Eine Entgegnung auf die Ansprache der Präsidentin des Bundesgerichtshofs anlässlich ihrer Amtseinführung
Von Dr. Matthias Siegmann

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Der Rahmen

Am 02.10.2014 wurde die seit Juli amtierende neue Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina Limperg, mit einem Festakt in ihr Amt eingeführt. Vor einem hochkarätigen Kreis an geladenen Gästen begann die Veranstaltung beschwingt, der gemischte Chor des BGH intonierte den Kriminal-Tango, der Vizepräsident, Schlick, übernahm rhetorisch brilliant die Aufgabe, die Zeit bis zum verspäteten Eintreffen des Justizministers zu überbrücken. Er nutzte dies unter anderem für eine unmittelbar einleuchtende Erklärung, warum es nämlich nach dem Ausscheiden von Amtsvorgänger Professor Dr. Tolksdorf im Januar so lange gedauert habe, bis Bettina Limperg zur Präsidentin ernannt wurde. Man wollte wohl, so Schlick, der neuen Präsidentin einen „Traumstart“ ermöglichen, wurden doch kurz nach ihrer Ernennung „unsere Jungs Weltmeister“. Nach jazzigen Saxophonklängen war dann auch der Justizminister vor Ort, nutzte seine Ansprache für einen Dank an den Vorgänger sowie eine Laudatio auf die frischgebackene Präsidentin und ermahnte die Justiz – wohl nicht zur Freude aller Zuhörer –, dem weiteren Abwandern großer Streitigkeiten zwischen Unternehmen in die private Schiedsgerichtsbarkeit gegenzusteuern, weil die Justiz ja gerade auch von diesen großen Streitwerten lebe.
Farbig waren auch die nachfolgenden Grußworte, etwa des Generalbundesanwalts Dr. Range, der nicht nur die zuständigen Mitarbeiter in seinem Hause für die publik gewordenen Hobbys der Präsidentin (Joggen, Segeln und – für Wortspiele mit dem Steuerrad dankbar – Lkw-Fahren) benannte, sondern auch seine Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass Frau Limperg das übliche Los ­eines Präsidenten erspart bleiben möge, welches Bill Clinton dahingehend auf den Punkt gebracht habe: Es ­gehe ihm „wie einem Friedhofsverwalter“ – er habe viele unter sich, aber keiner höre zu. Der Präsident der Rechtsanwaltskammer beim BGH, Dr. Baukelmann, reklamierte für die Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, auf sie passe nicht das im englischen wie französischen Rechtsraum bekannte Diktum, ein guter Anwalt sei ein schlechter Nachbar, weshalb man doch die Kammerräumlichkeiten in unmittelbarer Nähe der Räume der Präsidentin auch nach der Renovierung des erbgroßherzöglichen Palais behalten möge. Der Oberbürgermeister der Stadt Karlsruhe, Dr. Mentrup, lobte das Engagement der Mitglieder von Bundesgerichtshof, Generalbundesanwaltschaft und Bundesverfassungsgericht im gesellschaftlichen Leben Karlsruhes, man sei keine Truppe für sich, und dann gab es wieder etwas Jazz. Um es mit Konstantin Wecker zu sagen: So richtig schee wars …

