BGH überträgt Vorsatz- und Irrtumsproblematik bei der Steuerhinterziehung auf diesen Fall
Gastbeitrag von Katharina Müller, LL.M. oec.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Beschluss vom 24.09.2019 entschieden, dass die Beschäftigung von Scheinselbständigen nur bei Vorsatz strafbar sein soll. Die Entscheidung ist nicht nur für die strafrechtliche, sondern auch für die arbeitsrechtliche Beratungspraxis von großem Interesse.
Der Sachverhalt
Der Angeklagte vermittelte in den Jahren 2008 bis 2014 über ein Einzelunternehmen osteuropäische Pflegekräfte in Privathaushalte in Deutschland. Die zumeist ungelernten Pflegekräfte warb er in deren Heimatländern an, sorgte für die Reise nach Deutschland, brachte sie zu den Familien, gab praktische Tipps für die Beschäftigung, sicherte den Familien zu, im Bedarfsfall für eine Ersatzkraft zu sorgen, und gewährleistete eine Absicherung für die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen durch die Pflegekräfte. Für diese Tätigkeit erhob er bei den jeweiligen Familien eine einmalige Vermittlungsgebühr sowie monatliche Kostenpauschalen.
Die zu pflegenden Personen oder ihre Angehörigen bezahlten die Pflegekräfte zumeist in bar. Die Pflegekräfte erhielten darüber hinaus eine Unterkunft sowie volle Verpflegung. Die von der jeweiligen Pflegekraft konkret zu erbringende Tätigkeit wurde von der zu pflegenden Person oder den Angehörigen bestimmt. Sie wurden in die jeweils erwarteten Tätigkeiten eingewiesen und – teilweise engmaschig – kontrolliert. Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuern wurden nicht abgeführt.
Aufgrund dieser Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses ist das Landgericht Augsburg davon ausgegangen, dass die Pflegekräfte bei den zu pflegenden Personen oder den für sie jeweils handelnden Angehörigen abhängig beschäftigt waren. Sowohl die abhängige Beschäftigung der Pflegekräfte als auch deren fehlende Anmeldung zur Sozialversicherung waren nach den Feststellungen des Landgerichts dem Angeklagten bekannt. Sein Geschäftsmodell zielte gerade darauf ab, den Familien zu ermöglichen, die vermittelten Pflegekräfte ohne Anmeldung zur Sozialversicherung und Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen zu beschäftigen. Da der Angeklagte selbst aber nicht Arbeitgeber war, sondern die Scheinselbständigen nur an ihren eigentlichen Arbeitgeber – die zu pflegende Person oder deren Angehörige – vermittelt hatte, konnte der Angeklagte nicht Haupttäter sein. Deshalb verurteilte das Landgericht Augsburg ihn wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt. Eigentliche Haupttäter waren nach Ansicht des Landgerichts Augsburg die zu pflegenden Personen oder ihre Angehörigen, die Pflegekräfte beschäftigten. Der Angeklagte legte gegen das Urteil Revision ein.
Die Entscheidung
Der BGH hob die Entscheidung daraufhin auf und änderte zugleich seine Rechtsprechung zu § 266a StGB. Bislang hatte der Strafsenat vertreten, ein Rechtsirrtum über eine bestehende Scheinselbständigkeit sei grundsätzlich unbeachtlich und stünde einer strafrechtlichen Verurteilung nach § 266a StGB nicht entgegen (so noch BGH, Beschluss vom 07.10.2009, Az. 1 StR 478/09, sowie BGH, Beschluss vom 04.09.2013, Az. 1 StR 94/13). Der Senat führt nunmehr aus: Die Arbeitgebereigenschaft richte sich nach dem Sozialversicherungsrecht und sei „nicht immer sicher vorhersehbar“. Die Beurteilung habe aufgrund einer Vielzahl von Kriterien zu erfolgen, die im Einzelfall unterschiedliches Gewicht haben könnten. Das Ergebnis der Prüfung sei daher nicht immer sicher vorhersehbar. Im Strafverfahren sei anhand der konkreten Tatumstände zu klären, ob der Täter Arbeitgeber sei und ihn damit sozialversicherungsrechtliche Abführungspflichten träfen.
