Verträge liegen in veralteten Systemen, in Ordnern auf dem Desktop, ganz einfach in Schubladen – ein klassisches Szenario in vielen Unternehmen rund um den Globus. Die darin enthaltenen vertraglichen Pflichten werden von den Abteilungen in unterschiedlichsten Excel-Tabellen nachgehalten. Verantwortliche, die für „das Leben eines Vertrags“ zuständig sind, kommen und gehen während des Lebenszyklus. Unternehmensweit standardisierte Klauseln in Standardverträgen sind Zukunftsmusik. Globale Analysen sind durch den vorhandenen Vertragsdatenflickenteppich nur unter maximalem Aufwand zu erstellen. Eine „Single-Source-of-Truth“? Eher Multiple-Sources-of-Truth! – fast zum Verrücktwerden.
Bei der Grünenthal-Gruppe bauen wir ein globales Contract-Lifecycle-Management-System auf. Wir nennen es „eContract“. Ein solches System im Unternehmen zu etablieren bedeutet vor allem eines: kulturellen Wandel auf globaler Ebene. Denn ein globales System entwickelt nur dann seine volle Wirkung, wenn abteilungsspezifische Softwarelösungen abgeschafft, Vertragsprozesse unternehmensweit angeglichen und Vertragsvorlagen vereinheitlicht werden. Doch wie realisiert man diesen Wandel
- in den Köpfen der Mitarbeitenden,
- in den Geschäftsbereichen und
- in der Rechtsabteilung?
Auf diese Frage haben wir zahlreiche Antworten gefunden und möchten hier einige unserer Erfahrungen teilen.
Ein globales Contract-Lifecycle-Management-System erfordert Wandel …
… in den Köpfen der Mitarbeitenden
Die wohl größte Herausforderung ist es, den Mitarbeitenden die Angst vor der Arbeit im System zu nehmen. Denn das „Händchenhalten“ durch die Rechtsabteilung für Verträge aller Wichtigkeitsstufen soll nicht (mehr) stattfinden. Mit einheitlich gestalteten Vertragsvorlagen schaffen wir in unserem System eine Art Selbstbedienungsladen. Dadurch, dass Nutzer bei der Erstellung, bei der internen Abstimmung und der Verhandlung durch das System geleitet werden, kann eine Vielzahl der Standardverträge ohne jegliche Beteiligung von Juristen direkt durch die Geschäftsbereiche abgeschlossen werden.
An die Hand genommen werden die Nutzer von eContract aber dennoch: Klick für Klick werden sie durch das System geführt – in unserem Fall unterstützt von einer sogenannten Digital-Adoption-Plattform. Die Digital-Adoption-Plattform zeigt den Nutzern durch exakt auf das System bei Grünenthal abgestimmte Hinweise, welches Feld sie zu welchem Zeitpunkt anklicken oder ausfüllen sollen – bis zum Vertragsabschluss und darüber hinaus. Der Einsatz einer Digital-Adaption-Plattform erlaubt es den Nutzern, sich selbst zu trainieren. Die Erfahrung zeigt, dass lange „Frontaltrainings“ meist wenig fruchten. Nur wer sich selbständig durch das System klickt, hat am Ende etwas gelernt.
Um ein neues System, mit dem eine Vielzahl an Nutzern später arbeiten soll, in der Organisation zu verankern, ist es essentiell, diese persönlich einzubinden und mitzunehmen – ein arbeitsintensives Unterfangen. Bei Grünenthal wird diese Arbeit auf viele Schultern verteilt: Es gibt sogenannte „Ambassadors“ – mindestens einen für jede Abteilung. Die Ambassadors sind nicht nur Anlaufstellen für die Nutzer, sondern fungieren auch als Unterstützung des Projekts und Schnittstelle zwischen den Nutzern und dem Projektteam. So kann das ganze Unternehmen über die Ambassadors voneinander lernen.
