EuGH: Kartellrechtliche Kronzeugenregelungen von Union und Mitgliedstaaten sind unabhängig voneinander anwendbar/Anträge sollten synchron gestellt werden
Von Dr. Helmut Görling und Christian Schönbach
Die 2. Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat mit Urteil vom 20.01.2016 (Az. C-428/14) klargestellt, dass die unterschiedlichen kartellrechtlichen Kronzeugenregelungen im Europäischen Wettbewerbsnetz (ECN) unabhängig voneinander gelten und keine wechselseitigen rechtlichen Konsequenzen für die einzelnen Wettbewerbsbehörden untereinander auslösen. Das ECN-Kronzeugenregelungsmodell sei für nationale Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich. Somit stehen kartellrechtliche Kronzeugenanträge auf nationaler Ebene („Kurzantrag“) eigenständig neben solchen auf EU-Ebene. Dies sei Ausdruck des Systems paralleler Zuständigkeiten von EU-Kommission und nationalen Wettbewerbsbehörden für Wettbewerbsverstöße.
„Wer zuerst kommt … !“
Kartellrechtliche Kronzeugenregelungen stellen den vollständigen Erlass der drohenden Geldbuße demjenigen Unternehmen in Aussicht, das an einem Kartell mitwirkt und sich als Erstes proaktiv an eine europäische Wettbewerbsbehörde zum Zweck der Kartellaufdeckung wendet. Läuft ein Unternehmen – aus welchen Gründen auch immer – nicht als Erstes in den „rettenden Hafen“ der bußgeldbefreienden Kronzeugenregelung ein, kann es allenfalls auf einen teilweisen Erlass hoffen. Dieser Wettlauf um den ersten Platz schafft innerhalb der Kartelle ein Klima der Unsicherheit und hat sich in der Vergangenheit als effektives Mittel zur Aufdeckung zahlreicher Kartelle erwiesen. Das allen Kronzeugenregelungen innewohnende Prioritätsprinzip spielte auch in dem jüngst vom EuGH entschiedenen Fall „DHL Express (Italy) Srl/Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (AGCM)“ eine bedeutende Rolle.
Für einen erfolgreichen Kronzeugenantrag ist neben dem Wann auch das Wie von entscheidender Bedeutung. Damit ein Unternehmen in den Genuss eines vollständigen Bußgelderlasses oder wenigstens einer Bußgeldermäßigung kommt, muss ein Kronzeugenantrag vollständig gestellt werden, ohne Aussparung von Kartellteilen. Auch diese Voraussetzung eines erfolgreichen Kronzeugenantrags schlug im vorliegenden Fall durch.
Was war geschehen?
In den Jahren 2007 und 2008 stellten die Logistikunternehmen DHL Express (Italy) Srl sowie DHL Global Forwarding (Italy) SpA (zusammen: „DHL“), Agility Logistics Srl („Agility“) und Schenker Italiana SpA („Schenker“) sowohl bei der italienischen Wettbewerbs- und Kartellbehörde Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato („AGCM“) als auch bei der EU-Kommission gesonderte Kronzeugenanträge.
Im Juni 2011 bestätigte die AGCM, dass die antragstellenden Unternehmen an einem Kartell auf dem Sektor der internationalen Straßenfrachtverkehrsdienste von und nach Italien beteiligt waren, erließ aber lediglich Schenker die Geldbuße, da das Unternehmen mit seinem Kurzantrag vom 12.12.2007 – entsprechend dem Prioritätsprinzip der nationalen Kronzeugenregelung – zuerst zur Aufdeckung des Kartells beigetragen habe.
DHL und Agility wurden hingegen von der AGCM zur Zahlung (reduzierter) Geldbußen in Millionenhöhe verurteilt.
Hiergegen klagte DHL vor dem zuständigen Verwaltungsgericht, um die teilweise Nichtigkeitserklärung der streitigen AGCM-Entscheidung zu erreichen. DHL machte geltend, es hätte nicht nur im Kronzeugenprogramm auf EU-Ebene, sondern auch im Rahmen des nationalen Kronzeugenprogramms den ersten Rang erhalten müssen.
Dies ergebe sich aus dem von DHL gestellten Kronzeugenantrag bei der EU-Kommission, der zeitlich noch vor dem Kurzantrag von Schenker bei der AGCM gestellt worden sei. DHL machte geltend, die nationale Behörde sei nach den Grundsätzen des Unionsrechts verpflichtet, einen Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung unter Berücksichtigung des von derselben Gesellschaft bei der EU-Kommission gestellten „Hauptantrags“ auf Erlass der Geldbuße zu würdigen.
Tatsächlich hatte DHL am 05.06.2007 – also vor dem von Schenker bei der AGCM gestellten Kurzantrag – bei der EU-Kommission einen Antrag auf Erlass der Geldbußen, betreffend mehrere Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht der Union auf den Sektoren aller internationalen Frachtverkehrsdienste, also für den See-, Luft- und Straßenfrachtverkehr, gestellt. Parallel zum Kronzeugenantrag bei der EU-Kommission stellte DHL am 12.07.2007 – ebenfalls vor dem von Schenker bei der AGCM gestellten Kurzantrag – seinerseits einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße bei der AGCM.
Nach Ansicht der AGCM umfasste dieser Kurzantrag lediglich die Sektoren des internationalen See- und Luftfrachtverkehrs, nicht aber den Sektor des internationalen Straßenfrachtverkehrs. Im Juni 2008 beschloss die EU-Kommission, nur die Wettbewerbsverstöße auf dem Sektor des internationalen Luftfrachtverkehrs zu verfolgen und eröffnete somit der AGCM die Möglichkeit, Wettbewerbsverstöße in den Sektoren des internationalen See- und Straßenfrachtverkehrs zu verfolgen.
