Im Blickpunkt: Die EU-Verbandsklage kommt

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Einleitung
Am 22.06.2020 hat sich die Europäische Union dafür entschieden, eine europaweite Verbandsklage für Verbraucher einzuführen („Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG“ – abrufbar hier). Die Richtlinie soll Verbraucher besser gegen rechtswidrige Geschäftspraktiken schützen. Sie ermöglicht neben Abhilfemaßnahmen – etwa Nachbesserung, Vertragskündigung oder Preisrückerstattung – auch einen ­Schadensersatzanspruch gegen das beklagte Unternehmen. Kläger können auch Unterlassungsansprüche geltend machen und einstweilige Verfügungen erwirken. Damit geht die europäische Verbandsklage deutlich über die in Deutschland eingeführte Musterfeststellungsklage hinaus, die ausschließlich eine bloße Feststellung eines Anspruchs ermöglicht, ohne damit einen direkten Zahlungsanspruch zu verbinden.
Die Richtlinie beruht auf dem „New Deal for Consumers“, der im April 2018 von der Europäischen Kommission als Reaktion auf den VW-Abgasskandal entstand. VW hat in den USA die Kunden mit Milliardensummen entschädigt; in der EU standen die VW-Kunden hingegen vor erheblichen (Verfahrens-)Hürden.
Derzeit stehen noch die Zustimmung des Europaparlaments und die des Europäischen Rats zu dem vereinbarten Text der neuen Richtlinie aus. Nach Inkrafttreten der Richtlinie haben die Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit, diese in nationales Recht umzusetzen.
Schon während der politischen Verhandlungen über die Verbandsklage haben deutsche Wirtschaftsverbände vor einer „ungehemmten Kommerzialisierung des Rechts“ und der „Erpressbarkeit von Unternehmen durch Sammelklagen“ gewarnt. Aus den USA sind Sammelklagen (Class-Actions) gegen Unternehmen seit langem bekannt und gefürchtet. Sie enden in der Praxis oft mit hohen Vergleichssummen, da die wirtschaftlichen Folgen einer verlorenen Sammelklage für Unternehmen existenzgefährdend sein können. Aufgrund hoher Entschädigungssummen durch Strafschadensersatzzahlungen haben sich in den USA viele Anwälte darauf spezialisiert, potentielle Haftungsfälle aufzudecken und massenhaft Kläger einzuwerben, um diese dann gegen Erfolgshonorar zu vertreten.
Werden mit der neuen Verbandsklage nun in Europa „amerikanische Verhältnisse“ einkehren, oder handelt es sich dabei um das bekannte Totschlagargument, mit dem sich Unternehmen berechtigten Ansprüchen geschädigter Verbraucher entziehen wollen?

Bewertung der Richtlinie
Dazu muss man die wichtigsten Regelungen der Richtlinie bewerten:

  • Der Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst neben dem allgemeinen Verbraucherrecht die speziellen Bereiche Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Reise und Tourismus, Energie, Telekommunikation, Umwelt und Gesundheit sowie Rechte von Flug- und Bahnreisenden. Damit dürften die meisten Massenschäden erfasst sein.
  • Jeder EU-Mitgliedsstaat muss mindestens eine sogenannte qualifizierte Einrichtung benennen, die befugt ist, Unterlassungs-, Abhilfeklagen und Schadensersatzklagen für Verbrauchergruppen einzuleiten. Bei der qualifizierten Einrichtung kann es sich um eine öffentliche Stelle oder eine private Organisation handeln, wie etwa einen Verbraucherverband. Diese Einrichtungen müssen bestimmte Kriterien erfüllen, wobei danach unterschieden wird, ob die Einrichtungen nur in ihrem eigenen Mitgliedsstaat klagen dürfen (innerstaatliche Verbandsklage) oder auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten (grenzüberschreitende Verbandsklage).
  • Für grenzüberschreitende Klagen sind in der Richtlinie verbindliche Kriterien vorgegeben. Dazu zählen insbesondere der Nachweis einer zwölfmonatigen Tätigkeit zum Schutz von Verbraucherinteressen, ein gemeinnütziger Charakter und die Unabhängigkeit von Dritten, die ein wirtschaftliches Interesse an der Erhebung einer Verbandsklage haben, insbesondere im Fall der Klagefinanzierung durch Dritte. Für innerstaatliche Klagen können die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie eigene Kriterien festlegen. Die Einrichtung muss zudem über ein Verfahren verfügen, um Beeinflussungen und Interessenkonflikte zwischen ihr selbst, ihren Geldgebern und den Verbraucherinteressen zu verhindern. Außerdem muss sie auf ihrer Website berichten, wie sie die geltenden Kriterien erfüllt und welche Finanzierungsquellen sie nutzt.
    Dieser Ansatz soll Interessenkonflikte und missbräuchliche Verbandsklagen (etwa durch konkurrierende Unternehmen) verhindern. Es bleibt abzuwarten, welches Verfahren die Mitgliedsstaaten dazu bei der Umsetzung der Richtlinie einrichten.
  • Die Mitgliedsstaaten sollen sicherstellen, dass die Erhebung von Verbandsklagen nicht an den Verfahrenskosten scheitert, beispielsweise durch öffentliche Finanzierung, eine Begrenzung der Gerichtsgebühren oder Prozesskostenhilfe. Außerdem sind Teilnahmegebühren von Verbrauchern zulässig. Eine Pflicht zur Finanzierung von Verbandsklagen durch die Mitgliedsstaaten ist nicht vorgesehen.

