ESG als Herausforderung für das anwaltliche Selbstverständnis

Artikel als PDF (Download)

 

Anwälte sehen sich selbst gerne als Teil der Lösung, selten als Teil des Problems. Das gilt insbesondere im Hinblick auf ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Hier werden negative Effekte anwaltlicher Tätigkeit gerne entweder komplett ausgeblendet oder als notwendige Folgen ihrer Tätigkeit als Stützen des Rechtsstaats hingestellt und auf diese Weise gegen jegliche Kritik immunisiert.

Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geistert in der Rechtsprechung die schillernde Wendung vom Anwalt als „Organ der Rechtspflege“ umher. Diese fand 1949 zunächst in der Rechtsanwaltsordnung der Britischen Zone und dann 1959 in der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) Niederschlag. Bis heute lautet § 1 BRAO: „Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege“. Das lädt zu dem simplen Schluss ein, dass anwaltliche Tätigkeit immer ein Wert an sich sei und jede staatliche Einschränkung anwaltlicher Tätigkeit den Rechtsstaat an den Rand des Untergangs bringe. Diese Sicht der Dinge ist Ausdruck dramatischer anwaltlicher Selbstüberschätzung.

Erschütterung der Grundfesten des Rechtsstaats?

Ein gutes Beispiel für diese Haltung sind die aktuellen Reaktionen von der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und dem Deutschen Anwaltverein (DAV) auf das am 07.10.2022 in Kraft getretene 8. EU-Sanktionspaket. Damit reagiert die EU auf die anhaltende Eskalation seitens Russlands und den illegalen Krieg gegen die Ukraine, einschließlich der rechtswidrigen Annexion ukrainischer Gebiete auf der Grundlage von Schein-„Referenden“, der Mobilisierung zusätzlicher Truppen und der offenen Drohung mit Atomwaffen. Erstmals wird in gewissem Umfang dabei auch die Erbringung von Rechtsdienstleistungen für bestimmte russische Mandanten verboten.

Die BRAK übte in einer Pressemitteilung „scharfe Kritik“ an der Ausweitung der Sanktionen auf Rechtsanwälte und forderte Justizminister Buschmann auf, „für die Sicherung von Rechtsstaatlichkeit und uneingeschränkter Berufsausübungsfreiheit der Anwaltschaft einzustehen“. Nach Auffassung der BRAK verstößt das Sanktionspaket gegen rechtsstaatliche Grundsätze und darf in Deutschland schon aus verfassungsrechtlichen Gründen keine Anwendung finden. Durch das Sanktionspaket werde „die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats in seinen Grundfesten erschüttert“, und die vorgesehenen Einschränkungen bei der rechtlichen Beratung müssten „angesichts der massiven rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Bedenken zwingend wieder rückgängig gemacht werden“. Der DAV äußerte sich in vergleichbarer Weise.

Ähnlich harsch waren die Reaktionen von Anwaltsvertretern auf die im Geldwäschepaket der EU-Kommission vorgesehene Verschärfung von Sorgfalts- und Identifizierungspflichten für Anwaltschaft und Anwaltsnotariat. Aus Sicht des DAV, so dessen Geschäftsführerin Tanja Brexl in einem Beitrag (AnwBl 2022, 605 ff.), reichen die bisherigen Regelungen vollständig aus. Man müsse nicht die Anwälte und Notare als Risikogruppe einstufen und sie mit unnötigen Verpflichtungen und Belastungen versehen sowie das Vertrauensverhältnis zu ihren Mandanten unnötig belasten.

