Infolge der beiden großen Coronalockdowns vom Frühjahr 2020 sowie vom Herbst 2020 bis zum Frühjahr 2021 hat die Betriebsschließungsversicherung als ein bis dahin wenig beachteter Zweig der gewerblichen Versicherungen neue Bedeutung erlangt. Insbesondere für Betreiber von Hotels und Gaststätten stellte sich die Frage, ob ihnen für die staatlich angeordneten Schließungszeiträume Leistungen aus ihren Betriebsschließungsversicherungen zustanden. Wer die von Teilen der Politik und der Versicherungswirtschaft favorisierte „Bayerische Lösung“, ohne weitere Rechtsstreitigkeiten im Vergleichswege umgehend 15% der vereinbarten Versicherungssumme ausgezahlt zu bekommen, nicht akzeptieren wollte, musste auf eine höchstrichterliche Klärung dieser Frage länger warten.
Inzwischen hat der Bundesgerichtshof mit einer Entscheidung vom Januar 2022 (BGH, Urteil vom 26.01.2022 – IV ZR 144/21, BGHZ 232, 344) und einer weiteren vom Januar 2023 (BGH, Urteil vom 18.01.2023 – IV ZR 465/21) die klassische Juristenantwort gegeben: „Es kommt drauf an.“
Inhalt der Versicherungsbedingungen
Die in Betriebsschließungsversicherungen verwendeten Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) basieren auf – vor der Coronazeit ob ihrer geringen Relevanz nur stiefmütterlich gepflegten – Musterbedingungen des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV). Versichert ist danach das Risiko, dass die zuständige Behörde aufgrund des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger den Betrieb schließt. Näher definiert werden diese meldepflichtigen Krankheiten und Krankheitserreger in den AVB auf unterschiedliche Weise.
In zahlreichen AVB („Katalog-AVB“) heißt es dazu:
„Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Zusatzbedingungen sind die folgenden, im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger:“
Es folgen dann zwei lange Kataloge von Krankheiten und Krankheitserregern. In einer weiteren Klausel werden regelmäßig Prionenerkrankungen vom Versicherungsschutz ausgenommen.
Andere AVB („kataloglose AVB“) enthalten keine Kataloge von Krankheiten und Krankheitserregern und die zur Definition verwendete Klausel lautet lediglich:
„Meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieser Bedingungen sind die im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger, ausgenommen sind jedoch humane spongiforme Enzephalopathien nach § 6 (1) 1. d) IfSG.“
Inhalt des Infektionsschutzgesetzes
Das Infektionsschutzgesetz enthält in den § 6, § 7 IfSG neben umfangreichen Katalogen auch Auffangtatbestände für nicht ausdrücklich genannte Krankheiten und Krankheitserreger. Zudem kann bei einer epidemischen Lage das Bundesgesundheitsministerium den Kreis meldepflichtiger Krankheiten und Krankheitserreger durch eine Rechtsverordnung nach § 15 IfSG erweitern. Mit einer solchen Rechtsverordnung wurden zum 01.02.2020 die Meldepflichten auf COVID-19 und auf SARS-CoV-2 ausgedehnt. Zum 23.05.2020 hat der Bundesgesetzgeber COVID-19 und SARS-CoV-2 in die Kataloge der § 6, § 7 IfSG aufgenommen.
Auslegung der Versicherungsbedingungen durch den Bundesgerichtshof
In seinen beiden Hauptentscheidungen zu Betriebsschließungsversicherungen hat der BGH zunächst wichtige Einzelfragen im Sinne der Versicherungsnehmer geklärt (kein Erfordernis einer betriebsinternen Gefahr; Irrelevanz der Rechtmäßigkeit der staatlichen Schließungsanordnung; weites Verständnis des Begriffs der Behörde und Erfassung von Betriebsschließungen aufgrund von Allgemeinverfügungen und Rechtsverordnungen). Zur zentralen Frage der Einbeziehung von COVID-19 und SARS-CoV-2 in den Versicherungsschutz hat der BGH zunächst bekräftigt, dass AVB so auszulegen sind, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht.
Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind.
In Anwendung dieser Grundsätze hat der BGH angenommen, dass die in Katalog-AVB enthaltenen Kataloge von Krankheiten und Krankheitserregern abschließend seien. Der Verweis auf § 6, § 7 IfSG erläutere nur die Herkunft dieser Kataloge, führe aber zu keiner Erweiterung des Versicherungsschutzes über die Kataloginhalte hinaus. Auch Sinn und Zweck der Regelung geböten kein anderes Verständnis, zumal die Abdeckung auch erst künftig entstehender Krankheiten und Krankheitserreger dem Versicherer eine sachgerechte Prämienkalkulation unmöglich mache. AGB-rechtlich sei die Beschränkung des Versicherungsschutzes auf die ausdrücklich genannten Krankheiten und Krankheitserreger nicht zu beanstanden. Bei AVB mit Katalogen der versicherten Krankheiten und Krankheitserreger seien die Coronalockdowns daher nicht vom Versicherungsschutz umfasst.
