Zwischen Wandel und Herausforderung

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Die Wirtschaftswelt befindet sich inmitten einer digitalen Transformation, die von global agierenden „Big Data“-Unternehmen und Onlineplattformen getrieben wird. Handels- und Marktplätze, Wertschöpfungsketten, Werbung und Währung, Bezahlung und Belieferung – sämtliche Pfeiler der Wirtschaftsordnung befinden sich im radikalen Wandel. Naturgemäß hat dies erhebliche Auswirkungen auf die Rechtsordnung, die sich in gleichermaßen hohem Tempo anpassen muss. Insbesondere das Kartellrecht, das Ludwig Erhard einst das „Grundgesetz der Marktwirtschaft“ nannte, steht vor gewaltigen Herausforderungen. Wie geht man mit Algorithmen um, die – einmal programmiert – möglicherweise ganz von allein Preise absprechen? Wie reagiert man auf die Omnipräsenz der Internetgiganten? Wie bewertet und misst man die Marktstärke von Plattformen und sozialen Netzwerken? Sind die bisherigen Instrumente der Kartellwächter, Kartellverbot und Marktmachtmissbrauch, veraltet, oder greifen sie zu kurz?
Doch nicht nur der Gesetzgeber muss sich diesen Fragen stellen, auch Unternehmen und ihre Complianceabteilungen müssen prüfen, ob die Strukturen, die für die „alte Welt“ geschaffen wurden, auch im neuen Zeitalter effektiv Zuwiderhandlungen vorbeugen. Gleichzeitig bietet die zunehmende Digitalisierung Chancen zur Effizienzsteigerung und Kostenminimierung, da nicht nur das Wirtschaften und etwaige Verstöße, sondern auch deren Prävention digitaler werden können.