Anwälte auf Seiten der Schlechten

In einer im Berliner Anwaltsblatt (Berliner AnwBl 2022, 397 ff.) abgedruckten Rede beim „Berliner Anwaltsessen“ am 02.09.2022 verknüpfte die Präsidentin des Rates der Europäischen Anwaltschaften, Margarete Gräfin von Galen, beide Aspekte zu einer Generalabrechnung mit der Politik, die durch zunehmende Einschränkungen der anwaltlichen Freiheiten den Rechtsstaat gefährde. Sie wies dabei mit verblüffender Entschiedenheit die allgemeine Erwartungshaltung zurück, dass Rechtsanwälte jenseits des Rechts „Verantwortung“ übernehmen sollten, indem sie bestimmte Mandate nicht übernehmen und/oder, wenn sie bestimmte Mandate übernehmen, dem Staat durch Meldepflichten bei der Bekämpfung schlechten Verhaltens wenigstens behilflich sein sollten. Beides sei mit der Rolle der Anwälte im Rechtsstaat nicht vereinbar. Vielmehr gelte folgender Satz: „Rechtsstaat braucht eine unabhängige Anwaltschaft, die sich auch auf die Seite der ‚Schlechten‘ stellen darf oder sogar stellen muss, ohne dass der Staat dazwischenfunkt.“ Und weiter: Der Zugang des Rechts für „unerwünschte Individuen“ gehöre zum Rechtsstaat. Wenn sich die Anwaltschaft ihrer notwendigen Rolle im Rechtsstaat aus ethischen Überlegungen entziehe, sei dies der Sargnagel für den Rechtsstaat.

Herausforderung für Unternehmen durch ESG

Unternehmen sehen sich einem verstärkten Rechtfertigungsdruck im Hinblick auf die Vereinbarkeit ihrer Geschäftstätigkeit mit den ESG-Prinzipien ausgesetzt. Nicht nur nimmt die Regulierung in diesem Bereich dramatisch zu. Zusätzlich fordern Kunden und Investoren von den Unternehmenslenkern zunehmend ESG-konformes Verhalten. Das stellt diese vor nicht geringe Herausforderungen, weil natürlich die Verfolgung aus gesamtgesellschaftlicher Sicht für wertvoll und sinnvoll gehaltener Ziele häufig im Widerspruch steht zu den Ertragsinteressen des Unternehmens und seiner Anteilseigner. Zwar mag häufig die Verfolgung gemeinnütziger Ziele gerade langfristig auch im wirtschaftlich verstandenen Unternehmensinteresse liegen. Zwingend ist das aber nicht. Der Rückzug vieler Unternehmen aus dem russischen Markt wurde daher in der Regel nicht mit wirtschaftlichen Vorteilen begründet, sondern damit, dass ein solcher Rückzug – ohne Rücksicht auf die damit verbundenen wirtschaftlichen Nachteile – ein Gebot des Anstands und der Haltung sei im Angesicht der kriegsverbrecherischen Aggression Russlands gegen die Ukraine und deren Bevölkerung.

Kein Schutz der Anwälte vor ethischen Fragen

Warum sollte das bei Anwälten anders sein? Ist es richtig, dass Anwälte durch ihre Funktion als „Organ der Rechtspflege“ vor ethischen Fragen im Hinblick auf ihre Tätigkeit geschützt sind? Ist es tatsächlich gut und wünschenswert, wenn Anwälte „Schlechte“ beraten?

Diese (rhetorischen) Fragen sind natürlich Unsinn, zumindest soweit nur die beratende Tätigkeit eines Wirtschaftsanwalts betroffen ist. Der Kern des Rechtsstaats besteht in dem Schutz vor staatlicher Willkür durch ein unabhängiges und allein dem Recht verantwortliches Gerichtswesen. Und in diesem Zusammenhang haben Rechtsanwälte eine zentrale Funktion, die es zu bewahren und zu behüten gilt. Und genau diesen Bereich nimmt zum Beispiel die EU-Sanktionsverordnung völlig zu Recht vom Geltungsbereich der Sanktionen aus.

Die Vertretung eines Verbrechers im Strafverfahren und der anwaltliche Schutz von Mandanten vor staatlicher Willkür auch jenseits von Strafverfahren sind per se aus rechtsstaatlicher Sicht wertvolle Tätigkeiten. Dass davon auch Verbrecher profitieren, ist die notwendige Folge und macht diese Tätigkeit nicht unter ethischem Gesichtspunkt angreifbar.

Für die beratende Tätigkeit von Wirtschaftsanwälten lässt sich ein solcher notwendiger Bezug hingegen kaum herstellen. Die Funktion der Beratungstätigkeit ist insoweit allein abgeleitet von der Tätigkeit der Mandanten. Diese in den Grenzen der Gesetze optimal zu befördern und zu unterstützen, darum allein geht es hier. Grund, die anwaltliche Tätigkeit pauschal zu überhöhen, gibt es daher insoweit nicht.

