Im Blickpunkt: Beschluss des BGH vom 27.09.2022 – KZB 75/21

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In einer Grundsatzentscheidung vom 27.09.2022 (KZB 75/21) hat der BGH den seit langem umstrittenen Maßstab zur Überprüfung des zwingenden Kartellrechts im Rahmen eines Verfahrens zur Aufhebung eines Schiedsspruchs (§ 1059 ZPO) geklärt. Nach der BGH-Entscheidung unterliegen Schiedssprüche im Hinblick auf die Anwendung zwingender Normen des Kartellrechts der „uneingeschränkten Kontrolle“ durch die ordentliche Gerichtsbarkeit. Dementsprechend hat der BGH den angegriffenen Schiedsspruch, in dem die richtige Anwendung der §§ 19 bis 21 GWB verkannt wurde, und die Entscheidung des OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 22.04.2021 – 26 Sch 12/20), die den Schiedsspruch bestätigte, aufgehoben.

Prüfungsmaßstab bei der Aufhebung von Schiedssprüchen

Grundsätzlich unterliegen Schiedssprüche einer eingeschränkten Kontrolle durch staatliche Gerichte und werden nicht auf ihre sachliche Richtigkeit hin überprüft (keine „révision au fond“). Ein Schiedsurteil hat zwischen den Parteien die Wirkung eines rechtskräftigen Gerichtsurteils (§ 1055 ZPO). Es kann nur bei Vorliegen bestimmter Aufhebungsgründe aufgehoben werden, und zwar nach § 1059 Abs. 2 Nr. 2 ZPO etwa dann, wenn der Streitgegenstand nicht schiedsfähig ist oder wenn die Anerkennung oder Vollstreckung des Schiedsspruchs der öffentlichen Ordnung („ordre public“) widersprechen würde. Nach der ständigen BGH-Rechtsprechung setzt ein Ordre-public-Verstoß voraus, dass das Ergebnis mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Das sei dann der Fall, wenn der Schiedsspruch eine Norm verletzt, die die Grundlagen des staatlichen oder wirtschaftlichen Lebens regelt oder wenn er zu deutschen Gerechtigkeitsvorstellungen in einem untragbaren Widerspruch steht. Der Schiedsspruch müsse mithin die elementaren Grundlagen der Rechtsordnung missachten (vgl. zum Beispiel BGH, Beschluss vom 23.07.2020 – I ZB 88/19, Juris Rn. 16).

Insbesondere für den Bereich des Kartellrechts war bisher umstritten, ob bereits jede Falschanwendung einer Norm, die zum Bestand des ordre public zählt, für die Aufhebung eines Schiedsspruchs ausreichend sein soll oder ob es nicht eines abgesenkten Prüfungsmaßstabs bedarf. In der Literatur und obergerichtlichen Rechtsprechung wurde häufig die Absenkung der Kontrolldichte gefordert. Dementsprechend sollte nur eine summarische Plausibilitätskontrolle erfolgen, sollten nur offensichtliche Verstöße gegen eine Ordre-public-Vorschrift zur Aufhebung führen oder sollte dem Schiedsgericht jedenfalls de facto ein gewisser tatsächlicher und rechtlicher Beurteilungsspielraum zuzuerkennen sein (vgl. Überblick bei Bien, ZZP 2019, 93, 118 ff.).

Position des OLG Frankfurt am Main

Im hier besprochenen Fall hatte zunächst das OLG Frankfurt am Main über den Aufhebungsantrag zu entscheiden und bestätigte den Schiedsspruch (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 22.04.2021 – 26 Sch 12/20). Im Schiedsspruch hatte das Schiedsgericht die Kündigung eines Pachtvertrags über einen Steinbruch für wirksam gehalten. Die Kündigung war von der Verpächterin mit dem Ziel ausgesprochen worden, dass die Pächterin ihren Betrieb an ein Konkurrenzunternehmen veräußerte, wodurch sich die Verpächterin durch Ausschaltung des Preiswettbewerbs höhere Pachteinnahmen versprach. Eine inhaltsgleiche Kündigung ist vom Bundeskartellamt, das sich auf Seiten der Pächterin am Aufhebungsverfahren beteiligte, insbesondere wegen Verstoßes gegen §§ 21 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 3 Nr. 2 GWB mit einem Bußgeld geahndet worden.

