Die neue Sammelklage für Verbraucher: Eine scharfe Waffe mit wenigen Vorgaben für ihre Konstrukteure. Die nationalen Gesetzgeber sind gefordert.

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Mit Ende 2022 ist Verbrauchern EU-weit ein kollektiver Rechtsschutz zur Verfügung zu stellen. Für den österreichischen Gesetzgeber bedeutet dies eine gewaltige Herausforderung, sind doch alle bisherigen Versuche, kollektiven Rechtsschutz zu implementieren, kläglich gescheitert. Hinter dem Unvermögen steht die Sorge der Industrie vor rechtsmissbräuchlichen Klagen.
Die neue Richtlinie (EU-Richtlinie 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher) lässt den Mitgliedstaaten für die konkrete Ausgestaltung viel Spielraum. Viele Fragen sind offen. Dazu zählen selbst so zentrale Fragen, wie i) ob die Zugehörigkeit zur betroffenen Gruppe durch „Opt-in“ oder „Opt-out“ gelöst wird oder ii) wie groß eine „Gruppe“ sein muss und iii) ob sich der Betroffene dazu registrieren muss.
Das Fehlen von Vorgaben bietet die Chance, nationale Traditionen und auch berechtigte Ängste vor einem Missbrauch dieser scharfen Waffe adäquat zu berücksichtigen. Die nationalen Gesetzgeber sind jetzt gefordert, diese schwierigen Fragen fair zu lösen. Sie haben dazu bis 25.12.2022 Zeit.

Ausgangslage und Ziel der Richtlinie
Die Angst vor der Erpressbarkeit des mit einer existenzbedrohenden, wenngleich unbegründeten Sammelklage konfrontierten Unternehmens ist – verständlicherweise – hoch.
Umgekehrt duldet die Lethargie der Verbraucher, die mit dem Terminus der „rationalen Apathie“ pointiert beschrieben wird, sittenwidriges Geschäftemachen, das den Wettbewerb unfair verzerrt und Verbrauchern schadet. In den USA nimmt die Furcht vor Sammelklagen und punitive damages (Strafschadenersatz) diesen Anreiz. Doch was hält den Unternehmer hierzulande ab? Wenn wirksame Mechanismen fehlen, ist der Anreiz zum Rechtsbruch hoch.
Neben den Bagatellschäden, die selten den Weg zu Gericht finden, halten Massenschäden, gemeint sind gleichartige Schäden einer größeren Anzahl von Geschädigten, die Gerichte seit knapp zwei Jahrzehnten übermäßig beschäftigt. Der Abgasskandal gilt hier ebenso als Paradebeispiel wie Anlegerschäden oder Schäden durch verbotene Preisabsprachen. Zum Teil legt die Klageflut den Gerichtsbetrieb fast lahm. Der Ruf nach einem effizienten System zu ihrer Bewältigung war laut.
Die Richtlinie zielt darauf ab, EU-weit für beide Phänomene einen effektiven Rechtsschutz zu schaffen. In der Tat schafft sie für Österreich einschneidenden Änderungsbedarf.

Die neue Richtlinie im Überblick
Während Unterlassungsverfügungen, einstweilige wie auch endgültige, dem österreichischen Recht durchaus vertraut sind (vgl. §§ 28 ff. öKSchG), schafft die Richtlinie eine (für Österreich) völlig neuartige Waffe zur Erwirkung von sogenannten „Abhilfemaßnahmen“: Verbände oder „qualifizierte Einrichtungen“ sollen nunmehr für Verbraucher Abhilfe in Form von Schadenersatz, Reparatur, Ersatzleistung, Preisminderung, Vertragsauflösung oder Erstattung des gezahlten Preises erwirken können. Das ist geradezu revolutionär.

Die Speerspitze der neuen Sammelklage, die ausschließlich in eine Richtung – gegen Unternehmer – konzipiert ist, ist die Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung, die mit der Einbringung der Verbandsklage einhergehen muss.
Für Österreich ist der Verzicht auf eine Wiederholungsgefahr bei Unterlassungsbegehren neu.
Ein weiteres Novum ist die Notwendigkeit, einen Vergleich zwischen Verband und geklagtem Unternehmen gerichtlich überprüfen und genehmigen zu lassen.

