Das LG Stuttgart hat in Sachen Rundholzkartell und Lkw-Kartell im Wege des sogenannten Sammelklage-Inkassos geltend gemachte Schadensersatzklagen in jeweils mehrstelliger Millionenhöhe wegen eines RDG-Verstoßes abgewiesen. Andere Gerichte lassen hingegen in der Dieselgate-Abgas-Affäre geltend gemachte Sammelklagen mit Blick auf die grundlegende AirDeal-Rechtsprechung des BGH und die zwischenzeitlich ergangene RDG-Reform zu Recht nicht mehr an einem RDG-Verstoß scheitern. Bei konsequenter Anwendung der BGH-Rechtsprechung und im Lichte der RDG-Reform muss sich diese Rechtsprechung auch im Kartelldeliktsrecht durchsetzen.
Bedeutung der Abtretungsmodelle für die kollektive Geltendmachung von Kartellschadensersatzansprüchen
Abtretungsmodelle wurden schon seit Anfang der 2000er-Jahre für die kollektive Kartellschadensdurchsetzung genutzt. So ließen sich damals schon Cartel Damage Claims oder die Deutsche Bahn Kartellschadensersatzansprüche von Unternehmen abtreten. Später hat sich dieser Markt mit dem Aufkommen von Legal-Tech-Anbietern erweitert.
Bei Abtretungsmodellen treten Verbraucher oder Unternehmen eine Vielzahl von Ansprüchen an ein als Inkassodienstleister registriertes Unternehmen ab, welches die Ansprüche gebündelt – unter Mandatierung von Rechtsanwälten und in der Regel unter Einschaltung eines Prozessfinanzierers – in eigenem Namen geltend macht. Die Anspruchsgeltendmachung wird regelmäßig gegen eine Erfolgsbeteiligung im Falle der wirksamen Anspruchsdurchsetzung angeboten. Die mit der Anspruchsverfolgung verbundenen Kosten werden im Verlustfall vollständig getragen.
Diese Abtretungsmodelle dienen unter anderem der Überwindung des „rationalen Desinteresses“. Kartellschadensersatzansprüche werden oftmals nicht verfolgt, weil der geltend gemachte (Einzel-)Schaden oftmals in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zum Prozesskostenaufwand steht. Die Anspruchsdurchsetzung ist nicht nur mit hohen Gerichts- und Anwaltskosten, sondern auch mit beträchtlichen privaten Gutachterkosten verbunden, die in der Regel schon vor der gerichtlichen Auseinandersetzung verauslagt werden müssen. Hinzu kommen weitere gerichtliche Gutachterkosten und ein erhebliches Gegnerkostenrisiko durch zahlreiche Streitbeitritte. Der potentielle Erlös jedes einzelnen Kartellgeschädigten steht somit oftmals in keinem Verhältnis zu dem für die Anspruchsverfolgung erforderlichen Investment.
Eingeschränkte Alternativen zu Abtretungsmodellen
Den Kartellgeschädigten stehen derzeit nur eingeschränkte kollektive Durchsetzungsmechanismen zur Verfügung. Das Musterfeststellungsverfahren gemäß §§ 606 ff. ZPO (Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage vom 12.7.2018, BGBl. 2018 I 1151) endet im Erfolgsfall nur mit einem Feststellungsurteil. Sofern kein Vergleich erzielt werden kann, müssen die Verbraucher also noch eine kostenintensive Leistungsklage erheben, um einen individuellen Leistungstitel zu erlangen. Zur Überwindung des „rationalen Desinteresses“ ist die Musterfeststellungsklage somit weniger geeignet, sofern es nicht zu einem Vergleich kommt. Zudem können sich nur Verbraucher an einer Musterfeststellungsklage beteiligen. Kartellschäden von Unternehmen können somit nicht zum Gegenstand gemacht werden. Dies hat der BGH in seiner AirDeal-Entscheidung betont (Urteil vom 13.7.2021 – II ZR 84/20, NJW 2021, 3046, 3052). Auch können Kartellgeschädigte nicht auf die Umsetzung der EU-Verbandsklage setzen, weil diese gemäß Art. 2 (1) der Richtlinie i. V. m. Anhang I auf allgemeine Kartellverstöße nicht anwendbar ist.