Die Rede

Dann kam die neue Präsidentin und mit ihr der nötige Ernst. Frau Limperg ließ keinen Zweifel daran, dass sie in ihrer Ansprache Inhaltliches zu transportieren gedenke. Dagegen ist ja nun auch im Rahmen eines Festaktes nichts Grundsätzliches einzuwenden, und es begann anschaulich mit einem Dank an Professor Dr. Böckenförde und einigen Erwägungen zur Trias Gewaltmonopol des Staates, Friedenspflicht der Bürger und daraus abzuleitendem Justizgewährungsanspruch. Einer Gefährdung des Letzteren sei entgegenzutreten und insbesondere sei die Leistungsfähigkeit der Justiz zu erhalten. Dann wurde es konkret: Gefährdungen sah die Präsidentin hier einerseits – durchaus originell – in privaten Streitschlichtungsinstitutionen, wie etwa den Ombudsstellen der Bank- und Versicherungswirtschaft, welche sie einen Kontrollverlust der Justiz befürchten lassen, andererseits – insoweit nicht anders als ihre Vorgänger – in der Überlastung der Justiz und insbesondere des Bundesgerichtshofs. Lob gab es für den Gesetzgeber der Zivilprozessreform des Jahres 2001, der dem BGH durch die streitwertunabhängige Revision weite Bereiche des Verbraucherrechts erschlossen habe, so dass auch hier die Fortbildung des Rechts und die Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung durch das höchste deutsche Zivilgericht gewährleistet seien. Als Erfolg dieser Reform wurde besonders erwähnt, dass heute 60% der zugelassenen Revisionen einen Gegenstandswert von weniger als 20.000 Euro hätten, der heutigen Wertgrenze für die Statthaftigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde.

Äußerst hinderlich für die Aufgabenerfüllung der Richter am BGH sei jedoch eine Reform aus dem Jahre 2011, die die Nichtzulassungsbeschwerde in gleichem Umfang wie gegen Urteile nunmehr auch gegen Beschlüsse der Berufungsgerichte eröffne, mit denen eine Berufung als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen wird (§ 522 Abs. 3 ZPO). Diese – jährlich etwa 1.000 zusätzlichen – Verfahren gehörten nicht vor den BGH, weil ja bereits die Berufungsgerichte hier nach sorgfältiger Prüfung das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen verneint hätten. In diesen Verfahren werde richterliche Arbeitskraft vergeudet; die Bundesrichter fühlten sich „wie im Hamsterrad“, ein Vorsitzender Richter habe gar drei Wochen Urlaub genommen, nur um sich auf ein größeres kapitalmarktrechtliches Verfahren vorbereiten zu können. Angesichts dieser beklagenswerten Zustände vermochte auch der den Festakt mit einer gelungenen Interpretation von „Puttin‘ on the Ritz“ abrundende Chor des BGH das betroffene Publikum nur mühsam wieder aufzuheitern und auf den nachfolgenden Umtrunk einzustimmen, auch wenn ein aufmerksamer Beobachter erleichtert feststellen konnte, dass sich die eine oder andere Bundesrichterin trotz Hamsterrad nicht von den Freuden des Chorgesangs hatte abbringen lassen.

Der Einspruch

Die Thesen der Präsidentin verdienen in der Sache Widerspruch. Dabei soll mitnichten bestritten werden, dass die Belastung der Justiz insgesamt und insbesondere die der Zivilsenate des BGH hoch ist und nur der außerordentliche Einsatz der Richterschaft das gerade im internatio­nalen Vergleich hervorragende Funktionieren der deutschen Ziviljustiz gewährleistet. Nicht zu verkennen ist aber auch, dass einen wesentlich Beitrag zur Entlastung und damit zum Funktionieren der Justiz gerade auch die im privaten Raum angesiedelten alternativen Konfliktlösungsinstitutionen leisten, seien es private Schiedsgerichte, seien es die Ombudsstellen etwa der Bank- oder Versicherungswirtschaft, die insbesondere wirtschaftlich weniger bedeutende Streitigkeiten für die betroffenen Verbraucher kostengünstig und effizient abzuwickeln verstehen, ohne den gerichtlichen Rechtsschutz endgültig auszuschließen. Wieso diese Institutionen, die oftmals von ehemaligen Bundesrichtern, im Vollbesitz ihrer juristischen Schaffenskraft durch die Pensionsgrenze aus dem aktiven Dienst gerissen, umsichtig und effizient geführt werden, vom präsidentiellen Bannstrahl getroffen wurden, ist nicht recht verständlich. Der beklagte Kontrollverlust ist wohl kaum ein Wert für sich, bedarf es doch dort schwerlich justizieller Kontrolle, wo die Bürger unter Beachtung ihrer Friedenspflicht ihre Konflikte eigenständig und ohne Inanspruchnahme der kostbaren Ressource Justiz lösen, ohne dass Missstände etwa aufgrund eines strukturellen Ungleichgewichts zwischen den Beteiligten erkennbar wären. Gewichtiger scheint da die Mahnung des Justizministers, die staatliche Gerichtsbarkeit müsse darauf achten, dass nicht ganze Komplexe wirtschaftsrechtlicher Streitigkeiten (etwa Post-M&A-Prozesse, zumal mit internationalem Bezug) regelmäßig außerhalb der staatlichen Justiz abgewickelt werden.

