BAG zur gerichtlichen Hinweispflicht bei Formfehlern im elektronischen Rechtsverkehr

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Die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fehlern in der Rechtsanwendung des § 130a ZPO und der Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung (ERVV) hinsichtlich der Übermittlung kann mittlerweile als ständige Rechtsprechung von Bundessozialgericht (BSG), Bundesarbeitsgericht (BAG) und Bundesgerichtshof (BGH) bezeichnet werden. Das BAG hat in einer neuen Entscheidung (BAG, Beschluss vom 06.06.2020 – 10 AZN 53/20) die Maßstäbe dafür nun konkretisiert. Im Fall des BAG fehlte der sogenannte vertrauenswürdige Herkunftsnachweis (VHN) – Grund dafür dürfte gewesen sein, dass nicht die Rechtsanwältin oder der Rechtsanwalt selbst die Nachricht aus ihrem/seinem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) versandt hatte, sondern eine andere Person mit Zugriff auf das beA.

Kontext der Entscheidung
Die Voraussetzungen des § 130a Abs. 3 Satz 1 2. Var. ZPO lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Übermittlungsweg des elektronischen Dokuments ist ein sicherer Übermittlungsweg gemäß § 130a Abs. 4 ZPO,
  • der Versendeprozess wurde vom Postfachinhaber selbst angestoßen, und
  • das elektronische Dokument trägt die einfache Signatur des Postfachinhabers (also maschinenschriftlich seinen Name oder seine eingescannte Unterschrift).

Die Prüfung, ob ein sicherer Übermittlungsweg vorlag oder nicht, ist deshalb für die Beurteilung der Wahrung der prozessualen Form essentiell. Sie ist daher vom juristischen Entscheider – je nach Prozessordnung regelmäßig von Amts wegen – durchzuführen, aber auch vom Verfahrensgegner.

Die Prüfung erfolgt durch Überprüfung des Vorliegens eines vertrauenswürdigen Herkunftsnachweises (VHN). Die Nutzung des sicheren Übermittlungswegs durch die berechtigte Person (regelmäßig den Postfachinhaber) selbst wird durch den VHN bestätigt. Der VHN ist eine fortgeschrittene elektronische Signatur, die nachweist, dass der Postfachinhaber sicher an seinem Verzeichnisdienst angemeldet war und dass dieser Verzeichnisdienst ihn als Inhaber eines der obengenannten sicheren Übermittlungswege ausweist. Ob das eingegangene Dokument aus einem sicheren Übermittlungsweg versandt worden ist, lässt sich daher (nur) anhand des Prüfvermerks, des Transfervermerks oder des Prüfprotokolls erkennen. Sie visualisieren den VHN. Auf dem eingegangenen Dokument selbst befindet sich kein (verlässlicher) Hinweis auf den Übermittlungsweg.

Ein VHN wird nicht übersandt, wenn der sichere Übermittlungsweg zwar in Form seiner Infrastruktur, aber nicht durch den Postfachinhaber selbst genutzt wird. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn zwar über das beA eines Rechtsanwalts oder einer Rechtsanwältin ein elek­tronisches Dokument verschickt wird, der Versendeprozess aber durch das Sekretariat angestoßen wird.
Auf dem Transfervermerk, dem Prüfvermerk oder dem Prüfprotokoll lässt sich das Vorhandensein eines VHN durch den Eintrag „Informationen zum Übermittlungsweg: Sicherer Übermittlungsweg aus einem …“ erkennen. Die SAFE-ID oder ERV-ID ist ebenso wenig ein taugliches Unterscheidungsmerkmal wie die elektronisch übersandte „Visitenkarte“. Die Postfächer des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) besitzen zwar eine eindeutige SAFE-ID, die stets mit DE.BRAK beginnt. Hierdurch ist zwar leicht erkennbar, dass der Absender einer Nachricht ein beA-Postfach genutzt hat.­ Die DE.BRAK-SAFE-ID allein genügt aber nicht als Hinweis darauf, ob das beA auch als sicherer Übermittlungsweg im Sinne des § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO verwendet wurde. Hierfür ist das Vorliegen eines VHN das einzige Unterscheidungsmerkmal, denn unabhängig davon, ob der Rechtsanwalt oder die Rechtsanwältin selbst oder ein/e Mitarbeiter/in gesendet hat, wird immer die SAFE-ID des Anwalts oder der Anwältin im Prüfprotokoll der eingehenden Nachricht angezeigt (lediglich ohne den VHN).