Gang des Verfahrens
Das mit der Sache befasste Verwaltungsgericht der Region Latium wies die Klage von DHL ab und stützte seine Entscheidung auf den Grundsatz, dass die verschiedenen Kronzeugenmodelle und die sich darauf beziehenden (Kurz-)Anträge eigenständig und voneinander unabhängig seien.
Dieses erstinstanzliche Urteil griff DHL unter anderem mit der Begründung an, die Entscheidung verstoße gegen die Grundsätze, die sich insbesondere aus der Bekanntmachung über die Zusammenarbeit und dem ECN-Kronzeugenregelungsmodell ergäben. Die Regelungen und Instrumente des ECN seien für die AGCM verbindlich, da diese eine zu dem ECN gehörende nationale Wettbewerbsbehörde sei.
Zur Klärung der aufgeworfenen Fragen hat der Staatsrat (Consiglio di Stato) das Verfahren ausgesetzt und den EuGH im Rahmen der Vorabentscheidung um Auslegung des Unionsrechts hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den verschiedenen – nebeneinander existierenden – Kronzeugenmodellen auf nationaler und europäischer Ebene gebeten.
Die Entscheidung des EuGH
Mit seiner Entscheidung erteilte der EuGH der von DHL vertretenen Rechtsauffassung eine Absage und führt damit seine kartellrechtliche Rechtsprechung konsequent fort (vgl. Urteil „Pfleiderer“, C-360/09, EU:C:2011:389, Rn. 21; Urteil „Kone u.a.“, C-557/12, EU:C:2014:1317, Rn. 36).
Die im Rahmen des ECN beschlossenen Instrumente einschließlich des Kronzeugenmodells seien für die nationalen Behörden – hier für die AGCM – nicht verbindlich, so der EuGH. Bei dem ECN handele es sich vielmehr um ein Diskussions- und Kooperationsforum für die Anwendung und Durchsetzung der Wettbewerbspolitik der Union. Hieraus ergebe sich keine Befugnis des ECN, rechtsverbindliche Regelungen zu erlassen.
Zudem sieht der EuGH keinen rechtlichen Zusammenhang zwischen einem bei der EU-Kommission und einem bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereichten (Kurz-)Antrag auf Erlass der Geldbuße bezüglich desselben Kartells. Daraus ergibt sich im vorliegenden Fall, dass die AGCM den von DHL bei ihr am 12.07.2007 – unter Aussparung des Kartells auf dem Sektor des internationalen Straßenfrachtverkehrs – gestellten Kurzantrag nicht im Licht eines weiter gefassten Kronzeugenantrags bei der EU-Kommission auslegen und beurteilen muss.
Ferner besteht auch keine Pflicht einer Wettbewerbsbehörde, die EU-Kommission zu kontaktieren, um eventuell weitergehende Informationen über den Gegenstand und die Ergebnisse des auf europäischer Ebene eingereichten Kronzeugenantrags zu erhalten.
Weil die im Rahmen des ECN beschlossenen Instrumente – wie auch das Kronzeugenregelungsmodell – für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht bindend sind, ergibt sich weiter, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde einen Kurzantrag eines Unternehmens auf vollständigen Erlass der Geldbuße auch dann entgegennehmen kann, wenn dasselbe Unternehmen parallel dazu bei der EU-Kommission keinen Antrag auf vollständigen Erlass, sondern nur auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt hat.
Handlungsempfehlung
Diese jüngste EuGH-Entscheidung zeigt, dass es eben nicht ausreichend ist, einen vermeintlich vollumfänglichen Antrag auf (vollständigen) Erlass der Geldbuße bei der EU-Kommission zu stellen, um in sämtlichen Jurisdiktionen der Union von den nationalen Kronzeugenregelungen profitieren zu können.
Kartellbeteiligte Unternehmen müssen vielmehr bei allen Wettbewerbsbehörden, die für die Anwendung von Art. 101 AEUV in dem von der wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung betroffenen Gebiet zuständig sind, eine Kronzeugenbehandlung beantragen, wenn sie diese in Anspruch nehmen wollen – und zwar am besten gleichzeitig, so dass die anderen am Kartell beteiligten Unternehmen dem eigenen Unternehmen auf nationaler Ebene nicht zuvorkommen können.
Kurz zusammengefasst für die Rechtspraxis
Der kartellrechtsrelevante Sachverhalt ist schnellstmöglich und vollumfänglich zu erarbeiten.
Anhand des Sachverhalts ist zu bestimmen, welche nationalen oder europäischen Wettbewerbs- und Kartellbehörden für einen Kronzeugenantrag auf Erlass eines Bußgelds zuständig sind. Der Kreis der in Frage kommenden Behörden muss im Zweifelsfall weiter gezogen werden. So kann das Risiko von bösen und teuren Überraschungen minimiert werden.
Mehrere Kronzeugenanträge müssen möglichst synchron gestellt werden, um zu verhindern, dass andere an dem Kartell beteiligte Unternehmen dem eigenen (später gestellten) Antrag auf nationaler Ebene zuvorkommen.
War ein anderes Kartellmitglied schneller mit einem Kronzeugenantrag, so besteht weiterhin die Chance oder Pflicht für das eigene Unternehmen, bei anderen zuständigen Wettbewerbsbehörden weitere Anträge auf Erlass oder Ermäßigung der Geldbuße zu stellen. Auch hier ist Eile geboten!