Schutz vor Missbrauch
Als Korrektiv zur Vermeidung unberechtigter Sammelklagen versuchen einige Vorgaben, die absehbaren Kollateralschäden dieser neuartigen Waffe zu mindern:

Strafschadenersatz ist auszuschließen­(ErwGr. 10, 42 Richtlinie
Die Kostenersatzpflicht des Verbands bringt eine enorme Verbesserung gegenüber dem Status quo. Derzeit muss der zu Unrecht beklagte Unternehmer fürchten, dass er bei erfolgreicher Abwehr der unberechtigten Sammelklage von seinen (ehemaligen) Kunden Kostenersatz zu verlangen hat. Weiterhin trägt der Unternehmer das Insolvenzrisiko. Hier ist der nationale Gesetzgeber gefragt, etwa auf Antrag eine Kostensicherheit vorzusehen.
Wenn der nationale Gesetzgeber eine Drittfinanzierung zulässt, wovon für Österreich auszugehen ist, dann sind künftig Interessenskonflikte zu unterbinden. Der Schutz der Kollektivinteressen darf nicht aus dem Fokus geraten. Insofern ist mit einer Verbesserung zum Status quo zu rechnen.
Offensichtlich unbegründete Verbandsklagen müssen in einem möglichst frühen Verfahrensstadium abgewiesen werden (Art. 7 Abs. 7 Richtlinie).
Das Risiko ungerechtfertigter Rufschädigung wurde damit ausdrücklich anerkannt. Zu hoffen ist, dass diese richterliche Prüfpflicht vom nationalen Gesetzgeber entsprechend deutlich ausgestaltet wird. Sie könnte als zwingender Teil des Zulässigkeitsverfahrens vorgesehen werden. Jedenfalls ist die Klärung zu Beginn des Verfahrens anzusiedeln und muss mit Rechtsmitteln bekämpfbar sein, wenn das Instrument nicht nur ein Feigenblatt sein soll.
Schließlich werden auch die Einschränkung der Aktivlegitimation und die qualitativen Anforderungen an die Klageberechtigten als Schutz gesehen.

Klageberechtigung
Die Richtlinie beschränkt den Anwendungsbereich in vielfacher Weise. Sie gibt damit das Minimum vor; die nationalen Gesetzgeber könnten weiter gehen. Sie könnten etwa auch Unternehmern das Instrument der Sammelklage in die Hand geben und diesen so eine Waffe gegen unlautere Geschäftspraktiken von Mitbewerbern anbieten.

Qualifizierte Einrichtungen
Die Richtlinie erlaubt die Klagsführung nur durch bestimmte Einrichtungen, sogenannte „qualifizierte Einrichtungen“. Das sind Organisationen oder öffentliche Stellen, welche die Verbraucherinteressen vertreten und die von einem Mitgliedstaat als für die Erhebung von Verbandsklagen gemäß der Richtlinie qualifiziert benannt wurden (Art. 3 Z. 4 Richtlinie).

Dabei trifft die Richtlinie zwei wesentliche Unterscheidungen:

  • inhaltlich: zwischen Unterlassungsverfügung und Abhilfeentscheidungen und
  • geographisch: zwischen innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verbandsklagen. (So steht etwa für Klagen von Verbrauchern aus einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen Gerichts nur Opt-in offen (Art. 9 Abs. 3 Richtlinie).)

Für grenzüberscheitende Verbandsklagen (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie sieht spezifische Ernennungskriterien bei grenzüberschreitenden Verbandsklagen vor, wohingegen für innerstaatliche Verbandsklagen Art. 4 Abs. 4 Richtlinie den Mitgliedstaaten nur einen Rahmen vorgibt) haben die qualifizierten Einrichtungen ganz bestimmte Kriterien zu erfüllen.
Für die Unterlassungsverfügung leiten die qualifizierten Einrichtungen ihr Mandat, also die Aktivlegitimation, aus dem Gesetz ab. Sie machen einen eigenen Anspruch geltend und benötigen kein Mandat des Verbrauchers.

Opt-in, Opt-out oder ein Mix?
Für die Klage auf Abhilfe ist hingegen eine Geltendmachung der Ansprüche der Verbraucher vorgesehen. Sie benötigen ein Mandat des betroffenen Verbrauchers. Hier ist die zen-trale Frage, wie dieses verliehen wird, also durch

a. „Opt-in“,
b. „Opt-out“ oder
c. eine Mischform.

