Im Blickpunkt: die neue Schadenersatzrichtlinie der EU-Kommission
Von Dr. Daniela Seeliger, LL.M., und Kaan Gürer, LL.M.
Starker Anstieg von Schadenersatzklagen
„Bittere Zeiten für das Zuckerkartell“ – Schlagzeilen wie dieser (F.A.Z. vom 29.08.2015) begegnet man in der Presse mittlerweile regelmäßig. Den drei großen deutschen Zuckerproduzenten stehen wegen kartellbedingt überhöhter Preise Schadenersatzklagen in Millionenhöhe bevor. Die Deutsche Bahn macht gegen zahlreiche Fluggesellschaften aufgrund des Luftfrachtkartells Ersatzansprüche von bis zu 3 Milliarden Euro geltend – allein gegen die Lufthansa wurden in sechs Ländern Schadenersatzklagen eingeleitet. Und wegen des Schienenkartells hat sich wiederum die Deutsche Bahn mit einem Unternehmen auf Schadenersatz von knapp 100 Millionen Euro verglichen. Manche Unternehmen finden sich auf beiden Seiten wieder: sowohl als Kläger hinsichtlich erlittener Schäden als auch als Beklagte wegen ihrer Beteiligung an einem Kartell.
Während sich längst herumgesprochen hat, dass Kartellverstöße empfindliche Geldbußen zur Folge haben können, sind Schadenersatzklagen von Kartellopfern über schwindelerregende Summen ein vergleichsweise neues Phänomen. Die Presse berichtet dabei vorwiegend über diejenigen Klagen, bei denen auf beiden Seiten Großkonzerne stehen. Auf Klägerseite spielt die Deutsche Bahn dabei eine Vorreiterrolle. Allerdings sind die Klagen, denen die mediale Aufmerksamkeit gilt, nur die Spitze des Eisbergs. Die Anzahl der Klagen steigt beständig. Rechtskräftige Urteile sind allerdings noch immer eine Seltenheit. Die Mehrzahl der Fälle wird anders geregelt, nämlich meist einvernehmlich, beispielsweise dann, wenn beide Seiten Interesse am Fortbestehen guter Geschäftsbeziehungen haben.
Nicht nur in Deutschland ist ein Trend zu Schadenersatzklagen in Kartellfällen zu beobachten. Zwar ist nirgendwo in Europa die Situation vergleichbar mit der in den USA, wo das sogenannte „Private Enforcement“ die Hauptrolle bei der Bekämpfung von Kartellen spielt. Die Zahl der Klagen ist aber in den meisten EU-Staaten deutlich angestiegen. So wird bei internationalen Kartellen nach Großbritannien vielfach Deutschland als Gerichtsstand gewählt, da die deutsche Justiz als effizient und im internationalen Vergleich kostengünstig gilt.
Erleichterungen durch 7. GWB-Novelle und EU-Schadenersatz-Richtlinie
Ausgelöst wurde die Entwicklung in Europa 2001 durch das „Courage“-Urteil des EuGH (C-453/99, 20.09.2001), wonach „jedermann“ Anspruch auf Ersatz des Schadens durch einen Kartellverstoß hat. Die sogenannte Ashurst-Studie im Auftrag der EU-Kommission stellte noch 2004 fest, dass die kartellrechtlichen Schadenersatzregelungen innerhalb der EU „unterentwickelt“ seien. Das ist nun anders. Bedeutenden Einfluss hatte dabei die 7. GWB-Novelle von Juli 2005, die in Deutschland eine Reihe von Erleichterungen für Schadenersatzklagen bei Kartellverstößen einführte. Nach mehreren Anläufen und jahrelangen Beratungen ist schließlich am 26.11.2014 die EU-Schadenersatz-Richtlinie verkündet worden, die zahlreiche weitere Erleichterungen für die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen bringen soll. Sie muss von allen Mitgliedstaaten bis zum 27.12.2016 umgesetzt werden.
Dem deutschen Recht bislang fremd sind Neuregelungen in der Richtlinie, die eine Privilegierung von kleinen und mittleren Unternehmen sowie insbesondere von Kronzeugen vorsehen. Während die am Kartell beteiligten Unternehmen grundsätzlich gesamtschuldnerisch haften, so dass der Geschädigte von einem einzelnen Kartellbeteiligten den Ersatz des vollen Schadens verlangen kann, sollen Kronzeugen nach den Vorgaben der Richtlinie künftig im Normalfall nur gegenüber ihren eigenen direkten und indirekten Kunden haften.
Neue Formen von Kollektivklagen, aber keine amerikanischen Verhältnisse
Eine grundlegende Änderung würde sich ergeben, wenn in der EU echte Sammelklagen („Class Actions“) erlaubt würden. Sie sind vor allem bei Schäden der Verbraucher, die häufig nur geringe Beträge ausmachen, von Bedeutung. So beliefen sich beim Vitaminkartell die Schäden jedes einzelnen Verbrauchers wegen überhöhter Vitamin-C-Preise etwa bei Getränken, Schokolade oder Süßigkeiten nur auf wenige Euro. Die EU-Kommission hat am 11.06.2013 eine nicht bindende Empfehlung veröffentlicht, die die Mitgliedstaaten auffordert, Kollektivklagen zum Schutz der Verbraucher zuzulassen. Dabei sollen „amerikanische Verhältnisse“ vermieden werden. Deshalb soll es keinen sogenannten Strafschadenersatz („Punitive Damages“), keine Pre-Trial-Discovery und kein Erfolgshonorar für Rechtsanwälte geben. Klagebefugt sollen nur anerkannte (Verbraucherschutz-)Organisationen sowie Behörden sein. Die Klage soll, anders als im amerikanischen Recht, nur für die Geschädigten gelten, die der Klage ausdrücklich beigetreten sind („Opt-in“).