Der Senat hat damit die Rechtsprechung des BGH zur Vorsatz- und Irrtumsproblematik bei der Steuerhinterziehung auf diesen Fall übertragen. Zum Vorsatz der Steuerhinterziehung gehört, dass der Täter den Steueranspruch dem Grunde und der Höhe nach kennt oder zumindest für möglich hält und ihn auch verkürzen will (vgl. BGH, Urteil vom 08.09.2011, Az. 1 StR 38/11). Hat der Steuerpflichtige irrtümlich angenommen, dass ein Steueranspruch nicht entstanden sei, liegt nach dieser Rechtsprechung ein Tatbestandsirrtum vor, der den Vorsatz ausschließt.
Der Senat vertritt nun die Auffassung, es bestehe kein sachlicher Grund dafür, die Arbeitgeberstellung im Sinne von § 266a StGB und die Pflichtenstellung im Sinne des §§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO unterschiedlich zu behandeln. Es handele sich in beiden Fällen bei dieser Pflichtenstellung um ein normatives Tatbestandsmerkmal. Dann genügt die bloße Kenntnis der ihnen zugrundeliegenden Tatsachen nicht, um vorsätzliches Handeln zu begründen. Vielmehr muss der Täter die für die Unrechtsbegründung wesentliche Bedeutung der maßgeblichen Tatumstände zutreffend erfasst und die rechtliche Wertung nachvollzogen haben.
Sowohl bei der Steuerhinterziehung als auch bei der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen handele es sich um echte Unterlassungsdelikte. Bei derartigen Sonderdelikten, die durch Unterlassen begangen werden, müsse der Vorsatz die (handlungs-)pflichtbegründenden Umstände umfassen.
Ob ein Arbeitgeber seine entsprechende Stellung und das Bestehen hieraus folgender sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen habe, müsse vom Tatgericht im Rahmen der Beweiswürdigung im Einzelfall anhand der konkreten Tatumstände geklärt werden. Von Bedeutung sei, wie eindeutig die Indizien seien, die – im Rahmen der außerstrafrechtlichen Wertung – für das Vorliegen einer Arbeitgeberstellung sprechen. Es sei auch zu berücksichtigen, ob und inwiefern der Arbeitgeber im Geschäftsverkehr erfahren sei oder nicht und ob das Thema illegale Beschäftigung in der jeweiligen Branche im gegebenen zeitlichen Kontext gegebenenfalls vermehrt Gegenstand des öffentlichen Diskurses war. Ein gewichtiges Indiz sei daneben, ob das gewählte Geschäftsmodell von vornherein auf Verschleierung oder eine Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen ausgerichtet sei.
An diesen Maßgaben gemessen, sei der Vorsatz in den die Haupttäter betreffenden Fällen nicht rechtsfehlerfrei festgestellt, so die Richter in Karlsruhe. Sie verwiesen zurück an das Landgericht Augsburg.
Praxishinweise
Die Zusammenarbeit mit freien Mitarbeitern und Honorarkräften birgt stets das Risiko, dass Unternehmen sozialversicherungsrechtliche und steuerrechtliche Abführungspflichten nicht richtig beurteilen und nicht erfüllen. Unter der neuen Rechtsprechung reduzieren sich strafrechtliche Risiken. Gerade größere Unternehmen sollten jedoch für die Zusammenarbeit mit freien Mitarbeitern Compliancekonzepte aufsetzen. Anders als bei Privathaushalten ohne unternehmerische Erfahrung – wie bei den hier angeklagten Haupttätern – wird sich der Geschäftsführer eines deutschen Unternehmens jedenfalls nicht ohne weiteres darauf berufen können, ihm sei die deutsche Rechtslage unbekannt, wenn in dem Unternehmen in erheblichem Umfang mit freien Mitarbeitern und Honorarkräften zusammengearbeitet wird. An dieser Stelle können auch Hinweise und Kommunikationen der eigenen Rechtsabteilung oder einer externen Rechtsberatung im Nachhinein ungünstige Folgen haben. Denn sie können belegen, dass dem Geschäftsführer die Rechtsrisiken bekannt waren. Bei Unsicherheiten besteht die Möglichkeit, ein sogenanntes Statusfeststellungsverfahren durch die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund durchführen zu lassen. Die stellt Klarheit jedenfalls über die Sichtweise der Sozialversicherungsträger hinsichtlich des konkreten Einzelfalls her. Es empfiehlt sich stets, ein Statusfeststellungsverfahren durchzuführen und, sollten bei Betriebsprüfungen Unregelmäßigkeiten auffallen, frühzeitig den Kontakt zu Behörden zu suchen. Allerdings fehlt es hinsichtlich der Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen an der Möglichkeit einer strafbefreienden Selbstanzeige, wie sie das Steuerrecht kennt.
katharina.mueller@andersentaxlegal.de