Was zu fordern ist

Dieser Aspekt führt nahtlos zu der Frage der richtigen Ausgestaltung der zivilrechtlichen Revisionsinstanz. In der Tat hat die Zivilprozessreform 2001, die auch den Landgerichten als Berufungsgericht die Möglichkeit der Revisionszulassung eröffnet hat, dem BGH als Revisionsgericht weite Bereiche des Verbraucherrechts eröffnet, was uneingeschränkt zu begrüßen ist. Ob der BGH allerdings wirklich über hunderte von Revisionen etwa zur Frage der Rückforderung des Bearbeitungsentgelts in Verbraucherdarlehensverträgen mit Streitwerten von wenigen hundert Euro entscheiden muss, erscheint dann doch zweifelhaft. Hinter den von Frau Limperg zitierten Zahlen zum durchschnittlichen Gegenstandswert von Revisionen stecken nämlich oftmals nur wenige Streitfragen, die aufgrund massenhafter Revisionszulassungen durch die Instanzgerichte in unzähligen Fällen dem BGH unterbreitet werden, ohne dass dies einen Mehrwert für die Rechtsfortbildung bedeutete. Hier müsste aus Sicht des Autors der Gesetzgeber mit der Schaffung einer erweiterten Aussetzungsmöglichkeit im Hinblick auf beim BGH anhängige Pilotverfahren reagieren, auch wenn dies sicher nicht alle Probleme lösen könnte.
Dagegen ist eine erneute Abschaffung der erst 2011 eingeführten Nichtzulassungsbeschwerde auch gegen die Berufung als offensichtlich unbegründet zurückweisende Beschlüsse nach § 522 Abs. 3 ZPO entschieden abzulehnen. Es mag sein, dass eine solche Reform der Reform zu einer unmittelbaren Entlastung der Zivilsenate des BGH in erheblichem Umfang führte. Der Preis für eine solche Entlastung wäre aber viel zu hoch. Der Gesetzgeber hatte mit der Reform im Jahre 2011 ja darauf reagiert, dass das Beschlussverfahren nach § 522 ZPO von den Oberlandesgerichten in stark unterschiedlichem Maße angewandt wurde, ohne dass sich hierfür rationale Gründe finden ließen, was zu der Erkenntnis führte, dass einzelne Oberlandesgerichte hier bewusst in großem Umfang durch Beschluss entschieden, um eine – wenn auch nur noch rudimentäre – Richtigkeitskontrolle durch den Bundesgerichtshof im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren auszuschließen. Vor diesem Hintergrund hatten gewichtige Stimmen selbst aus dem BGH den Ausschluss der Nichtzulassungsbeschwerde gegen Zurückweisungsbeschlüsse als verfassungswidrig angesehen. Diesen misslichen Zustand erneut herbeizuführen, vermag das Entlastungsargument nicht zu rechtfertigen, zumal – entgegen der Argumentation der Präsidentin – durchaus auch Nichtzulassungsbeschwerden gegen Zurückweisungsbeschlüsse die Rechtsfortbildung gefördert haben. Hingewiesen sei aus letzter Zeit etwa auf das Urteil BGHZ 197, 155 zu den Voraussetzungen eines Schadenersatzanspruchs gegen den Sicherungsnehmer einer Grundschuld sowie das Urteil vom 18.07.2014 (V ZR 178/13, WM 2014, 1719, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen) zur teilweisen Unwirksamkeit der Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Bank für eine Grundschuld zur Kreditsicherung: In beiden Fällen, deren rechtsgrundsätzliche Bedeutung sich schon an der Veröffentlichung der Entscheidung des BGH in der amtlichen Sammlung BGHZ zeigt, hatte das Berufungsgericht die Berufung durch Beschluss zurückgewiesen. Und auch der XI. Zivilsenat hat kürzlich mit Beschluss vom 16.09.2014 (XI ZR 259/12) der Nichtzulassungsbeschwerde gegen einen Zurückweisungsbeschluss stattgegeben und letzteren sogleich nach § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben. Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen, erwähnt sei noch der Beschluss des VII. Zivilsenats des BGH vom 01.10.2014 (VII ZR 28/13, zur Veröffentlichung bestimmt), der jüngst gegenüber einem Zurückweisungsbeschluss des Kammergerichts darauf hinweisen musste, dass dann, wenn der Hinweisbeschluss auf einen neuen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt wird, den der Berufungskläger bisher übersehen hatte, diesem Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden muss und sein Vorbringen nicht als präkludiert zurückgewiesen werden kann.

