… besonders wenn sie über 10 Milliarden Euro kosten: Wie an der Schnittstelle von Bewertung, Bilanzierung und Kaufvertragsgestaltung M&A-Streitigkeiten entstehen
Von Dr. Ekaterina Lohwasser und Heiko Ziehms
Wenige Probleme können das Management eines Unternehmens über längere Zeit so intensiv beschäftigen und viel Geld kosten, ohne dem eigentlichen Unternehmenszweck zu dienen, wie ein großer Rechtsstreit im Nachgang zu einem Unternehmenskauf oder -verkauf. Nachfolgend stellen wir Beispiele für Post-M&A-Rechtsstreitigkeiten dar und setzen diese in den Zusammenhang von Erkenntnissen einer empirischen Studie, in der wir über 40 solcher Streitfälle mit einem Gesamtstreitwert von über 10 Milliarden Euro ausgewertet haben.
Post-M&A-Rechtsstreitigkeiten enthalten Lehren für alle, die am M&A-Markt beteiligt sind. Die Kenntnis von besonders streitträchtigen Faktoren bereits vor einer Transaktion kann der Vermeidung von Rechtsstreiten danach dienen. Kommt es dennoch zu einem Rechtsstreit, so bringt die Schadenbemessung komplexe Fragestellungen mit sich, über die wir im zweiten Teil des Beitrags einen Überblick geben.
Post-M&A-Streitfälle
Fallbeispiel 1: Berücksichtigung von Volatilität der Finanzmärkte in der Kaufpreisformel
Ein Unternehmenskaufvertrag sieht vor, dass der Verkäufer das Defizit einer Pensionsverpflichtung zum Closing ausgleichen soll, wofür er wegen der ungewöhnlich volatilen Marktverhältnisse im Jahr 2008 mehrere Jahre Zeit hat. Der auszugleichende Betrag war zum Closing zu bemessen, und zwar laut Sale and Purchase Agreement (SPA) unter „stetiger Anwendung der im vorangegangenen Jahresabschluss verwendeten [versicherungsmathematischen] Methoden“ nach IAS 19. Der Rechnungszins für die Bewertung der Pensionsverpflichtungen wurde aus Renditen von Euro-Unternehmensanleihen mit mindestens einem AA-Rating abgeleitet. Die Ableitung der Zinsstrukturkurve, in normalen Zeiten innerhalb recht enger Bandbreiten möglich, wurde Ende 2008 durch die ungewöhnliche Streuung von Renditen erschwert (siehe zweites Schaubild rechts). Versicherungsmathematiker konnten auf derselben Datenbasis sehr unterschiedliche Zinsstrukturkurven ableiten. Der Rechtsstreit entstand unter anderem um den bei der Bewertung der Pensionsverpflichtungen anzuwendenden Zinssatz: Der Käufer wollte einen möglichst niedrigen Zinssatz (also einen hohen Barwert der auszugleichenden Verpflichtung), der Verkäufer das Gegenteil. Streit entstand darüber, was unter „stetiger Anwendung der im vorangegangenen Jahresabschluss verwendeten [versicherungsmathematischen] Methoden“ in Zusammenhang mit der Ableitung der Zinsstrukturkurve angesichts der breiten Streuung der Renditen zu verstehen war.
Fallbeispiel 2: Fehlende Hierarchie der Rechnungslegungsvorschriften
Ein Unternehmenskaufvertrag enthielt die folgende Regelung zur Bilanzierung im Abgrenzungsabschluss:
“… es ist zu bilanzieren wie im (letzten) geprüften Jahresabschluss zum 31.12.2013 und im Einklang mit International Accounting Standards (IAS)“. Bei der Aufstellung des Abgrenzungsabschlusses zum 30.04.2014 stellt die Käuferin fest, dass ein langfristiges Leasingverhältnis ihrer Ansicht nach im Jahresabschluss zum 31.12.2013 unzutreffend als „Operating Lease“ nach IAS 17 klassifiziert war und stattdessen als Finanzierungsleasing hätte bilanziert werden sollen. Verbindlichkeiten aus Finanzierungsleasing waren Bestandteil des Net-Debt-Abzugs. Die Verkäuferin war der Meinung, dass die Klassifizierung zutreffend war und verwies daneben auf das Erfordernis der Stetigkeit laut SPA. Ein Schiedsgutachter war nicht vorgesehen.