Wettbewerbsrecht 4.0
Die Bundesregierung hat den Zeitenwechsel erkannt und sich im Koalitionsvertrag der „Modernisierung des Kartellrechts in Bezug auf die Digitalisierung und Globalisierung der Wirtschaftswelt“ (Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU, SPD für die 19. Legislaturperiode, Rn. 2755 ff.) verschrieben. Als rechtspolitische Plattform und Think-Tank hat sie früh etwa die „Kommission Wettbewerbsrecht 4.0“ eingesetzt, deren Ideen sich teilweise im aktuellen Regierungsentwurf der 10. GWB-Novelle wiederfinden, die als „GWB-Digitalisierungsgesetz“ (nachfolgend auch GWB-E) die programmatischen Schwerpunkte schon im Namen trägt und bereits in wenigen Wochen in Kraft treten soll.
Der Gesetzentwurf versucht, behutsam und punktuell auf die veränderten Bedingungen der Digitalwirtschaft zu reagieren. Insbesondere enthält der Entwurf substantielle Verschärfungen der Missbrauchsaufsicht. Neu ist etwa die Definition von Intermediationsmacht, also Marktmacht bei der Vermittlung von Diensten über eine Plattform (§ 18 Abs. 3b GWB-E). Eine Klarstellung findet sich auch in Bezug auf die Abhängigkeit von Datenbeständen, die anderen Unternehmen zugänglich gemacht werden müssen, wenn diese für die eigene Tätigkeit darauf angewiesen sind (§ 20 Abs. 1a GWB-E). Verboten werden soll künftig ferner die Behinderung von Wettbewerbern, eigenständig Netzwerkeffekte über Plattformen zu erzielen (§ 20 Abs. 3a GWB-E) – diese Vorschrift dürfte sich direkt an die großen Internetkonzerne richten.
Eine der innovativsten Neuerungen sieht der Entwurf mit der Einführung des § 19a GWB-E vor. Die Vorschrift gibt dem Bundeskartellamt ein Instrument an die Hand, mit dem es in einem zweistufigen Verfahren zunächst feststellen kann, ob ein Unternehmen eine „überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb“ hat. Dies ermöglicht einen effektiveren und klareren Rahmen für die kartellrechtliche Erfassung digitaler Plattformunternehmen und ihres Einflusses auf das Verhalten und die Aufmerksamkeit von Verbrauchern. Der Gesetzentwurf akzeptiert damit, dass es neuartige Formen von Marktmacht (etwa durch Lenkungsfunktionen) gibt, insbesondere wenn Unternehmen eine „Gatekeeper“-Rolle innehaben. Auch lässt der Entwurf Raum für eine Ergänzung der Faktoren, die eine solche wettbewerbliche Bedeutung indizieren, wie den Zugang zu Daten oder gegebenenfalls auch die Interaktionszeit mit Nutzern. Ist die „überragende marktübergreifende Bedeutung“ festgestellt, greifen in einem zweiten Schritt Rechtsfolgen, die zum Teil die neuere Entscheidungspraxis berücksichtigen. Das Bundeskartellamt kann solchen Unternehmen etwa die (ungerechtfertigte) Selbstbevorzugung, ein „Aufrollen“ noch nicht beherrschter Märkte, die Nutzung von Daten zur Marktverschließung, die Erschwerung der Interoperabilität oder Datenportabilität oder die Informationszurückhaltung untersagen. Es wird bei der praktischen Umsetzung dieser – grundsätzlich begrüßenswerten – Ergänzung der Vorschrift hinsichtlich der bekannten Formen von Marktmacht entscheidend darauf ankommen, ob bei Anwendung der Vorschrift die erforderliche Trennschärfe und Konkretisierung der Tatbestandsmerkmale erreicht werden kann.
Die GWB-Novelle sieht neben Verschärfungen aber auch die Stärkung von Kooperationen vor. So sollen Unternehmen mit erheblichem Interesse einen Anspruch auf eine Entscheidung des Bundeskartellamts über die kartellrechtliche Zulässigkeit ihrer Kooperation innerhalb von sechs Monaten haben ­
(§ 32c Abs. 4 GWB-E). Die Bedeutung dieser Vorschrift, die ein zügiges Verfahren ermöglichen würde, ist infolge der Erfahrungen während der Covid-19-Pandemie noch sichtbarer geworden.
Insgesamt stellt sich wegen der Schnelllebigkeit der Digitalwirtschaft aber die grundsätzliche Frage nach der Geeignetheit der bestehenden Verfahrensformen des Kartellrechts. In Ansätzen versucht der Gesetzgeber auch hier, Antworten zu liefern (etwa mit den Erleichterungen für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen in § 32a GWB-E). Doch die Praxis zeigt, dass das Behördenverfahren noch zu zäh ist und die nach teils jahrelangen Verfahren getroffenen Entscheidungen nicht mehr zu den bis dahin mehrfach veränderten Marktgegebenheiten passen. Sehr plastisch verdeutlicht dies das Vorgehen eines Amazon-Marketplace-Händlers, dem das Landgericht Frankfurt am Main Anfang 2019 innerhalb kürzester Zeit zivilrechtlich Eilrechtsschutz gewährte (LG Frankfurt am Main, 02.01.2019 – 3-06 O 103/18), während das Bundeskartellamt mit der Einleitung der kartellbehördlichen Untersuchung erst Ende 2020 begann, tätig zu werden.