Stellungnahme

Es scheint zweifelhaft, dass dies in der Praxis ausreicht. Komplexe Klagen erfordern spezialisierte Rechtsanwälte, deren Vergütung nicht durch Prozesskostenhilfe gedeckt ist. Gleiches gilt für Sachverständige und andere Experten, die beispielsweise zur Schadensermittlung benötigt werden. Außerdem ist fraglich, ob Verbraucher zur Zahlung von Teilnahmegebühren bereit sind. Schließlich schützen die in der Richtlinie genannten Maßnahmen die Einrichtungen nicht vor hohen Kostenerstattungsansprüchen, falls Verbandsklagen verlorengehen.

  • Für die Finanzierung von Verbandsklagen durch Dritte haben die Mitgliedsstaaten sicherzustellen, dass keine Interessenkonflikte entstehen und die Finanzierung durch einen Dritten, der ein wirtschaftliches Interesse an der Erhebung oder dem Ausgang des Verfahrens hat, mit den Kollektivinteressen der Verbraucher im Einklang bleibt. Die Einrichtungen haben ihre Finanzquellen zur Durchführung der Verbandsklage auch gegenüber dem Gericht offenzulegen. Die Entscheidungen der Einrichtungen im Rahmen einer Verbandsklage, beispielsweise über den Abschluss eines Vergleichs, dürfen nicht von Dritten in der Weise unangemessen beeinflusst werden, dass den Kollektivinteressen der Verbraucher geschadet würde.
    Diese Regelungen dürften vor allem Prozessfinanzierer betreffen, die zukünftig für qualifizierte Einrichtungen die Prozesskosten einer Verbandsklage gegen eine erfolgsabhängige Erlösbeteiligung übernehmen und beim Scheitern der Klage die Kosten der Gegenseite bezahlen. In der Praxis werden Interessenkonflikte selten sein, da ein Prozessfinanzierer an dem wirtschaftlichen Ergebnis beteiligt ist. Er hat daher ein eigenes Interesse, das Klageverfahren bestmöglich abzuschließen.
    Nach den Erwägungen der Richtlinie sollen einzelne Verbraucher nicht in die Verfahrensentscheidungen der qualifizierten Einrichtungen eingreifen dürfen. Somit nimmt die qualifizierte Einrichtung die Interessen der Verbrauchergruppe wahr. Praktisch wird sich die Einrichtung an dem Mehrheitsinteresse orientieren müssen, wenn es kollidierende Interessen einzelner Verbraucher gibt. Üblicherweise haben Prozessfinanzierer bei grundlegenden prozessualen Entscheidungen, wie einem Vergleichsabschluss, ein Mitspracherecht. Dies dürfte im Einklang mit der geplanten Richtlinie stehen, soweit die Einrichtung und der Prozessfinanzierer dabei das Kollektivinteresse der Verbraucher zum Maßstab der Entscheidung machen. Sonderinteressen einzelner Verbraucher stehen hinter dem Kollektivinteresse zurück. Missbräuchliche Klagen werden durch die Beteiligung eines Prozessfinanzierers eher unterbunden, da der Prozessfinanzierer aus eigenem Interesse nur in erfolgversprechende und damit gut begründete Ansprüche investiert.
    Die Mitgliedsstaaten haben sicherzustellen, dass die qualifizierten Einrichtungen auf ihren Websites die Verbraucher über geplante Verbandsklagen informieren. Für Abhilfeklagen ist festzulegen, wie betroffene Verbraucher ausdrücklich oder stillschweigend erklären können, dass sie sich durch die Klage vertreten lassen wollen. Es bleibt bewusst den Mitgliedsstaaten überlassen, diese Erklärung durch einen Opt-in- oder Opt-out-Mechanismus (oder eine Kombination aus beiden) umzusetzen.