Mit der Bilanzierung als Finanzierungsleasing durch die Käuferin wurde eine Verschuldungskennzahl im konsolidierten Abschluss überschritten, und das Unternehmen erhielt ein schlechteres Rating als erwartet. Die Finanzierungkosten des Erwerbers stiegen hierdurch an. Über die bilanzielle Behandlung des Leasingverhältnisses im Abgrenzungsabschluss entstand ein Rechtsstreit.
Empirische Untersuchung von Post-M&A-Disputen
Die beiden anonymisierten Fallbeispiele sind Teil einer empirischen Studie, für die über 40 Cross-Border-Post-Deal-Rechtsstreitigkeiten ausgewertet worden sind, bei denen es um Streitwerte von in der Summe über 10 Milliarden Euro ging und die vor ordentlichen Gerichten und privaten Schiedsgerichten (einschl. DIS, ICC, LCIA, SIAC) ausgetragen wurden.
Folgende Beobachtungen, die sich an den beiden Fallbeispielen festmachen lassen, treffen auf viele der ausgewerteten Streitfälle zu:
Dispute stehen oft in Zusammenhang mit unerwarteten Entwicklungen zum Zeitpunkt des Closings. Diese können durch Volatilität in Einkaufs-, Verkaufs- oder Finanzmärkten entstehen (siehe Fallbeispiel 1). Findet Volatilität über eine Kaufpreisanpassungsformel Eingang in die Bestimmung des (finalen) Kaufpreises, so steigt das Risiko eines Post-Deal-Rechtsstreits erheblich. Denn extreme Entwicklungen treffen dann häufig auf Regelungen im SPA, die deren bilanzielle oder finanzwirtschaftliche Auswirkungen nicht berücksichtigen. Daher sind bei Transaktionen in volatilen Märkten (wie etwa erneuerbaren Energien) besonders häufig Rechtsstreite um die Bewertung von Vorratsvermögen anzutreffen.
Dispute stehen häufig in Zusammenhang mit unklaren Formulierungen im Unternehmenskaufvertrag in Bezug auf Bilanzierungsregeln oder auf zu regelnde finanzwirtschaftliche Sachverhalte. Zuweilen reichen geringe Änderungen oder ein einziger Zusatz aus, um Klarheit zu schaffen und einen Rechtsstreit zu vermeiden (im Fallbeispiel 2 die Festlegung einer Hierarchie im Verhältnis von Stetigkeit zu IAS).
Grundsätze der Schadenbemessung
Kommt es zu einer vertraglichen oder vorvertraglichen Pflichtverletzung, gilt es, deren monetäre Folgen zu quantifizieren. Denn Ausgangspunkt für die Ermittlung des Schadens ist in der Regel die Differenzhypothese: Zu ersetzen ist die Differenz zwischen dem aktuellen Zustand und einem hypothetischen, schadenfreien Zustand. Der Schaden wird dann aus dem Unterschied zweier Situationen abgeleitet:
- der tatsächlichen Situation, die durch das Fehlverhalten verursacht wurde, und
- der hypothetischen Situation („But for“), die eingetreten wäre, wenn kein Fehlverhalten erfolgt wäre.
Der monetäre Schaden ist die Summe der nicht erwirtschafteten (also entgangenen) Überschüsse, die demjenigen nicht zur Verfügung stehen, der durch das Fehlverhalten geschädigt wurde (etwa dem Käufer), sowie der Kosten, die durch das Fehlverhalten entstanden sind. Die folgende Grafik veranschaulicht dies beispielhaft.