Die subjektive Klagehäufung mehrerer Streitgenossen (§§ 59, 60 ZPO) bleibt als rechtssichere Alternative zu Abtretungsmodellen bestehen (Dux-Wenzel/Quaß, DB 2021, 717, 723). Da jeder Kartellgeschädigte gesondert als Partei/Streitgenosse im Prozess auftritt, ist bei einer größeren Anzahl von Kartellgeschädigten die Organisation der Streitgenossen aber eine enorme Herausforderung.
AirDeal-Entscheidung und RDG-Reform
Daher war es eine gute Nachricht für den Rechtsstandort Deutschland, als der BGH in seiner AirDeal-Entscheidung die Zulässigkeit des (nicht kartellrechtlichen) Sammelklage-Inkassos nach dem RDG bejahte. Der BGH stellte – in grundlegender Natur – fest, dass weder ein Verstoß gegen § 3 RDG wegen Überschreitung der Inkassobefugnis, noch ein Verstoß gegen § 4 RDG wegen Interessenkonflikten vorliegt. So ist auch die vorrangig oder ausschließlich gerichtliche Geltendmachung von der Inkassotätigkeit gedeckt, sofern der Inkassodienstleister anwaltlich vertreten ist. Von Interessenkonflikten zwischen den Zedenten kann allein aufgrund der Anspruchsbündelung nicht ausgegangen werden, weil die Interessen der Zedenten gleichmäßig auf eine möglichst hohe Befriedigung der Forderung abzielen. Der BGH stärkt zudem der prozessfinanzierten Anspruchsbündelung den Rücken. Ein Verstoß gegen § 4 RDG liegt nicht schon deshalb vor, weil der Inkassodienstleister ein Erfolgshonorar und zugleich die Kostenfreihaltung der Zedenten vereinbart hat. Die Kostenfreihaltung bei gleichzeitiger Vereinbarung eines Erfolgshonorars stellt keine „andere“ Leistungspflicht im Sinne von § 4 RDG dar. Sie ist vielmehr Bestandteil der Inkassodienstleistung bzw. steht mit der Forderungseinziehung in einem so engen Verhältnis, dass sie auch aus Sicht der Zedenten nicht als eine „andere“ Leistungspflicht angesehen werden kann. Die Rechtsprechung des BGH steht in Einklang mit der am 1. Oktober 2021 in Kraft getretenen RDG-Reform (BGBl. 2021 I 3415). Der RDG-Gesetzgeber hat in § 4 Satz 2 RDG klargestellt, dass der bloße Abschluss einer Prozessfinanzierung mit Berichtspflichten noch keine Gefährdung einer ordnungsgemäßen Erbringung der Rechtsdienstleistung darstellt.
Auch sieht der BGH in der Ermächtigung des Inkassodienstleisters zu (selbst unwiderruflichen) Vergleichen keine Interessenkonflikte. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass der auf den einzelnen Zedenten entfallende Vergleichsanteil deshalb geringer ausfällt, weil der Inkassodienstleister auch Forderungen mit geringerer Durchsetzungskraft geltend macht. Der BGH betont aber zu Recht, dass diesem Risiko erhebliche Vorteile der kollektiven Anspruchsbündelung, wie Gebührendegression beziehungsweise -deckelung und Stärkung der Verhandlungsposition gerade mit Blick auf einen Vergleichsabschluss, entgegenstehen. Selbst einer analogen Anwendung des § 4 RDG erklärte der BGH eine Absage: Allein das Bestehen (möglicherweise) unterschiedlicher Interessen zwischen dem Inkassodienstleister und den Zedenten rechtfertigt eine Analogie nicht. Die Rechtsprechung des BGH steht auch hier in Einklang mit der RDG-Reform: Gemäß § 13b Abs. 1 Nr. 3 RDG bestehen nur Informations- und Transparenzpflichten bei einem Vergleichsabschluss.
Der BGH hat somit den Kritikern des Sammelklage-Inkassos ihre Argumentationsgrundlage entzogen.
