Die „Studie über Pflichten von Direktoren und nachhaltige Unternehmensführung“ (Studie) befasst sich mit dem Phänomen des „Short-Termism“, des kurzfristigen Denkens in der Unternehmensführung. Dieses kurzfristige Denken soll nach Auffassung der Kommission überwunden werden. Dafür gibt die Studie Argumente und Handlungsoptionen, die wir nachfolgend darstellen und bewerten.
Wesentlicher Inhalt der Studie
Nachweis von Short-Termism
Nach der Studie lässt sich Short-Termism aus Daten börsennotierter Unternehmen mit Sitz in 15 Mitgliedsstaaten (unter anderem Deutschland) aus dem Zeitraum 1992 bis 2018 nachweisen. Zum einen ergebe sich Short-Termism aus den Abflüssen an Aktionäre, die sich von weniger als 1% im Jahr 1992 auf fast 4% im Jahr 2018 vervierfacht haben. Zum anderen sei eine Reduzierung auf der Investitionsseite festzustellen; das Verhältnis von CAPEX- und F&E-Investitionen zu den Einnahmen sei seit Beginn des 21. Jahrhunderts rückläufig.
Treiber von Short-Termism
Die Studie nennt sieben Treiber von Short-Termism, wobei die gesetzlichen Rahmenbedingungen und Marktpraktiken in Europa so wirkten, dass eine langfristige Ausrichtung der Unternehmensführung weder in den Pflichten noch der Vergütung oder der Haftung der Unternehmensführung eine relevante Rolle spielten. Für jeden Treiber stellt die Studie eine Lösung dar:
- Treiber 1: Unternehmensführung legt ihre Pflichten zu eng zugunsten der kurzfristigen Maximierung des Shareholdervalue aus.
Lösung: Verpflichtung der Unternehmensführung zur Berücksichtigung der langfristigen Unternehmensinteressen über fünf bis zehn Jahre sowie der Interessen von Mitarbeitern, Kunden, Umwelt und der Gesellschaft als Ganzes, nicht nur der Shareholder. - Treiber 2: Wegen wachsenden Drucks von Investoren konzentriert sich die Unternehmensführung auf kurzfristige Gewinne anstatt auf langfristige Wertschöpfung.
Lösung: Incentivierung langfristig orientierter Investoren unter anderem durch Verknüpfung von Stimmrechten mit der Beteiligungsdauer oder dem Verbot von Quartalsberichterstattung. - Treiber 3: Fehlen strategischer Perspektive zur Nachhaltigkeit in der Unternehmensführung.
Lösung: Verpflichtung der Unternehmensführung, Nachhaltigkeitsaspekte in die Geschäftsstrategie zu integrieren sowie messbare Nachhaltigkeitsziele zu identifizieren und als Geschäftsstrategie festzulegen. - Treiber 4: Vergütungsstrukturen fördern kurzfristige Unternehmenswertsteigerung anstatt langfristiger Wertschöpfung.
Lösung: Anpassung der Vergütungspolitik an Langfristperspektive, unter anderem durch Einbeziehung nichtfinanzieller ESG-Kennzahlen in das Vergütungssystem. - Treiber 5: Personelle Zusammensetzung und Kompetenzen der Unternehmensleitung behindern eine Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit.
Lösung: Regelungen zur Zusammensetzung der Unternehmensführung, einschließlich einer Verpflichtung zu Nachhaltigkeitskriterien bei der Bestellung von Führungskräften. - Treiber 6: Corporate-Governance-Regelungen berücksichtigen keine langfristigen Interessen der Stakeholder, also anderer Interessengruppen als die der Shareholder.
Lösung: Verpflichtung der Unternehmensführung, interne und externe Stakeholderinteressen zu identifizieren sowie die Verhütung von Nachhaltigkeitsrisiken in der Geschäftsstrategie zu etablieren. - Treiber 7: Ansprüche gegen die Unternehmensführung können nur mangelhaft durchgesetzt werden und erst recht nicht von Stakeholdern.
Lösung: Stärkung der Anspruchsdurchsetzung gegen Handelnde in der Unternehmensführung; Geltendmachung von Ansprüchen auch von Stakeholdern, nicht nur von Shareholdern.