Wenn der beratenden Tätigkeit des Wirtschaftsanwalts also nicht wie etwa der Tätigkeit eines Strafverteidigers notwendig ein inhärenter gesamtgesellschaftlicher Wert zukommt, müssen sich Anwälte hingegen sehr wohl fragen lassen, was die gesamtgesellschaftlichen Effekte ihrer Tätigkeit sind. Insofern ist es bereits im Ansatz falsch zu bestreiten, dass Anwälte sich für ihre Tätigkeit ethisch rechtfertigen müssen. Daraus, dass jeder Verbrecher einen Anwalt zu seiner strafrechtlichen Verteidigung braucht, folgt mitnichten, dass rechtsberatende Anwälte sich nicht fragen lassen müssen, welche Tätigkeiten und aus gesamtgesellschaftlicher Sicht negativen Effekte sie durch ihre Tätigkeit befördern. Es gibt vielmehr natürlich sehr wohl ethische Maßstäbe, an denen sich auch Anwälte messen lassen müssen.

Anders als manche anwaltlichen Standesvertreter haben das andere bereits begriffen. Nicht nur werden von Mandanten zunehmend etwa Panelaufnahmen und/oder Mandatsentscheidungen auch davon abhängig gemacht, wie divers die Partnerschaft und/oder das Beratungsteam sind. Da wird unter Umständen nicht nur nach der Frauenquote gefragt, sondern auch nach Migrationshintergrund und sogar nach sexueller Orientierung. Auch die Green-Office-Policies von Kanzleien werden zunehmend abgefragt und hinterfragt.

Gesamtgesellschaftliche Verantwortung auch der Anwälte

Auch Bewerber und Mitarbeiter stellen zunehmend die Frage, ob sie im Rahmen der anwaltlichen Beratung auf der richtigen Seite stehen. Aus Sicht der Vertreter der Generation Y ist es häufig nicht mehr hinreichend, den Inhalt der anwaltlichen Tätigkeit als die (im Rahmen des gesetzlich Zulässigen) bestmögliche Vertretung der Interessen von Mandanten zu verstehen. Stattdessen stellen sie sich (und ihrem Arbeitgeber) die Frage nach den Auswirkungen ihrer Beratungstätigkeit auf von ihnen für wertvoll gehaltene Ziele.

Anwälte und Anwältinnen stehen daher im Hinblick auf ESG auf einmal vor ähnlichen Problemen wie ihre Mandanten. Und das ist auch gut so. Auch Anwälte müssen sich völlig zu Recht dafür rechtfertigen, welchen positiven oder negativen Beitrag ihre Tätigkeit zur Förderung von ESG-Belangen liefert. Ihr ESG-Footprint ist insofern nicht nur, aber auch eine Funktion des entsprechenden Abdrucks ihrer Mandanten.

Damit rückt der Inhalt der Tätigkeit des Mandanten, den der Anwalt vertritt, in den Fokus. Und es ist in diesem Sinne daher nicht egal, wen man in welcher Angelegenheit berät. Auch Anwälte müssen daher Verantwortung für die Effekte ihrer Tätigkeit übernehmen. Und diese Art Verantwortung heißt daher auch, bestimmte Mandate eben nicht zu übernehmen.

Haltung ist auch und gerade bei Anwälten gefragt. Dann werden sie es auch nicht mehr per se unangemessen finden, wenn der Staat sich in Einzelfällen dafür entscheidet, die Freiheit der anwaltlichen Beratung (zumindest in nichtstreitigen Angelegenheiten ohne Bezug zu staatlicher Tätigkeit) einzuschränken, wenn dies aus gesamtgesellschaftlicher Sicht für geboten erachtet wird, oder wenn er ihnen etwa im Rahmen der Geldwäschepflichten verschärfte Mitwirkungs- und Meldepflichten auferlegt.

 

birkholz@lindenpartners.eu

Aktuelle Beiträge