Kartellrechtliches Sammelklage-Inkasso nach AirDeal-Entscheidung und RDG-Reform
Angesichts dessen ist es erstaunlich, dass das LG Stuttgart mit seiner Entscheidung vom 20.01.2022 (30 O 176/19, BeckRS 2022, 362) das Sammelklage-Inkasso in Sachen Rundholzkartell in Höhe von rund 450 Millionen Euro wegen eines RDG-Verstoßes abwies. Ein Sammelklage-Inkasso für kartellrechtliche Schadensersatzansprüche verstößt nach Auffassung des LG Stuttgart gegen das RDG. Diese Rechtsprechung bestätigte das LG Stuttgart in Sachen Lkw-Kartell mit Entscheidung vom 28.04.2022 (30 O 17/18 – noch nicht veröffentlicht). Das LG Stuttgart wies eine Klage von E.L.V.I.S. (Europäischer Ladungs-Verbund Internationaler Spediteure AG) auf Zahlung von rund 96 Millionen Euro ab.
Die Begründung dürfte aber spätestens vor dem BGH nicht aufrechtzuerhalten sein. Das LG Stuttgart nimmt einen Verstoß gegen § 3 RDG an, weil die Klägerin ihre Inkassobefugnis überschreite. Kartellschadensersatzansprüche seien aufgrund der komplexen Materie generell nicht Gegenstand einer erlaubten Inkassodienstleitung. Hiergegen spricht aber bereits, dass die Bundesregierung den Vorschlag des Bundesrates, bestimmte Rechtsgebiete wie das Kartelldeliktsrecht anlässlich der RDG-Reform generell auszuschließen, ausdrücklich ablehnte. Zu Recht verwies die Bundesregierung darauf, dass Inkassodienstleister auch bei dem komplexen Rechtsgebiet des Kartellschadensersatzes ein hohes Maß an Expertise aufweisen – wie etablierte Angebote im Markt zeigten (BT-Drs. 19/27673, S. 62). Das LG Stuttgart respektiert diese gesetzgeberische Grundentscheidung nicht. Zudem dürfte der BGH in seiner AirDeal-Entscheidung die Zulässigkeit des Sammelklage-Inkassos grundsätzlich und über das dort betreffende Rechtsgebiet hinaus bejaht haben. Der BGH nimmt explizit auf den Bereich Kartellschadensersatz Bezug, um herauszuarbeiten, dass die Musterfeststellungsklage möglicherweise kein geeignetes Mittel für Kartellschadensersatzklagen ist (Urteil vom 13.7.2021 – II ZR 84/20, NJW 2021, 3046, 3050).
Auch der vom LG Stuttgart angenommene Verstoß gegen § 4 RDG wegen angeblich in drei Fällen bestehenden Pflichtenkollisionen, die sich aus unterschiedlichen Interessen des Inkassodienstleisters, des dahinterstehenden Prozessfinanzierers und der Zedenten ergeben sollen, ist angesichts der AirDeal-Entscheidung nicht nachvollziehbar. Der BGH hat das bloße Bestehen einer Prozessfinanzierung und das bloße Vorhandensein (möglicherweise) abweichender (wirtschaftlicher) Interessen als nicht ausreichend für einen strukturellen Interessenkonflikt angesehen. Die Auffassung des LG Stuttgart, wonach ein Interessenkonflikt wegen Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen des Prozessfinanzierers vorliegt, steht somit nicht in Einklang mit der BGH-Rechtsprechung. Es kann auch keinen Unterschied machen, ob sich der Inkassodienstleister selbst finanziert oder – wie in den zugrundeliegenden Urteilen des LG Stuttgart – über einen externen Prozessfinanzierer. Zudem beschränkt dieses Verständnis den „Zugang zum Recht“ in den Fällen, in denen eine Anspruchsdurchsetzung durch die Prozessfinanzierung überhaupt erst ermöglicht wird. Dass derartige Geschäftsmodelle den „Zugang zum Recht“ erleichtern, hat der BGH in seiner AirDeal-Entscheidung ausdrücklich anerkannt (Urteil vom 13.7.2021 – II ZR 84/20, NJW 2021, 3046, 3050).