Handlungsoptionen
Die Studie geht davon aus, dass es einer „EU-Intervention“ bedarf, um den vorgenannten Problemen zu begegnen. Nur EU-Maßnahmen könnten ein Mindestmaß an gemeinsamer EU-weiter Regelungsbasis festlegen und Marktverzerrungen vermeiden. Als Handlungsoptionen für die vorgenannten Zielvorgaben benennt die Studie drei Optionen:
- Zwei „nichtlegislative, weiche“ Optionen (Option A und B), nämlich
Option A: EU-Aufklärungskampagne zur Verbreitung nachhaltiger Unternehmensführungspraktiken;
Option B: Förderung nationaler Gesetzgebungsinitiativen im Bereich Corporate Governance/Gesellschaftsrecht aufgrund von EU-Empfehlungen; - Eine „legislative, harte“ Option (Option C) mit verbindlichen Regelungen durch direkte gesetzgeberische Eingriffe der EU.
Bewertung der Studie
Der größere Zusammenhang
Die von EY im Auftrag erarbeitete Studie ist Teil des „Aktionsplans der Kommission zur Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ vom März 2018 (Aktionsplan). Die Studie ist zudem eingebettet in weitere von dem Aktionsplan initiierte Untersuchungen, wie etwa die bereits im Januar 2020 veröffentlichte Studie zu Sorgfaltspflichten in der Lieferkette („Study on due diligence requirements through the supply chain“). Der Aktionsplan ist seinerseits ein Bestandteil einer Vielzahl weiterer Initiativen der Kommission, etwa des „European Green Deal“. Parallel hierzu werden weltweit Debatten geführt zu Themen wie „Stakeholder Capitalism“, Abwendung von dem jahrzehntelangen Leitbild des Shareholder-Primacy-Modells (Shareholdervalue) oder „Purpose“, also der Ausrichtung des Gegenstands und Zwecks von Unternehmen in Zeiten von Klimawandel und anderer globaler Herausforderungen.
Bewertung von Treibern und Optionen
Der Schwenk von Short-Termism hin zu Long-Termism in der Unternehmensführung ist Teil der großangelegten Nachhaltigkeitsstrategie der EU-Kommission und fügt sich dort nahtlos als ein Baustein in das Gesamtgebäude ein. Die Studie stellt zwar viele Informationen zur Verfügung, wägt ab, bewertet und fasst mehrmals auf unterschiedlichen Ebenen Prüfungsergebnisse zusammen. Es ist aber evident, dass die Option C aus Sicht der Studie die einzige realistische Handlungsoption ist, unter anderem, weil die Auswirkungen der Optionen A und B auf Wirtschaft, Soziales, Umwelt und Menschenrechte eher als „nicht vorhanden“ oder „klein“ eingestuft werden, und vor allem, weil beide Optionen A und B keine verbindliche Wirkung haben. Hingegen werden die Auswirkungen von Option C, bezogen auf die jeweiligen Treiber mit folgenden Schwerpunkten, als relevant betrachtet:
- Als vorrangig sieht die Studie die gesetzliche Verpflichtung zu einer langfristigen Unternehmensführung unter besonderer Berücksichtigung der Interessen der Stakeholder sowie zur Implementierung entsprechend messbarer Nachhaltigkeitsziele in der Geschäftsstrategie an (Treiber 1, 3 und 6); damit eng verknüpft, geht es der Studie um eine entsprechende Rechtsdurchsetzung gegenüber der Unternehmensführung – und dies auch durch Stakeholder (Treiber 7), nicht nur durch Shareholder.
- Mit dem Fokus auf langfristige Unternehmensführung will die Studie weiterhin eine entsprechende Veränderung der Vergütungsstruktur erzielen (Treiber 4).
- Skeptisch ist die Studie aber bezüglich der Umsetzbarkeit von Regelungen zur Zusammensetzung der Unternehmensführung (Treiber 5).
- Skeptisch und sogar ablehnend ist die Studie bei Eingriffen in die Quartalsberichterstattung als Gegenkonzept gegen den Druck der Kapitalmärkte (Treiber 2).