Schaden kann bei M&A-bezogenen Rechtsstreitigkeiten neben Kosten, die vor dem Transaktionsstichtag entstanden sind, auch entgangene Gewinne nach dem Transaktionsstichtag einschließen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn das Fehlverhalten geplante Gewinne beeinträchtigt hat. Dann ist zur Schadenermittlung ein Businessplan unter hypothetischen Annahmen zu erstellen. Der Businessplan ist rein theoretischer Natur, da er niemals realisiert wird. Eine entscheidende Frage dabei ist die Informationsbasis, die der Erstellung zugrunde zu legen ist. Dürfen alle bis zum Zeitpunkt der Analyse bekanntgewordenen Informationen in der Schadenbewertung verwendet werden (Ex-post-Perspektive oder „Hindsight“), oder soll ausschließlich auf die Informationsbasis abgestellt werden, die zum Transaktionsstichtag vorlag (Ex-ante-Perspektive)? Die Festlegung der Perspektive und des Bewertungsstichtags haben eine erhebliche Auswirkung auf die Höhe des Schadens. So kann aus der Ex-post-Perspektive ein zunächst nicht (sicher) erwarteter Gewinn des Zielunternehmens, etwa aufgrund der Einführung neuer Produkte, nachträglich relevant werden. Allerdings dürfen solche Gewinne nicht berücksichtigt werden, die zwar im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses im Businessplan abgebildet waren, sich mittlerweile aber als nicht realisierbar herausgestellt haben, zum Beispiel weil sich die Absatzmärkte schlechter entwickelt haben.
Ein weiterer zentraler Bestandteil der Schadenermittlung ist die Ableitung der Kapitalkosten. Diese sind an zwei Stellen relevant: zur Abbildung der mit den hypothetischen entgangenen Gewinnen verbundenen Risiken und zur Bestimmung des sogenannten „Pre Award Interest“ im Rahmen der Aufzinsung der entgangenen Gewinne bis zum Zeitpunkt t2. Die jeweils verwendeten Zinssätze beeinflussen die Höhe des Schadens erheblich.
In der Praxis verwendete Zinssätze rangieren von gesetzlichen (etwa steuerrechtlichen) Zinssätzen bis zum impliziten internen Zinsfuß der Transaktion aus der Sicht des Erwerbers. Die Wahl der Zinssätze ist fallabhängig zu treffen und zu begründen.
Fazit
Nicht jeder Streit ist vermeidbar. Die Auswertung von Post-M&A-Rechtsstreitigkeiten zeigt jedoch Faktoren auf, die besonders häufig mit Streit in Zusammenhang stehen und macht deutlich, dass Dispute häufig an der Schnittstelle von Bilanzierungsthemen, Unternehmensbewertung und Unternehmenskaufvertrag entstehen. Dies enthält Lehren für die Financial Due Diligence.
Um Schnittstellenproblemen zu begegnen, sollten die unterschiedlichen Transaktionsteams eng zusammenarbeiten. So sollte etwa das Financial-Due-Diligence-Team frühzeitig die Bewertungsmechanik kennen und in die Formulierungen der Bilanzierungsregeln im SPA einbezogen werden. Daneben sollte es die vorgeschlagenen Kaufpreisanpassungsmechanismen kennen. Unterliegen diese besonders volatilen Marktentwicklungen, so sollten extreme Auswirkungen auf die Kaufpreisanpassung möglichst ausgeschlossen werden. Dies kann etwa durch enge Regelungen der Kaufpreisanpassungsmechanik oder in Einzelfällen durch die Vereinbarung absoluter Beträge erfolgen.
Daneben kann die Einbindung von forensischer Erfahrung in das Financial-Due-Diligence-Team hilfreich sein, um Streitpotentiale frühzeitig zu identifizieren. Erfahrungswerte aus Rechtsstreitigkeiten, so aus bestimmten Branchen, sind in vielen Fällen ein guter Indikator für besonders anfällige Bilanzierungsthemen. Und dieses Wissen ist ein wichtiger erster Schritt zur Vermeidung eines Post-M&A-Rechtsstreits.
Hinweis der Redaktion: Die genannte Studie ist von Accuracy durchgeführt worden. Weitere Informationen dazu erhalten Sie bei den Autoren dieses Beitrags. (tw)
ekaterina.lohwasser@accuracy.com