Die neue VO (EU) 2018/858
Für einige Marktbeobachter scheinen große Teile der Automobilindustrie neuerdings unter Generalverdacht zu stehen. Das Thema „Marktüberwachung von Kraftfahrzeugen und Komponenten“ hat als regulatorische Reaktion auf die in der Öffentlichkeit teilweise äußerst emotional diskutierte Dieselabgasthematik stark an Bedeutung gewonnen. Wie es scheint, sind einige OEMs und Komponentenhersteller von den Ausmaßen der negativen Kettenreaktionen infolge behaupteter technischer Nichtkonformität mehr oder weniger kalt erwischt worden. Gleiches dürfte für die EU-Kommission gelten, die nun ihr regulatorisches Waffenarsenal verschärft hat und bei einer gesamten Branche die Daumenschrauben anzieht.
Seit dem 01.09.2020 gilt die neue Verordnung (EU) 2018/858 über die Typgenehmigung und Marktüberwachung von Kraftfahrzeugen (Rahmenverordnung) in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union unmittelbar und ersetzt die die Richtlinie 2007/46/EG. Neben einer Aktualisierung der Typgenehmigungsvorschriften wurde besonderes Augenmerk auf die Verschärfung der Marktüberwachung gelegt. Alle Mitgliedsstaaten der EU wurden mit der neuen Rahmenverordnung zu einer aktiven Marktüberwachung von Kraftfahrzeugen verpflichtet. Hersteller von Kraftfahrzeugen und Komponenten sind gut beraten, sich auf die rechtlichen Herausforderungen der neuen Rahmenverordnung einzustellen.
Ziele der Rahmenverordnung: Intensivierung der Überprüfung von Fahrzeugen im Feld
Regulatorisches Ziel der Rahmenverordnung ist die Stärkung der Marktüberwachung. Zweck der Marktüberwachung ist es sicherzustellen, dass die auf dem Markt befindlichen Kraftfahrzeuge zum einen mit den einschlägigen (technischen) Vorschriften der Europäischen Union übereinstimmen und zum anderen keine Gefahr für Gesundheit, Sicherheit, Umwelt oder andere im öffentlichen Interesse stehenden Belange darstellen.
Marktüberwachung wird in der Regel in die Bereiche Produktsicherheit, Konformitäts- und Feldüberwachung sowie Ordnungswidrigkeiten und Sanktionen unterteilt, wobei die Bereiche thematisch miteinander verbunden sind. Die Hauptpunkte der neuen Rahmenverordnung in diesem Zusammenhang sind:
Steigerung von Unabhängigkeit und Qualität der Tests vor der Zulassung
regelmäßige Kontrollen von Fahrzeugen, die bereits auf dem Markt sind
intensivierte Marktüberwachung auch durch die Europäische Kommission sowie europaweite behördliche Koordinierung
Herstellerpflichten
Die neue Rahmenverordnung enthält in Art. 13 allgemeine Herstellerpflichten, die in Art. 14 durch besondere Pflichten in Fällen von Nichtkonformität oder ernster Gefahr ergänzt werden. Als wichtigsten Punkt statuiert die Rahmenverordnung eine Legalitätspflicht im Rahmen der Herstellerverantwortung: Die Hersteller haben sicherzustellen, dass die Fahrzeuge und Komponenten, die sie hergestellt haben und die in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen wurden, gemäß den (technischen und rechtlichen) Anforderungen der Rahmenverordnung hergestellt und genehmigt worden sind. Die Hersteller sind gegenüber den Genehmigungsbehörden für alle Aspekte des Genehmigungsverfahrens und für die Sicherstellung der Übereinstimmung der Produktion (siehe unten) verantwortlich. Die Hersteller sind insbesondere verpflichtet, jede eingegangene Beschwerde über Risiken oder Complianceprobleme ihrer Fahrzeuge zu überprüfen. Im Fall von Nichtkonformität oder ernster Gefahr statuiert die Rahmenverordnung zudem Pflichten zur Durchführung von Abhilfemaßnahmen sowie proaktive Mitteilungs- und Informationspflichten gegenüber den zuständigen Behörden. Außerdem statuiert die Rahmenverordnung (wie auch ihre Vorgängerrechtsakte) ein explizites Verbot von unerlaubten Strategien im Fall von sogenannten Abschalteinrichtungen.