Zusammengefasst, spricht daher viel dafür, dass weitere Maßnahmen im Hinblick vor allem auf die Treiber 1, 3 und 6, möglicherweise auch Treiber 4, vorangetrieben werden. Eher nicht ist dies zu sehen bei Treiber 5 und vor allem Treiber 2.
Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit
Negative wirtschaftliche Auswirkungen aus dem Schwenk hin zu einer verbindlichen Langfristperspektive in der Unternehmensführung sieht die Studie nicht auf Dauer, sondern nur kurzfristig. Die Studie räumt zwar ein, dass kurzfristig Belastungen auf die Unternehmen zukämen, die langfristig aber kompensiert würden, insbesondere für „First Mover“ und Marktpioniere beim Übergang zur Nachhaltigkeit. In diesem Zusammenhang fehlt es aber an einer Auseinandersetzung mit der oft formulierten Kritik, dass höhere Nachhaltigkeitsanforderungen zu Wettbewerbsnachteilen führten, etwa gegenüber Nicht-EU-Konkurrenten. Dass die Umstellung auf eine nachhaltige, an allen relevanten Stakeholderinteressen ausgerichtete Langfriststrategie im globalen Wettbewerb negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen hat und wie man dem begegnen kann, sollte im weiteren Prozess eingehender als in der Studie untersucht und dargelegt werden. Dieser Aspekt erscheint zentral für die Plausibilität und Akzeptanz des Gesamtprojekts.
Auswirkungen auf den Mittelstand
Die Studie bezieht sich von der zugrundeliegenden Datenbasis (ausschließlich) auf börsennotierte Unternehmen. Sie hat nach eigener Einschätzung daher „nur begrenzte Evidenz“ für kleinere und mittlere Unternehmen (KMUs) sowie für alle nicht börsennotierten Unternehmen, auch größere. Ein wesentlicher Teil der europäischen Wirtschaft ist damit von der Studie, zumindest von der Datenerhebung, nicht erfasst, auch wenn die Studie die KMUs und größere Unternehmen in der Besprechung der Treibervarianten teils erwähnt und in der Abwägung berücksichtigt. Die Studienautoren gehen aber offensichtlich selbst davon aus, dass ein inhabergeführtes Unternehmen differenzierter, jedenfalls anders, zu betrachten ist als ein börsennotiertes Unternehmen. Insofern bleibt es in der Studie selbst offen, wie andere als börsennotierte Unternehmen in dieser Initiative erfasst und behandelt werden.
Ausblick und Fazit
Als nächster Schritt findet im Herbst 2020 eine öffentliche Konsultation zur nachhaltigen Unternehmensführung statt. Es ist aktuell sehr deutlich, dass die Kommission den verpflichtend gesetzgeberischen Weg auf EU-Ebene favorisiert.
Die Initiative der Kommission würde eine Art Gezeitenwende in der Unternehmensführung darstellen, nicht nur mit Blick auf die Verantwortlichkeiten in Unternehmensführungen und der Handelnden dort, sondern auch für die Unternehmen selbst. Die Unternehmen müssten ihren bisherigen Unternehmenszweck in vielen Fällen überdenken und sich gegebenenfalls neu oder wesentlich verändert aufstellen. Dabei geht es vorrangig nicht um die Verabschiedung vom ohnehin vielfach überspannten Shareholdervaluekonzept, sondern um die „Gretchenfrage“, worauf die Unternehmensführung letztlich zentral zu achten hat. Es soll jedenfalls mehr sein als das bloße Unternehmensinteresse, der aktuell relevante Maßstab, also vor allem die Bestandserhaltung des Unternehmens und die Generierung von ausreichend finanziellen Reserven hierfür. Das Bemühen um eine (Neu-)Ausrichtung der Parameter der Unternehmensführung, die mit der Studie Konturen erhält, ist angesichts der mannigfaltigen, komplexen und dringenden Probleme anerkennenswert. Allerdings geht es um zentrale „Spielregeln“, insbesondere die anvisierte Umstellung von Short-Termism auf Long-Termism in der Unternehmensführung. Hier darf man sich bei einer derart zentralen Weichenstellung keine Fehler erlauben, weder im Tun noch im Unterlassen. Die Aufgabe ist groß.