Europarechtliche Reformen
Auch der Unionsgesetzgeber sieht die Notwendigkeit grundlegender Reformen. Die Europäische Kommission plant im Rahmen ihrer „Agenda für Europa“ etwa die Einführung eines „Digital Services Act“, um einen Regelungsrahmen für die Erbringung digitaler Dienstleistungen auf EU-Ebene zu schaffen. Kodifiziert werden soll etwa, was in jüngeren Entscheidungen der Unionsgerichte bereits anklang, und zwar die Haftung für Plattformbetreiber. Auch soll die Interoperabilität gestärkt werden, um (negativen) Netzwerkeffekten entgegenzuwirken und kleineren Anbietern den Marktzugang zu erleichtern. Spannend sind die Diskussionen rund um die Einführung einer neuen supranationalen europäischen Aufsichtsbehörde.
Zudem soll mit dem „Digital Markets Act“ eine Art Ex-ante-Regulierung für digitale „Gatekeeper“ geschaffen werden, um frühzeitig Situationen erfassen zu können, bei denen regulatorische Probleme in der Zukunft absehbar sind. Die Zielrichtung zeigt dabei Ähnlichkeiten mit den Reformbestrebungen der 10. GWB-Novelle im Rahmen des § 19a GWB-E auf. Zunächst geht es um die Definition des „Gatekeepers“, der zum Beispiel Betreiber von Onlinemarktplätzen, App-Stores, sozialen Netzwerken oder Suchmaschinen sein kann. Ähnlich wie im deutschen Entwurf können solchen Unternehmen bestimmte Verhaltensweisen in einem zweiten Schritt untersagt werden, die (ungerechtfertigte) Selbstbegünstigung, der Missbrauch von Nutzerdaten, die Vereinbarung überschießender Konditionen etc. Auf der anderen Seite sollen Verhaltenspflichten wie etwa der diskriminierungsfreie Zugang zu Daten möglich sein.
Schon Mitte Dezember 2020 sollen erste Entwürfe der Gesetzesvorhaben veröffentlicht werden, die endgültige Verabschiedung ist allerdings erst für Mitte 2022 geplant.