… in den Geschäftsbereichen
Teams aus dem Einkauf, der Steuerabteilung, der Forschung: So vielfältig wie Grünenthal ist, so sind es auch die historisch gewachsenen Vertragsprozesse in den einzelnen Bereichen, an die sich – mehr oder weniger strikt – gehalten wird. Durch die Nutzung des Systems wird erstmals transparent, inwieweit Prozesse tatsächlich sinnvoll sind und Verantwortlichkeiten eingehalten werden. Unsere Nutzer wissen den Zugewinn an Komfort sehr zu schätzen: Das System führt zu hoher Prozesssicherheit und Transparenz, auch weil es seine Nutzer automatisiert an notwendige Aktivitäten erinnert.
Wer nun glaubt, das System fülle sich von selbst, liegt jedoch weit daneben. In einer idealen Welt würde eine perfekt trainierte künstliche Intelligenz alle Verträge mitsamt der enthaltenen Pflichten auswerten und diese im System hochladen. Leider ist das Trainieren der AI jedoch zunächst harte, manuelle Arbeit. Es müssen hunderte von Verträgen erstellt werden, wobei – immerhin – parallel und automatisch die AI mittrainiert wird. Das bedeutet: Das Hochladen von alten und neuen Verträgen muss deshalb weiter erklärt, geübt und auf allen Hierarchieebenen schmackhaft gemacht werden.
… in der Rechtsabteilung
Gehirnakrobatik ist bei der Vorbereitung eines solchen Projekts definitiv notwendig – vor allem bei Legal Operations. Denn obwohl wir uns aus pragmatischen Gründen dagegen entschieden haben, Standardklauseln schon von vornherein über alle bei Grünenthal weltweit existierenden Vertragsvorlagen hinweg zu vereinheitlichen, wollen wir die Standardisierung weiter vorantreiben. Schließlich macht es wenig Sinn, wenn jede Vertragspräambel anders gestaltet und jede „Force-majeure“-Klausel komplett anders formuliert ist. Standardisierung ermöglichen wir durch den Aufbau einer „Klausel-Bibliothek“ sowie die einheitliche Benennung der Klauseln im System. Denn so werden diese besser durchsuchbar. Bei der Erstellung einer neuen Vertragsvorlage können Nutzer die beste Klauselvariante auswählen und diese in ihre Vorlage einfügen. So standardisieren wir Schritt für Schritt.
Sind Standardklauseln einmal im System, können diese auch in Vertragsentwürfe der Gegenpartei per Klick eingefügt werden und müssen nicht mühsam aus einer möglicherweise bereits veralteten Vorlage herauskopiert werden. Vor allem bei Compliance-relevanten Klauseln ist das ein wichtiger Mehrwert. Besonders charmant ist es, dass man später auch automatisch auswerten kann, ob diese Klauseln wirklich den Weg in alle Verträge gefunden haben.
Einen Wandel wollen wir mit dem neuen System auch bei der Zusammenarbeit und Dokumentation während der Verhandlung von Verträgen anstoßen. Lange E-Mail-Ketten gehören damit der Vergangenheit an. Schließlich findet sich die komplette Vertragsgenese im System: vom Vertragsentwurf über die interne Abstimmung bis hin zur Verhandlung mit dem Vertragspartner und der elektronischen Unterschrift. So entfällt die Ablage von E-Mails, Memos und Co. und damit ein lästiges Übel nach einem anstrengenden Deal.
Zentrales Erfolgskriterium ist der „Tone from the Top“, dass also der Kulturwandel vom Management mitgetragen und unterstützt wird. Bei Grünenthal hat das Projekt die volle Rückendeckung des General Counsels. Gezieltes Erwartungsmanagement, Videostatements und die ein oder andere motivierende Ansprache verdeutlichen den Mitarbeitenden den Stellenwert des Projekts und tragen zur Steigerung der Akzeptanz von eContract bei. So reizvoll und zeitlich überfällig die Einführung eines Systems ist: Wenn man in die Arbeitsabläufe von tausenden von Mitarbeitenden eingreift, braucht es harte Arbeit, Beharrlichkeit und ein gut durchdachtes Change Management. Die Nerven der Mitarbeitenden mit Nüsschen zu beruhigen reicht da allein natürlich nicht – hat bei Grünenthal aber zu jeder Menge guter Laune geführt.
sebastian.koehler@grunenthal.com