Hingegen könne bei kataloglosen AVB der Verweis auf § 6, § 7 IfSG zwar einerseits als statischer Verweis auf den Inhalt jener Normen im Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags verstanden werden. Andererseits könne die Klausel aber auch als dynamischer Verweis auf den im Zeitpunkt der Betriebsschließung maßgeblichen Gesetzesstand ausgelegt werden. Angesichts der fehlenden Eindeutigkeit habe nach der Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB die letztgenannte als für den Versicherungsnehmer günstigere Auslegungsmöglichkeit zu gelten. Der Verweis erfasse allerdings nur die im Gesetz namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger, sodass weder die Auffangtatbestände jener Normen noch eine Rechtsverordnung nach § 15 IfSG zu einer Erweiterung des Versicherungsschutzes führen könnten. Bei kataloglosen AVB stelle folglich der vor Änderung der § 6, § 7 IfSG zum 23.05.2020 verordnete erste Coronalockdown keinen Versicherungsfall dar, wohl aber seien Betriebsschließungen im Rahmen des zweiten Coronalockdowns vom Versicherungsschutz umfasst.
Kritik der höchstrichterlichen Rechtsprechung
Diese höchstrichterliche Rechtsprechung mit ihrer restriktiven Auslegung von Katalog-AVB vermag nicht in vollem Umfang zu überzeugen. Zwar scheint der Wortlaut von Katalog-AVB auf den ersten Blick klar zu sein, auf den zweiten Blick erweisen sich indessen auch die Argumente für einen nicht abschließenden Charakter der AVB-Kataloge als durchaus gewichtig. So ist kaum nachzuvollziehen, weshalb in diesen AVB an späterer Stelle ein Ausschluss von Prionenerkrankungen formuliert wird, wenn der Umfang des Versicherungsschutzes ohnehin abschließend durch die zuvor dort enthaltenen Kataloge bestimmt sein sollte. Auch leuchtet es nicht recht ein, warum der auch in diese AVB aufgenommenen ausdrücklichen Bezugnahme auf die § 6, § 7 IfSG letztlich jede Relevanz aberkannt werden soll. Das vom BGH angeführte Preisargument, wonach eine Begrenzung des versicherten Risikos zu einer niedrigeren Prämienhöhe führe und daher auch im Interesse der Versicherungsnehmer liege, steht zudem in Widerspruch zu sonstigen AGB-rechtlichen Entscheidungen.
Nicht ganz konsistent sind weiterhin die höchstrichterlichen Ausführungen zur Kalkulierbarkeit des Risikos. Während der BGH in seiner Entscheidung vom Januar 2022 bei Übernahme der Haftung für den künftigen Inhalt der § 6, § 7 IfSG eine sachgerechte Prämienkalkulation als unmöglich erachtet hat, hat er im Januar 2023 auch die Annahme eines dynamischen Verweises auf den jeweiligen Inhalt der § 6, § 7 IfSG für berechtigt gehalten.
Selbst wenn man mit dem BGH die Bejahung des abschließenden Charakters von AVB-Katalogen als vorzugswürdig ansehen wollte, ist die entscheidende Frage doch, ob auch bei Katalog-AVB die Annahme eines dynamischen Verweises auf den jeweiligen Inhalt der § 6, § 7 IfSG zumindest vertretbar ist. Sofern man diese Frage – was geboten erscheint – bejaht, greift zugunsten der Versicherungsnehmer die AGB-rechtliche Unklarheitenregelung des § 305c Abs. 2 BGB und hilfsweise die Transparenzschranke des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB. Vor dem Hintergrund, dass die Versicherer ihrer Verantwortung für eine möglichst klare und verständliche Formulierung ihrer AVB ersichtlich nur unzureichend nachgekommen sind, wirkt es doch recht hart, wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung durchschnittlichen, um Verständnis bemühten Betriebsschließungsversicherungsnehmern bei Katalog-AVB die Befugnis abspricht, auch diesen AVB einen dynamischen Verweis auf § 6, § 7 IfSG zu entnehmen.
Fazit
Ungeachtet der möglichen inhaltlichen Kritik daran ist es zu begrüßen, dass die Frage, ob Betriebsschließungsversicherungen bei den Coronalockdowns der letzten Jahre greifen, knapp drei Jahre nach dem ersten Coronalockdown im Sinne eines „Es kommt drauf an“ höchstrichterlich weitgehend geklärt ist: Waren die versicherten Krankheiten und Krankheitserreger in Katalog-AVB im Einzelnen aufgelistet, ist dies als abschließend zu verstehen und es ist keine Versicherungsleistung geschuldet. Ist hingegen in kataloglosen AVB für die versicherten Krankheiten und Krankheitserreger lediglich auf § 6, § 7 IfSG verwiesen worden, stellt dies einen dynamischen Verweis dar, sodass coronabedingte Betriebsschließungen nach dem 23.05.2020 vom Versicherungsschutz umfasst sind.
Je nach konkretem Inhalt der AVB wäre es für die Versicherungsnehmer sinnvoller gewesen, auf die „Bayerische Lösung“ einzugehen und 15% der Versicherungssumme zu erhalten. Wie stets bei Vergleichen angesichts noch ungeklärter Rechtslage gilt hier die weitere Binsenweisheit: „Hinterher ist man schlauer.“
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