Die Vorgaben der Richtlinie sind minimal: Geregelt ist der Zeitpunkt, wann die Entscheidung des Verbrauchers vorliegen muss – nach der Klageerhebung (vgl. Art. 9 Abs. 2 Richtlinie).
Die Mitgliedstaaten können die Entscheidung zwischen Opt-in und Opt-out auch den Gerichten überlassen, die von Fall zu Fall zwischen a) – c) wählen können. So könnte etwa auch auf den Parteienwillen Bedacht genommen werden. Wenn sich etwa der Verband und das Unternehmen einig sind, dass einer Opt-out-Lösung der Vorzug zu geben ist, so könnte das Gericht dem folgen, die Gruppe möglichst genau definieren und die für die gewählte Option geeigneten Verständigungsmaßnahmen festlegen.

Snapshot der Überlegungen zum ­­­­­Opt-in/Opt-out
Der Vorteil des Opt-out liegt für den Unternehmer in einer besseren Planbarkeit und einem klaren „Ablaufdatum“, wann Rechtsfriede geschaffen ist und das Risiko aus den Büchern des Unternehmers genommen werden kann. Das ist ein erheblicher wirtschaftlicher Vorteil, insbesondere in Fällen, wo die lange (30-jährige) Verjährungsfrist anwendbar sein könnte. Im Fall von Opt-in muss hier für die gesamte Dauer Vorsorge für denkbare (jedoch unbekannte) weitere Ansprüche getroffen werden. Das ergibt sich aus der Reichweite von Opt-out-Modellen, die allesamt mit strikten Informationspflichten verknüpft sind. Das Gesamtrisiko wird daher deutlich früher kalkulier- und kontrollierbar. (Durch eine gezielte, aktive Informationspolitik kann das Risiko, dass nach Jahren ein von der Verbandsklage Uninformierter auftritt, begrenzt werden. Es könnte in Österreich auch ein öffentliches Register eingerichtet werden, in dem alle anhängigen Verbandsklagen geführt werden.)
Spiegelbildlich liegt der Nachteil im frühzeitigen Einbezug einer größeren Anzahl von Geschädigten und damit – zumindest anfänglich – höheren Streitwerten, die das Kostenrisiko für beide Seiten nach oben treiben. Das belastet den Unternehmer tendenziell mehr, denn er könnte am Ende einem insolventen Anspruchsgegner gegenüberstehen. So sich der Gesetzgeber für Opt-out als erste Wahl entscheidet, wäre er gefordert, zusätzliche Mechanismen zur Eindämmung rechtsmissbräuchlicher Klagen vorzusehen. Ein Ausgleich könnte im Fall eines Opt-out-Modells durch das Recht, eine Sicherheit für die Kostenforderung zu verlangen, geschaffen werden. Das in Österreich bekannte Modell des vom Verschulden unabhängigen Schadenersatzes für unrechtmäßige Eilmaßnahmen könnte zur Orientierung dienen. Ein Nachteil ist auch die Schwierigkeit der finanziellen Vorsorge für die unbekannten Betroffenen, die die Lösung (sei es durch Urteil oder auch Vergleich) deutlich komplexer machen. Fondslösungen wären zu ermöglichen.
In diesem Zusammenhang ist die folgende Vorgabe der Richtlinie erwähnenswert: Die Verfahrenskosten dürfen nicht an der Klagsführung hindern. In Österreich ist die an das Gericht abzuführende Pauschalgebühr bei hohen Streitwerten mit rund 1,2% (in 1. Instanz) geradezu prohibitiv hoch. Sie kennt weder einen Deckel noch eine „Einschleifregelung“. Das wird zu ändern sein. Allerdings ist mit Blick auf die berechtigen Sorgen der Unternehmer vor übermäßigen Eingriffen dringend zu warnen. Das Kostenrisiko ist das einzige effektive Korrektiv gegen frivole Klagsführungen. Das muss auch künftig so bleiben.
Auch gesellschaftspolitische und ökonomische Überlegungen sprechen eher für das Opt-out-Modell. So erlaubt es eine Gerichtsentlastung und die Vermeidung divergierender Entscheidungen, die bei vielen Individualklagen schlichtweg unvermeidbar sind. Schließlich ist auch das Ziel der EU-Verbandsklage, Bagatellschäden effektiv zu ahnden, bei Opt-in im Hinblick auf die Trägheit der Geschädigten schwerer zu erreichen. Ein fairer Wettbewerb dient letztlich allen (vom Rechtsbrecher abgesehen).

Zeitliche und personelle Reichweite

Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung
Speerspitze der EU-Verbandsklage ist die angestrebte Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung der Unterlassungsklage. Betroffene Verbraucher sollen gelassen den Ausgang des Verfahrens durch den Verband abwarten können, ehe sie sich zur Klagsführung auf Abhilfe entscheiden müssen. Diese Wirkung soll für Dritte eintreten, obwohl die Unterlassungsklage kein Mandat dieser Dritten voraussetzt.
Damit wird der Eintritt von Rechtssicherheit für die Beklagten weit nach hinten verschoben. Richtigerweise müsste sich der nationale Gesetzgeber daher für eine Ablaufhemmung entscheiden. Zudem wird der privilegierte Personenkreis klar zu definieren sein.