All dies zeigt auch, dass die Prüfung der Zulassungsgründe durch die Oberlandesgerichte doch nicht immer so sorgfältig erfolgen kann wie geboten und die Kontrollfunktion des BGH gerade nicht entbehrlich ist. Überdies wäre, die Argumentation der Präsidentin zu Ende gedacht, die Nichtzulassungsbeschwerde insgesamt abzuschaffen, da auch jedes Berufungsurteil eine Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision enthält, mag diese auch nur kurz oder gar nicht begründet sein. Ein Rechtsmittelgericht, das sich in der Ausübung seiner Kontrollfunktion vollständig von den Kontrollierten (nämlich der Revisionszulassung durch die Berufungsgerichte) abhängig macht, ist dann aber doch eine merkwürdige Vorstellung. Vor allem könnte ein so gestaltetes Revisionsrecht mit Sicherheit nicht das weitere Abwandern umfänglicher wirtschaftsrechtlicher Streitigkeiten in die private Schiedsgerichtsbarkeit verhindern. Denn die Parteien würden sich nie sicher sein können, dass ihr Konflikt tatsächlich letztlich vor den zuständigen Fachsenat des BGH und dessen im Rahmen des Festakts zu Recht oft gelobte herausragende Kompetenz gelangte und dort weise entschieden würde.

Schluss

Und was ist mit dem bemitleidenswerten Senatspräsidenten, der Urlaub nehmen muss, um sich seiner eigentlichen Tätigkeit widmen zu können? Dieser Einzelfall taugt dann vielleicht doch nicht als Grundlage für eine Gesetzesinitiative, geht es doch nicht nur um ein außergewöhnlich umfangreiches (und mittlerweile dennoch abgeschlossenes) Verfahren, sondern auch um einen Vorsitzenden, der dieses noch kurz vor seinem Ruhestand abschließen wollte. Und das Hamsterrad? Nun denn, dieses Gefühl ist auch dem Unterzeichner nicht unbekannt und scheint unter Juristen ohnehin weitverbreitet. Der Unterzeichner behilft sich dann mit Camus, der bekanntlich feststellte, wir müssten uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Lassen wir also Sisyphos seinen Stein, dem Hamster sein Rad und dem Bundesgerichtshof die Nichtzulassungsbeschwerden auch gegen Zurückweisungsbeschlüsse der Berufungsgerichte.

Dr. Matthias Siegmann, Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe
bgh[at]forensik-boutique.de

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