Die Bundesregierung wird keine solchen Kollektivklagen für Schadenersatzansprüche einführen. Es bleibt also dabei, dass in Deutschland der Schaden der Verbraucher formal nicht en bloc geltend gemacht werden kann. Ein Abtretungsmodell, in dem Kartellopfer ihre Schadenersatzansprüche durch ein einzelnes Klagevehikel gebündelt durchsetzen, ist in Deutschland dagegen grundsätzlich weiterhin möglich, solange der Kläger ausreichend kapitalisiert ist (vgl. „CDC“-Urteil des OLG Düsseldorf vom 18.02.2015). Auch sofern einzelne Mitgliedstaaten Sammelklagen übernehmen, wie es etwa in Frankreich vorgesehen ist, müssen sich bei internationalen Kartellen deutsche Unternehmen auf Klagen in diesen Ländern einstellen. Vollständige Sicherheit wird es also nicht geben.
Letztlich spricht bislang wenig dafür, dass Schadenersatzklagen in Deutschland zu dem bestimmenden Element der Sanktion von Kartellverstößen werden, wie dies beispielsweise in den USA der Fall ist. Wohl immer wird es sich um sogenannte Follow-on-Klagen handeln, so dass in der Reihenfolge zunächst die Behörde eine Geldbuße verhängen wird und erst danach etwaige Schadenersatzklagen gegen die Kartellunternehmen folgen. Wichtig ist vor allem, dass es die gefürchteten Class Actions in der Form, in der sie in den USA möglich sind, wohl bis auf weiteres weder in Deutschland noch sonst in der EU geben wird.
Auch bei Individualklagen ist keine Klagewelle nach US-amerikanischem Vorbild zu befürchten. Der Hauptgrund dafür sind die Schwierigkeiten beim Nachweis des konkreten Schadens. Dieser ist die Differenz zwischen der Vermögenssituation, die aufgrund des Kartells tatsächlich eingetreten ist, und derjenigen, die sich hypothetisch ohne das Kartell ergeben hätte. Insbesondere diese hypothetische Vermögenslage ist häufig schwierig oder gar nicht nachzuweisen, das Kostenrisiko für den Kläger ist somit gegebenenfalls hoch.
Möglicher Regress gegen die verantwortlichen Personen
Für die kartellbeteiligten Unternehmen, gegen die eine Geldbuße verhängt wurde, ist wiederum die Frage interessant, ob ein Unternehmen bei demjenigen, der den Kartellverstoß schuldhaft begangen hat, Regress nehmen kann. Geäußert hat sich hierzu das LAG Düsseldorf in seiner Entscheidung vom 20.01.2015, in der es um Summen in dreistelliger Millionenhöhe ging. Das Gericht hat sich dabei sowohl mit der Abwälzung der Geldbuße als auch mit dem gegenüber den Geschädigten zu leistenden Schadenersatz auseinandergesetzt. Es entschied, dass eine Kartellgeldbuße wegen der gesetzgeberischen Wertung nicht abgewälzt werden könne. Anders sah das LAG dies hingegen im Hinblick auf Schadenersatzforderungen, denen das Unternehmen ausgesetzt ist. Bei diesen handele es sich um einen „normalen“ Schaden, den der Handelnde innerhalb des Unternehmens nach allgemeinen Grundsätzen erstatten müsse.
Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen, und es bleibt abzuwarten, wie in nächster Instanz das BAG entscheiden wird. Dennoch dürften Regressansprüche der Unternehmen gegen die Handelnden wegen Schadenersatzleistungen in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Die Anforderungen sind hoch. Denn die Unternehmen müssen die tatsächliche persönliche Verantwortlichkeit des Handelnden und dessen aktive und pflichtwidrige Beteiligung an der Kartellabsprache konkret darlegen und beweisen. Die Unternehmen müssen diesen Umstand daher künftig stärker bereits im Vorfeld in der Ausgestaltung ihrer Complianceprogramme berücksichtigen.
Fazit
Die Möglichkeit von Schadenersatzklagen stellt inzwischen auch hierzulande ein ernsthaftes Risiko für alle an einem Kartell beteiligten Unternehmen dar. Hierauf muss sich jedes Unternehmen einstellen, wenn es einen Kartellverstoß bei sich aufdeckt. Es muss nicht nur die zu erwartende Geldbuße, sondern auch denkbare Schadenersatzansprüche frühzeitig in seinen strategischen Überlegungen berücksichtigen. Vor dem Hintergrund der Schadenersatz-Richtlinie der EU-Kommission hat das Thema Schadenersatz in Kartellfällen weiter an Prominenz gewonnen. Complianceabteilungen sehen sich dadurch einer Vielzahl neuer Rechtsfragen gegenüber, und etwaige Follow-on-Klagen müssen zwangsläufig stärker in die Compliancearbeit einbezogen werden.
daniela.seeliger@linklaters.com
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