Begünstigter Personenkreis
Die Richtlinie lässt vieles offen. Unklar ist, welcher Personenkreis von der Unterbrechungswirkung profitieren darf.
Da die Gruppe der von der Klage betroffenen Verbraucher von den qualifizierten Einrichtungen hinreichend genau zu definieren ist (ErwGr. 34, Art. 7 Abs. 2 Richtlinie), scheint die Annahme gerechtfertigt, dass die Mitglieder dieser Gruppe in den Genuss der verjährungsunterbrechenden/-hemmenden Wirkung kommen sollen. Um Rechtssicherheit zu schaffen, wird das konkret festzulegen sein.
Im Interesse der Planbarkeit für die beklagte Partei und der Rechtssicherheit für alle wäre auch eine Regelung, die eine Registrierung zu dieser Gruppe (etwa auf der Website einer qualifizierten Einrichtung) verlangt, wünschenswert. Diese sollte klarstellen, bis wann die Anmeldung vorzuliegen hat.

Erstreckung der Rechtskraft – Bindungswirkung?
Völlig unklar ist, welche Wirkung ein Feststellungsurteil oder ein Unterlassungsurteil für die Abhilfeklage oder eine individuelle Leistungsklage haben soll. Soll es eine – gesetzlich angeordnete – Bindungswirkung für Ansprüche geben, die nicht verfahrensgegenständlich waren? Wenn ja, für wen und in welchem Umfang? Wie und wann wird der privilegierte Personenkreis bestimmt? Für die Unterlassungsklage nach der Richtlinie ist zu bedenken, dass kein Mandat des Betroffenen vorliegen muss und der Verband „nur“ seinen eigenen Anspruch verfolgt. Wenn es zu einer – im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) problematischen – Ausdehnung der Rechtskraftwirkung kommen sollte, wird deren Reichweite sowohl personell als auch inhaltlich möglichst klar festzulegen, das heißt klar bestimmbar zu beschränken sein.

Erfüllung des klagsstattgebenden Urteils oder Vergleiches
Wie soll die Abwicklung praktisch vor sich gehen? Darf ein Fonds eingerichtet werden? Oder hat der Betroffene den Anspruch direkt beim Beklagten einzufordern? Was gilt, wenn die Mittel nicht zur Gänze abgerufen werden? Was, wenn zu wenig Mittel vorhanden sind (im Opt-out-Fall)? Was, wenn der Beklagte säumig wird?
Wiederum besteht viel Gestaltungspielraum, den die Richtlinie nur in einem Punkt einengt: Eine Frist zum Abruf der Abhilfemaßnahme ist vorzusehen. Klare Vorgaben durch den nationalen Gesetzgeber wären im Interesse der Rechtssicherheit auch diesbezüglich vonnöten.

Conclusio
Die Richtlinie schafft mit der neuen Verbandsklage eine scharfe Waffe. Zeitgleich lässt sie den Mitgliedstaaten einen breiten Spielraum für deren konkrete Konstruktion. Auf nationale Traditionen darf Rücksicht genommen werden, um die hehren Ziele der Richtlinie wie auch die berechtigten Sorgen der Industrie zu beachten.
Bei der nationalen Ausgestaltung sollte keine „Atombombe“ zu Lasten der Unternehmer entwickelt werden, sondern – durch einen behutsamen, zurückhaltenden Eingriff in die bestehen Normen – ein maßgeschneidertes Instrument zur Bekämpfung unerwünschter Geschäftspraktiken und zur effizienten Abhilfe bei Massenschäden.
Besonderes Augenmerk ist auf die Gebrauchsbeschränkungen zu legen, damit Missbrauch tunlichst verhindert oder zumindest frühzeitig wirksam im Keim erstickt werden kann. An bewährten nationalen Vorschriften, die die Klagelust regulieren, wird daher festzuhalten sein, und die neuen Vorgaben sind so umzusetzen, dass unberechtigten Sammelklagen, die wirtschaftlich in den Ruin treiben, effizient beizukommen ist. Gelingt dem nationalen Gesetzgeber dieser Spagat, wird ein spürbarer (Fort-)Schritt für die EU-weite Rechtspflege getan.

bettina.knoetzl@knoetzl.com

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