Abgrenzung zwischen Wiedereinsetzung und Eingangsfiktion
Eine Rettung formwidriger Einreichungen kommt nach den allgemeinen Wiedereinsetzungsregeln oder aufgrund der Eingangsfiktion des § 130a Abs. 6 ZPO in Betracht.
Ausgehend vom Wortlaut des § 130a Abs. 6 ZPO („bearbeitbar“), betrifft die Eingangsfiktion nur Formfehler, die nicht nur die „Übermittlung“ betreffen. Hierdurch ist auch die gerichtliche Hinweispflicht klar systematisiert.
Eine mangelnde Bearbeitbarkeit wird danach vor allem dann vorliegen, wenn die übermittelte Datei beschädigt, kennwortgeschützt ohne bekanntgegebenes Kennwort oder virenverseucht ist. Die bisher ergangene Rechtsprechung geht zudem zumeist davon aus, dass auch andere Formatfehler im elektronischen Rechtsverkehr – insbesondere Verstöße gegen § 2 Abs. 1 ERVV (beispielsweise Word-Datei statt PDF) sowie gegen die Elektronischer-Rechtsverkehr-Bekanntmachung (ERVB, beispielsweise nicht alle Schriftarten eingebettet) – zur „Bearbeitbarkeit“ gehören, obschon dies mit dem Wortlaut nur schwer in Einklang zu bringen ist. Fehler der Bearbeitbarkeit führen zu § 130a Abs. 6 ZPO, also zu einer „unverzüglichen“ Hinweispflicht des Gerichts und bei unverzüglicher Nachreichung des elektronischen Dokuments und Glaubhaftmachung der Übereinstimmung mit der früheren Einreichung zu einer verschuldensunabhängigen Eingangsfiktion.
Negative Folgen von Fehlern der Übermittlung dagegen lassen sich nur durch die allgemeinen Wiedereinsetzungsregeln beheben. Im Gegensatz zur Eingangsfiktion gemäß § 130a Abs. 6 ZPO liegt hier der entscheidende Unterschied darin, dass ein Verschulden des Einreichers die Wiedereinsetzung grundsätzlich ausschließt. Die Rechtsprechung „hilft“ dem modernen Einreicher aber nach den zur Containersignatur entwickelten Grundsätzen dadurch, dass das regelmäßige Verschulden eines Rechtsanwalts bei der Falschanwendung von Rechtsnormen (hier des § 130a ZPO und der ERVV) hinter Verstößen gegen die gerichtliche Fürsorgepflicht zurücktritt.

Gerichtliche Fürsorgepflicht bei Formfehlern
Aufgrund der gerichtlichen Fürsorge kann ein gerichtlicher Hinweis geboten sein, wenn ein Rechtsbehelf nicht in der vorgesehenen Form übermittelt wird. Eine Partei kann erwarten, dass der Formfehler in angemessener Zeit bemerkt wird und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumnis zu vermeiden. Unterbleibt der Hinweis, ist der Partei Wiedereinsetzung zu bewilligen, wenn der Hinweis bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen können, dass es der Partei noch möglich gewesen wäre, die Frist zu wahren.

Der ordnungsgemäße Geschäftsgang
Der Begriff des „ordnungsgemäßen Geschäftsgangs“ findet sich seit den ersten Entscheidungen zur Containersignatur in zahlreichen Beschlüssen, ohne dass dieser Zeitraum bislang näher definiert wäre. Das Hessische Landesarbeitsgericht (Urteil vom 14.02.020 – 10 Sa 1031/19 SK) betonte zumindest bereits, dass ordnungsgemäß jedenfalls nicht „sofort“ bedeutet.
In seinem Beschluss von 05.06.2020 kommt das BAG nun erstmals einer weiteren Definition näher: Jedenfalls innerhalb von acht Arbeitstagen könne ein Rechtsanwalt einen Hinweis erwarten. Innerhalb dieser Zeit sei es – so das BAG – dem Gericht möglich, zumindest das vollständige Fehlen eines VHN als Nachweis des sicheren Übermittlungswegs gemäß § 130a Abs. 4 ZPO zu erkennen, denn diese Feststellung sei einfach und mit wenig Prüfungsaufwand verbunden.
Das BAG hatte sich hier nicht zu engeren Zeiträumen als acht Arbeitstagen zu äußern; der Posteingang war acht Arbeitstage vor Ablauf der Frist erfolgt. Die acht Tage bleiben daher nicht in Stein gemeißelt, sondern denkbar ist, dass in Zukunft auch schnellere Prüfungen von den Gerichten verlangt werden. Andererseits stellt das BAG auch klar, dass der hier vorliegende Formfehler – das vollständige Fehlen des VHN – besonders leicht zu erkennen ist; letztlich mit einem Blick. Andere Formfehler im elektronischen Rechtsverkehr – etwa das Fehlen der Absenderauthentifizierung bei der De-Mail – fordern den juristischen Entscheider deutlich mehr. Wie sich hier die Rechtsprechung entwickeln wird, bleibt also abzuwarten.

Fazit
Ein Ausschöpfen der Frist bleibt für (unsichere) Einreicher im elektronischen Rechtsverkehr brandgefährlich. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung auch noch kürzere Zeiträume ausreichen lassen wird – sich darauf zu verlassen ist mit den entsprechenden Risiken verbunden.

henning.mueller@sg-darmstadt.justiz.hessen.de

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