Soweit das LG Stuttgart meint, dass ein Interessenkonflikt auch deshalb vorliege, weil das zwischen dem Inkasso-dienstleister und den Zedenten vereinbarte Vergütungsmodell (angebliche) Fehlanreize für Kostensteigerungen setze, geht auch dies fehl. Zwar sahen die zugrundeliegenden Abtretungsverträge – anders als in dem AirDeal-Fall – vor, dass die Vergütung kumulativ sowohl an der Höhe des Prozesskostenrisikos der Klägerin als auch am Klageerfolg bemessen wird. Dies rechtfertigt aber keine vom BGH abweichende Auffassung. Die Auffassung des LG Stuttgart, der beauftragte Prozessfinanzierer habe ein Interesse an einer möglichst kostenintensiven Geltendmachung der Ansprüche, geht fehl. Vielmehr ist dessen Interesse darauf gerichtet, dass der potentielle Erlösbetrag aus der Anspruchsdurchsetzung in einem angemessenen Verhältnis zu den Investitionskosten steht – immerhin trägt er im Verlustfall sämtliche verauslagten Kosten. Schon aus eigenem wirtschaftlichen Interesse hat der Prozessfinanzierer somit ein Interesse an einer sorgfältigen und kostenangemessenen Prozessführung. Zudem hat der BGH die vom LG Stuttgart angenommene analoge Anwendung des § 4 RDG, weil die Kostenregelung keine „andere“ Leistungspflicht ist, noch nicht ausdrücklich bestätigt. Ob angesichts der RDG-Reform überhaupt noch Raum für eine analoge Anwendung des § 4 RDG besteht, erscheint fraglich (vgl. Heinze, NZKart 2022, 193, 197).
Ausblick
Auch wenn der BGH die Vereinbarkeit des Sammelklage-Inkassos mit dem RDG nicht explizit für den Bereich Kartellschadensersatz bejaht hat, sollte es aufgrund der grundsätzlichen Ausführungen des BGH zur Zulässigkeit des Sammelklage-Inkassos und nach dem Willen des Gesetzgebers bei der Umsetzung der RDG-Reform nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der BGH das kartellrechtliche Sammelklage-Inkasso für von der Inkassoerlaubnis gedeckt erklärt. Hinsichtlich der Frage des Verstoßes gegen § 4 RDG und eines vermeintlichen Interessenkonflikts dürfte die Auffassung des BGH – vorbehaltlich der Umstände eines jeden Einzelfalls – feststehen: Ein Interessenkonflikt besteht nicht schon deshalb, weil sich die Kartellgeschädigten zur Anspruchsdurchsetzung eines Inkassodienstleisters und eines Prozessfinanzierers bedienen und sich die Kostenfreiheit im Falle des Unterliegens über die Vereinbarung einer Erfolgsbeteiligung verschaffen.
Im Bereich des Kartellschadensersatzes sollten sich die Gerichte daher jetzt schon ein Beispiel an der Rechtsprechung in der Dieselgate-Abgas-Affäre nehmen: Dort haben Oberlandesgerichte angesichts der AirDeal-Entscheidung die Vereinbarkeit derartiger Geschäftsmodelle mit dem RDG mittlerweile vermehrt anerkannt (z. B. OLG Nürnberg, Urteil vom 20.10.2021 – 12 U 1432/20, BeckRS 2021, 33454; OLG München, Verfügung vom 15.09.2021 – 20 U 5311/21 e, BeckRS 2021, 44019; OLG Stuttgart, Verfügung vom 23.08.2021 – 5 U 173/21, BeckRS 2021, 44237; OLG Celle, Beschluss vom 30.9.2021 – 16 U 421/21, BeckRS 2021, 43537). Diese oberlandesgerichtliche Rechtsprechung sollte sich im Bereich Kartellschadensersatz nicht zuletzt deshalb durchsetzen, um Kartellschadensersatzklagen in Massenschadensfällen nicht an andere europäische Staaten, wie insbesondere die Niederlande, zu verlieren.
anna-maria.quinke@omnibridgeway.com