Der erkennende Schiedssenat des OLG Frankfurt am Main wies den Antrag zur Aufhebung des Schiedsspruchs im Wesentlichen mit der Begründung zurück, dass die hier relevanten Kartellrechtsnormen zwar zum ordre public gehörten, dass dem staatlichen Gericht aber dennoch keine Kompetenz zur tatsächlichen oder rechtlichen Überprüfung der Entscheidung des Schiedsgerichts zukomme. Das OLG Frankfurt am Main lehnte nicht nur eine uneingeschränkte Kontrolle des Schiedsspruchs ab, sondern verwarf auch eine bloße summarische Prüfung oder kartellrechtliche Plausibilitätskontrolle. Eine stark eingeschränkte Kontrolle des Schiedsspruchs sollte lediglich hinsichtlich der Rechtsfolgen des Schiedsspruchs erfolgen, ob diese zu einem mit kartellrechtlichen Grundsätzen offensichtlich unvereinbaren Ergebnis führten (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 22.04.2021 – 26 Sch 12/20, Juris Rn. 77 ff.).

Entscheidung des BGH

Der erkennende Kartellsenat des BGH teilte die Auffassung des OLG Frankfurt am Main zunächst hinsichtlich der Feststellung, dass die Verbote nach §§ 19 bis 21 GWB zu den elementaren Grundlagen des deutschen Rechts gehören. Nach dem BGH komme hinsichtlich solcher Normen allerdings keine Absenkung des Prüfungsmaßstabs in Betracht, sondern der Schiedsspruch unterliege insoweit einer uneingeschränkten tatsächlichen und rechtlichen Kontrolle durch die staatlichen Gerichte (BGH, Beschluss vom 27.09.2022 – KZB 75/21, Rn. 14 ff.).

Zur Begründung verweist der BGH darauf, dass eine Rechtsordnung nicht hinnehmen könne, dass Verstöße gegen ihre grundlegendsten Normen von ihren eigenen Gerichten bestätigt würden, so dass das grundsätzliche Verbot der „révision au fond“ insofern keine Geltung beanspruche. Außerdem dienten die hier betroffenen §§ 19 bis 21 GWB auch dem öffentlichen Interesse an einem funktionierenden Wettbewerb, das im staatlichen Zivilverfahren durch besondere Prozessinstrumente wie etwa Beteiligungsrechte des Bundeskartellamts oder die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens zum EuGH, welche in einem Schiedsverfahren aber nicht zur Verfügung stehen, besonders abgesichert sei. Außerdem entspräche eine uneingeschränkte Kontrolle dem Willen des Gesetzgebers, der bei Anerkennung der Schiedsfähigkeit von kartellrechtlichen Streitigkeiten von der Beachtung der kartellrechtlichen Vorschriften auch durch ein Schiedsgericht und einer diesbezüglichen Kontrolle durch die staatliche Gerichtsbarkeit ausgegangen sei.

Auf der Grundlage eines solchen uneingeschränkten Prüfungsmaßstabs nahm der BGH eine inhaltliche Überprüfung des Schiedsspruchs vor und gelangte zu dem Ergebnis, dass die Kündigung die kartellrechtswidrige Ausübung von Zwang zu einem Zusammenschlussvorhaben darstelle. Der Schiedsspruch ist deshalb weitgehend aufgehoben worden.

Interessanterweise finden sich in der Begründung der BGH-Entscheidung keine Ausführungen zur funktionalen Zuständigkeit des Kartellsenats. In der Vorinstanz hatte der Schiedssenat des OLG Frankfurt am Main seine Zuständigkeit angenommen und eine gerichtsinterne Abgabe an den Kartellsenat mit der Begründung abgelehnt, dass die besonderen kartellrechtlichen Zuständigkeitsregeln nach §§ 87, 91, 95 GWB weder direkt noch analog auf das Aufhebungs- oder Vollstreckbarerklärungsverfahren anwendbar seien (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 22.04.2021 – 26 Sch 12/20, Juris Rn. 67 ff.). In der Beschwerdeinstanz war die Angelegenheit zunächst ebenfalls beim Schiedssenat des BGH anhängig, der die Sache im Laufe des Verfahrens aber an den Kartellsenat abgab. Da diese Zuständigkeitsfrage im Verfahren vor dem OLG Frankfurt am Main intensiv diskutiert worden ist, wäre eine klarstellende Erläuterung des BGH zum umstrittenen Verhältnis der ausschließlichen Zuständigkeitsregeln für kartellrechtliche Streitigkeiten zur Zuständigkeitsnorm für Aufhebungen und Vollstreckbarerklärungen von Schiedssprüchen (§ 1062 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) weiterführend gewesen.

