eigenen Rechtsrat nützlicher einpflegen zu können.

Rechtsabteilung im Besonderen

Größere Unternehmen besitzen eine eigene Rechtsabteilung. Zur Klärung von deren Rolle und der konkreten Erwartungen des C- und B-Levels an die Rechtsabteilung kann es oft hilfreich sein, das „Three Lines of Defence“-Modell zu Hilfe zu nehmen. Je nachdem, wie stark sich ein General Counsel involvieren will oder darf, wird er sich eher als in der ersten oder zweiten Linie verstehen und entsprechend handeln. Diese Information ist übrigens auch für externe Kanzleien nützlich, um zu verstehen, welche Form von Rechtsrat gewünscht wird. Es ist überraschend zu sehen, wie oft sich Juristen diese Frage nicht stellen.

Es lohnt sich deshalb, gerade auch bei der Frage zur Nachhaltigkeit zu überlegen, ob, in welchem Ausmaß und wo in einem Unternehmen Fragen zu den Werten, zur Ethik und zu ESG funktionsmäßig verortet sind und welche Rolle insbesondere die Rechtsabteilung dabei spielen soll. Sollte sie Teil des Teams sein, als Geburtshelfer wirken oder die ESG-Initiative sogar aktiv vorantreiben? Gerade diese Fragen werden jene Juristen an ihre Grenzen bringen, die lediglich reine Rechtsauskünfte erteilen und sich nicht aus ihrer Komfortzone bewegen wollen. Denn bei ESG gibt es noch keine umfassenden oder bewährten Informationen, auf die man sich stützen könnte. Gerade bei solchen neuen Fragen muss man bereit sein, sich in einem komplexen Umfeld zu bewegen und die damit zusammenhängenden Unsicherheiten auszuhalten (Stichwort: Resilienz).

Abhängigkeitskette

Die gegenwärtige Wertediskussion bewegt sich langsam, aber stetig wie eine Lavamasse weiter. Zunächst standen nur die „schmutzigen Unternehmen“ im Zentrum (zum Beispiel für „E“ die Rohstoff- und die Autoindustrie und für „S“ die Textilindustrie). Dann gelangten die Zulieferer in den Fokus, so etwa die Banken und deren Kreditgewährungspraxis (nota bene, auch wenn deren Geschäft aus betriebswirtschaftlicher Sicht kein Problem darstellte). Damit zusammenhängend, kamen auch die Vermögensverwalter an die Reihe, die keine Investitionen und Anlagen mehr in „schmutzige“ Unternehmen tätigen durften. Vergessen ging bei Letzteren, dass dies über die Pensionskassen und Lebensversicherungen letzten Endes oft alle (be)trifft.

Und nun also auch die Anwaltskanzleien, die sich fragen müssen: Werden ehemalige oder gegenwärtige Kunden plötzlich zum Unternehmensrisiko? Bisher konnten sich Kanzleien noch darauf berufen, dass sie „neutral“ seien und jeder schließlich Anspruch auf eine unabhängige Rechts­beratung habe. Vermehrt stellt sich nun im Zusammenhang mit der Wertedebatte die Frage, ob sie überhaupt noch ­jeden Klienten vertreten dürfen, weil dies in Bezug auf die Reputation nach außen und innen erklärungsbedürftig werden könnte. Anwaltskanzleien sind im Zuge des Ukraine/Russland-Konflikts auch aus Moskau abgezogen, zum Schutz ihrer Mitarbeiter und der eigenen Reputation. Ganz so einfach wie in der Vergangenheit könnte es also für Kanzleien auch in diesem Bereich nicht bleiben, weil gerade die Wertediskussion gezeigt hat, welchen unberechenbaren Hebel Werte haben und plötzlich entwickeln können.

Perspektivenwechsel

Bisher wurde bewusst der Blick nur vom Rechtsdienstleister auf den Kunden gerichtet. Jede Kanzlei und jede Rechtsabteilung stellt aber auch eine unternehmerische Einheit dar, von der ebenso die Übernahme der unternehmerischen Verantwortung in Sachen Nachhaltigkeit verlangt wird. Anderenfalls wird es künftig schwierig werden, noch als attraktiver Arbeitgeber und Dienstleister wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Alle Mitarbeiter und Kunden sind Menschen mit eigenen Wertvorstellungen, die sie beim Geschäftspartner oder Vorgesetzten irgendwie reflektiert sehen wollen. Ist dies nicht der Fall, wird kein Match stattfinden – es wird später zum Bruch kommen. Man kann das aus subjektiver Sicht als übertrieben ansehen. Aus Sicht des Risikomanagements ist es das aber nicht. Die Reputation gerade auch in Sachen Nachhaltigkeit ist zu einem wichtigen Baustein geworden, der nicht vernachlässigt werden darf.

Was kommt noch?

Den Themen Nachhaltigkeit und ESG wird prophezeit, kein bloßer Hype zu sein, also ein singulärer Anlass, der eine temporäre „Welle oberflächlicher Begeisterung“ (Duden) auslöst, sondern hier zu sein, um zu bleiben. Was heute überdies überrascht, ist, wie plötzlich und wie heftig die Thematik in der Breite präsent geworden ist. Viele sind förmlich überrumpelt worden, einiges ist noch unbestimmt und nicht etabliert, anderes noch im Fluss und im Aufbau begriffen. Für First Mover und unternehmerisch denkende Juristen bilden aber gerade solche Situationen den perfekten Nährboden, um sich gegenüber der Konkurrenz positiv abgrenzen sowie sichtbar und – man erlaube mir in diesem Zusammenhang ausnahmsweise den bereits inflationär gebrauchten Begriff – nachhaltig positionieren zu können.

Plötzlich wird nun alles „grün“ (zum Beispiel Green Finance und Green Tech). Deshalb frage ich mich: Kommt irgendwann auch Green Legal, und wenn ja, was bedeutet das dann?

Ich freue mich darauf zu beobachten, wie sich der Rechtsmarkt in Sachen Nachhaltigkeit weiter entwickeln wird – sowohl nach innen als auch gegenüber den Kunden.

 

bruno.mascello@unisg.ch

 

Hinweis der Redaktion:
Prof. Dr. Bruno Mascello ist Mitglied des Scientific Board des BWD. (tw)

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