Ergänzung des Typgenehmigungsrechts und „Conformity of Production“ (COP)
Die Regeln des bestehenden Typgenehmigungsverfahrens blieben im Kern erhalten. Die Übereinstimmung der Produktion (COP) ist einer der Eckpfeiler des EU-Typgenehmigungssystems. Die Hersteller sind verpflichtet, Verfahren einzurichten, um sicherzustellen, dass die Produktion von Fahrzeugen und Komponenten stets in Übereinstimmung mit dem genehmigten Typ erfolgt. Die vom Hersteller getroffenen COP-Vorkehrungen sollen von der zuständigen Behörde genehmigt sowie unabhängig und regelmäßig nachgeprüft werden. Überprüft werden behördenseitig nicht nur die Produktionsprozesse, sondern auch die hergestellten Produkte. Es ist zu erwarten, dass im Bereich der COP die Anforderungen an die Hersteller in den nächsten Jahren, insbesondere durch eine intensivierte Behördenpraxis, erheblich verschärft werden. Die unternehmensinternen COP-Prozesse sollten herstellerseitig regelmäßig überprüft und optimiert werden.
Neue Intensität der Marktüberwachung mit hohen Geldbußen und EU-weiter Geltung
Angesichts der zu erwartenden hohen Sanktionen und EU-weit (einheitlich) zu vollziehenden behördlichen Aufsichtsmaßnahmen (Rückrufe, Betriebsuntersagungen, Widerruf der Typgenehmigung) bei Nichtkonformität von Kraftfahrzeugen bringt die neue Rahmenverordnung eine neue Intensität der bereichsspezifischen Marktüberwachung mit sich. Durch die präzisierten Schutzklauseln bei Nichtkonformität und ernster Gefahr gemäß Art. 51 ff. werden unionsweit einheitliche Rechtsfolgen ermöglicht. Insbesondere werden einheitlich verpflichtende Rückrufe auf der Basis eines entsprechenden Durchführungsrechtsakts in der gesamten EU umgesetzt werden können. Die alte Rechtslage sah die Umsetzung von Rückrufen in der ausschließlichen Zuständigkeit des jeweiligen Mitgliedsstaats vor. Verstöße gegen die Bestimmungen der Rahmenverordnung können neben dem Verlust der Verkehrsfähigkeit der Fahrzeuge zu empfindlichen Haftungsfolgen und Sanktionen, namentlich zu Geldbußen in Höhe von bis zu 30.000 Euro pro Kraftfahrzeug (!), für Hersteller führen.
Intensivierung der Marktüberwachung in Deutschland
Für die nationale Umsetzung der Marktüberwachung ist in der Bundesrepublik Deutschland das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) zuständig. Als Reaktion auf die Dieselabgasthematik hat das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) den Aufbau eigener staatlicher Prüfstände beim KBA veranlasst. Insofern hat man beim KBA in jüngster Zeit aufgerüstet und zahlreiche eigene Prüfgeräte zur mobilen Emissionsmessung (PEMS) beschafft. Ferner wurde ein eigenes Prüflabor mit zwei Abgasrollenprüfständen beim KBA eingerichtet. Im Zusammenhang mit zusätzlichen Teststrecken für eigene Prüffahrten des KBA eröffnen sich insgesamt erweiterte Möglichkeiten zur intensivierten Prüfung von Sicherheits- und Umweltaspekten.
Fazit
Zusammengefasst sind folgende Punkte für Hersteller hervorzuheben:
Durch intensivierte Marktüberwachung von Fahrzeugen im Feld werden Behörden, wie beispielsweise das Kraftfahrt-Bundesamt in Deutschland, in der gesamten EU länderspezifisch genauer und strukturierter prüfen.
Product-Compliance bekommt eine noch höhere Relevanz.
Der Impact hoher Bußgelder und unionsweit einheitlicher behördlicher Maßnahmen (Rückrufe) ist erheblich.
Empfehlungen
Hersteller von Kraftfahrzeugen sollten sich auf die organisationsrechtlichen Herausforderungen der neuen Rahmenverordnung einstellen. Die Einhaltung der „technischen Vorschriften“ hat oberste Priorität für die Verkehrsfähigkeit der Fahrzeuge und die Abwehr von rechtlichen Risiken als Kettenreaktion infolge behaupteter produktbezogener Nichtkonformität oder ernster Gefahr.
Behördliche Überprüfungsmaßnahmen sind durch Anpassung der unternehmensinternen Complianceprozesse und Governance-Strukturen der Hersteller entsprechend zu antizipieren und vorzubereiten. Complianceprozesse und Governance-Strukturen sind im Unternehmen als Führungsaufgabe insgesamt zu ertüchtigen und maßgeschneidert auf die neuen organisatorischen und rechtlichen Herausforderungen der Product-Compliance des jeweiligen Herstellers abzustimmen. Idealerweise bietet sich die Schaffung von unternehmensinternen Gremien beim Hersteller zur sachgerechten und zeitnahen Bearbeitung der regulatorischen und technischen Herausforderungen, etwa in Gestalt von Complianceausschüssen oder Task-Forces, an. Schlussendlich sollten auch die vertraglichen Beziehungen zu Zulieferern, etwa in Gestalt der Einkaufsbedingungen, überprüft und die regulatorischen Herausforderungen in der Lieferkette berücksichtigt werden.