Compliance im digitalen Zeitalter
Sowohl die sich stetig und rasch verändernden Marktrealitäten als auch die gesetzgeberischen Reformpläne haben Auswirkungen auf die Compliancestrukturen von Unternehmen. Die Bedeutung der Kartellrechtscompliance nimmt dabei zu. So enthält die 10. GWB-Novelle auch Neuerungen hinsichtlich einer Compliance-Defence. § 81d Abs. 1 Nr. 5 GWB-E sieht erstmals ausdrücklich die Berücksichtigung von Compliancemaßnahmen bei der Bußgeldzumessung vor. Dies ist begrüßenswert, greift jedoch in seiner jetzigen Form zu kurz, da lediglich das Nachtatverhalten erfasst zu sein scheint.
Unabhängig davon macht der zunehmende Erfolg effektiver Complianceprogramme sie bei der Prävention von Kartellrechtsverstößen aber zu einem unabdingbaren Bestandteil der Unternehmensorganisation. Digitale Technologien bringen dabei auch im Rahmen der Compliancebestrebungen neue Chancen und Risiken mit sich.
Die Reformbestrebungen zeigen auf nationaler und europäischer Ebene, dass sich Internetunternehmen künftig einer Reihe von veränderten Vorgaben ausgesetzt sehen, die mangels definitorischer Trennschärfe und Entscheidungspraxis zunächst ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit mit sich bringen werden. Die Anforderungen an die interne Due Diligence steigen, denn Unternehmen müssen zum einen prüfen, ob sie die Kriterien eines „Gatekeepers“ erfüllen, ohne gleichzeitig marktbeherrschend zu sein, und zum anderen interne Vorgaben hinsichtlich der neuartigen verbotenen Verhaltensweisen und etwaigen Verhaltenspflichten machen – die Mitarbeiter sind entsprechend zu sensibilisieren und zu schulen und müssen unter Umständen das bisherige Marktverhalten erheblich umstellen. Auch die geplante Haftungserweiterung auf unionsrechtlicher Ebene dürfte für Plattformbetreiber zu einem deutlich erhöhten Bedarf an neuen Compliancevorgaben führen. Hier spielen bereits vorhandene Tendenzen in der Entscheidungspraxis bezüglich der Mithaftung in Lieferketten und für Geschäftspartner ebenfalls eine wichtige Rolle.
Darüber hinaus dürfte auch die Verwendung von Algorithmen immer wichtiger werden – mit steigender Bedeutung auch für den Wettbewerb. Sowohl im horizontalen Verhältnis bei etwaigen Erleichterungen der Koordination als auch in vertikaler Hinsicht im Umgang mit vor- und nachgelagerten Geschäftspartnern dürften hier künftig kartellrechtlich relevante Konstellationen an Anzahl und Bedeutung zunehmen. Die bloße Sensibilisierung der Mitarbeiter genügt hier möglicherweise nicht, sondern es bedarf gegebenenfalls einer grundsätzlichen Durchdringung der technischen Funktionsweise der im Tagesgeschäft verwendeten Algorithmen.
Die Zusammenarbeit von Unternehmen nimmt im Rahmen der Digitalisierung ebenfalls zu, die erleichterten Bedingungen, die die 10. GWB-Novelle vorsieht, dürften diesen Trend noch beschleunigen. Das Bundeskartellamt gab schon vor zwei Jahren an, dass es mehr „Anfragen zur Bildung von Kooperation zwischen Industrieunternehmen [erhalte]“, deren „Fokus häufig Plattformmodelle zu einer verbesserten digitalen Vernetzung von Marktteilnehmern [sei]“ (Bundeskartellamt, Fallbericht vom 27.02.2018, B5-1/18-001, S. 1). Bei dem gemeinsamen Betrieb derartiger Plattformen rücken insbesondere Ringfencing-Maßnahmen und Barrieren für den Informationsfluss vermehrt in den Fokus.
Andererseits bietet die Digitalisierung erhebliche Effizienz- und Einsparpotentiale. Sie vereinfacht etwa die Durchsetzung des Compliancesystems in Form von E-Learning-Angeboten und Webinaren, die durch digitale Tools interaktiv gestaltet werden können. Gleichzeitig sind sowohl automatisierte Konzeptionen für neue Mitarbeiter zur Sensibilisierung für die kartellrechtliche Compliancestruktur als auch anlassbezogene Schulungen außerhalb des unternehmensinternen üblichen Turnus möglich. Dies sorgt für eine – wie die aktuelle Covid-19-Pandemie aufzeigt – gesteigerte Flexibilität des Unternehmens gegenüber den zuvor üblichen und aufwendigeren Präsenzveranstaltungen.
Profitieren kann das Compliancemanagement im digitalen Zeitalter auch etwa durch den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) in Verbindung mit Analysen von Datensätzen (Data-Analytics) zur schnellen und kostengünstigen Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten. Ferner dient die Nutzung von Blockchaintechnologien zur lückenlosen Nachvollziehbarkeit von Transaktionen oder der Überwachung der Einhaltung von Verträgen.

Fazit
Die Kartellrechtswelt steht im Zuge der rasant fortschreitenden Digitalisierung vor einem Zeitenwandel mit großen Herausforderungen sowohl für die Kartellbehörden als auch für die Unternehmen und ihre Compliancestrukturen. Die anstehenden Reformen können zunächst zu Rechtsunsicherheit für die Unternehmen und betroffenen Mitarbeiter führen. Dies dürfte eine regelmäßige Aktualisierung von Complianceprogrammen in kürzeren Abständen als bislang erforderlich machen. Der Bedarf an interner Guidance wird insbesondere für Unternehmen mit Bezug zur Digitalwirtschaft zunehmen.
Gleichzeitig bietet der technologische Wandel auch Chancen. Compliance kann effizienter, schneller und präziser umgesetzt werden. Mangels etablierter Entscheidungspraxis können die Kartellbehörden zudem in engem Dialog in der Rechtsfortbildung begleitet werden, um einen Interessenausgleich zwischen den praktischen Erfordernissen der Realwirtschaft auf der einen und der notwendigen Aufrechterhaltung des Schutzes von Wettbewerb auch im digitalen Zeitalter auf der anderen Seite zu schaffen.

kaan.guerer@linklaters.com

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