    Der Anschluss eines Verbrauchers an eine Abhilfeklage sperrt die Einzelklage. Der Verbraucher ist an das Ergebnis der Verbandsklage gebunden. Für die Erhebung von Unterlassungsklagen ist es nicht erforderlich, dass sich betroffene Verbraucher anschließen.
  • Die Mitgliedsstaaten haben die qualifizierten Einrichtungen zu überwachen und ihren Status zu entziehen, wenn sie die maßgeblichen Kriterien nicht mehr erfüllen. Beklagte Unternehmen können bei Gericht eine fehlende Einhaltung der Kriterien rügen. Außerdem sollen Gerichte befugt sein, die Einhaltung der Voraussetzungen für eine Finanzierung durch Dritte zu beurteilen und die Einrichtung aufzufordern, die Finanzierung zu verweigern oder zu ändern.
    Diese Vorgaben beinhalten erhebliches Streitpotential für die Praxis. Es ist damit zu rechnen, dass sich beklagte Unternehmen regelmäßig mit dem taktischen Einwand verteidigen werden, die klagende Einrichtung erfülle die Kriterien nicht (mehr) und die Finanzierungsvoraussetzungen seien nicht eingehalten. Wenig durchdacht erscheint, dass Gerichte einer Einrichtung nach Klageerhebung aufgeben können, die Finanzierung zu ändern, da damit die Klage stehen oder fallen wird.
  • Das „Verlierer zahlt“-Prinzip soll missbräuchliche Klagen unterbinden: Die unterlegene Partei trägt die Verfahrenskosten der obsiegenden Partei. Außerdem können Gerichte offensichtlich unbegründete Fälle zum frühestmöglichen Zeitpunkt des Verfahrens in Übereinstimmung mit nationalem Recht abweisen.
  • Schließlich sieht die Richtlinie eine Pflicht zur Offenlegung von Beweismitteln durch das beklagte Unternehmen vor, wenn die klagende Einrichtung gegenüber dem Gericht verfügbare Beweise vorgelegt hat und weitere Beweise angeben kann, die sich in der Verfügungsgewalt des beklagten Unternehmens oder eines Dritten befinden. Gleiches gilt nach dem Prinzip der Waffengleichheit zugunsten des beklagten Unternehmens.
    Diese Regelung erinnert an das sogenannte Discovery-Verfahren in den USA und wird sicherlich noch zu Diskussionen führen, da dem deutschen Zivilprozessrecht eine Offenlegung von Beweismitteln zugunsten der gegnerischen Partei fremd ist. Es bleibt abzuwarten, wie die Regelung im Einklang mit den nationalen Verfahrensvorschriften und Vorschriften über Vertraulichkeit und Verhältnismäßigkeit umsetzbar ist.

Fazit
Bei genauer Betrachtung der Richtlinie dürfte eine „Klageindustrie“ nach amerikanischem Vorbild kaum drohen. Ein Schadensersatz mit Strafcharakter ist ausgeschlossen, ebenso Erfolgshonorare für die beteiligten Rechtsanwälte. Zudem ist vorgesehen, dass die qualifizierten Einrichtungen keinen Erwerbszweck verfolgen dürfen.
Die strengen Transparenz- und Kontrollvorschriften, insbesondere bei einer Drittfinanzierung von Verbandsklagen, dürften einen effektiven Rechtsschutz der Verbraucher in der Praxis eher behindern als beflügeln. Es bleibt abzuwarten, wie der deutsche Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum nutzen wird.

christoph.schubert@foris.com

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