Fazit

Für die Kartellrechtspraxis ist die Entscheidung des BGH, an seine inzwischen mehr als 50 Jahre alte Rechtsprechung zur vollständigen Überprüfbarkeit der Anwendung von zwingenden Kartellrechtsvorschriften durch ein Schiedsgericht anzuknüpfen (BGH, Urteil vom 25.10.1966 – KZR 7/65, Juris Rn. 40 ff.), zu begrüßen. Die zugrundeliegende gesetzgeberische Intention einer effektiven Durchsetzung grundlegender kartellrechtlicher Vorschriften ist auch durch die zwischenzeitliche Neufassung des Schiedsverfahrensrechts nicht aufgegeben worden (BT-Drs. 13/5274, S. 71). Mit der uneingeschränkten Überprüfung der §§ 19 bis 21 GWB stellt der BGH klar, dass Kernvorschriften des Kartellrechts nicht über den Abschluss einer Schiedsvereinbarung ausgehebelt werden können. Hätte das Schiedsurteil wegen des laxen Prüfungsmaßstabs des OLG Frankfurt am Main Bestand gehabt, hätte der Steinbruch trotz einer bestandskräftigen anderweitigen Entscheidung des Bundeskartellamts geräumt werden müssen, was nichts anderes als die Perpetuierung eines offensichtlich kartellrechtswidrigen Verhaltens im zu entscheidenden Einzelfall bedeutet hätte.

Im internationalen Vergleich erscheint der Prüfungsmaßstab des BGH restriktiver als der in manchen anderen Ländern, aber konsistent mit den Vorgaben des EuGH. Für die Handelsschiedsgerichtsbarkeit hat der EuGH bereits mehrfach betont, dass die beschränkte Überprüfung von Schiedssprüchen gerechtfertigt sein könne, „soweit“ die grundlegenden Bestimmungen des Unionsrechts im Rahmen dieser Kontrolle geprüft werden und gegebenenfalls Gegenstand einer Vorlage zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof sein könnten (zum Beispiel EuGH, Urteil vom 02.09.2021 – C-741/19, Rn. 58 – „Komstroy“). Denn auch im Rahmen eines Schiedsverfahrens möchte der EuGH eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherstellen (EuGH, Urteil vom 01.06.1999 – C-126/97, Rn. 40 – „Eco Swiss“). Diese Vorgaben setzen letztlich eine inhaltliche Prüfung des angegriffenen Schiedsspruchs durch die staatlichen Gerichte voraus.

Für die schiedsgerichtliche Praxis ist nicht zu erwarten, dass die BGH-Entscheidung die Schiedsfreundlichkeit Deutschlands in Frage stellt. Die Attraktivität eines Schiedsstandorts und der nachhaltige Erfolg der Schiedsgerichtsbarkeit hängen nämlich nicht nur von einer möglichst niedrigen Aufhebungsquote ab. Auch Schiedssprüche sollten zumindest die grundlegendsten Rechtsnormen richtig anwenden und übergeordnete Interessen, die über die Beziehung der Schiedsparteien hinausgehen, angemessen berücksichtigen, was durch staatliche Gerichte zu überwachen ist. In diesem Sinne trägt die Entscheidung des BGH zur Sicherung der Qualität schiedsgerichtlicher Entscheidungen bei.

Mit Spannung abzuwarten bleibt, wie die Rechtsprechung die für die §§ 19 bis 21 GWB geforderte uneingeschränkte Kontrolle von Schiedssprüchen tatsächlich ausüben wird. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die von einem Schiedsgericht festgestellten Tatsachen, da insoweit selbst der Prüfungsumfang eines Berufungsgerichts gemäß § 529 ZPO teilweise beschränkt wäre. Ebenso wird in jedem Einzelfall zu bewerten sein, welche Rechtsnormen so grundlegend sind, dass sie zum Bestand des ordre public zählen und dadurch eine strenge Überprüfung eines Schiedsspruchs im Rahmen eines Aufhebungsverfahrens rechtfertigen.

Hinweis der Redaktion:
Die Autoren waren am Aufhebungsverfahren auf Seiten der Antragstellerin beteiligt. (tw)

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