Nach der Ankündigung von Lupl: Wo stehen wir mit der „Common Legal Platform“ (CLP)?

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Was bisher geschah
Wie so oft lag die Bucerius Law School mit der Wahl ihres Fokusthemas für ihre Herbsttagung im Jahr 2015 goldrichtig: „MENSCH VS. MASCHINE?“ – das bildete den Auftakt zu einem regelrechten Legal-Tech-Hype in Deutschland.

Zur gleichen Zeit arbeiteten über 30 Autoren aus allen Bereichen des Rechtsmarkts emsig an ihren Artikeln für die Publikation „Liquid Legal – Transforming Legal into a Business Savvy, Information Enabled and Performance Driven Industry“. Sie schufen ein Kaleidoskop, das die sich abzeichnende digitale Transformation aus allen Blickwinkeln zeigte.
Es war eine spannende Zeit: Wer grob erklären konnte, wie eine relationale Datenbank funktioniert, galt schon als Experte, von Blockchain war noch gar keine Rede, und man diskutierte voller düsterer Vorahnungen, wie lange unsere Branche in ihrer damaligen Form noch existieren werde.
Fünf Jahre später schauen wir ernüchtert zurück und stellen fest: Zwar sind viele technologiebasierte Lösungen entstanden, die konkrete Aspekte der juristischen Arbeit technisch lösen. Doch die großen Versprechungen, die damals vollmundig vielerorts gemacht wurden, haben sich nicht bewahrheitet. In der gleichen Zeitspanne haben sich jedoch fast unbemerkt Technologien, die damals noch kaum verstanden wurden, die etwa unter dem Begriff künstliche Intelligenz (KI) zusammengefasst werden können, derart rasant in allen Lebensbereichen etabliert, dass wir sie heute nicht mehr wegdenken können, ohne gefühlte Lichtjahre in der Digitalisierung zurückgeworfen zu werden. Alles, was der Anwalt heute braucht, um einen Mandantentermin wahrzunehmen, trägt er in seiner Tasche: das Flugticket, die Taxi-App, die Kundendaten und -akten, sein gesamtes Büro, Chats, Boards etc.
Diese schöne neue Welt haben wir, beginnend 2015, als information-enabled definiert und meinten damit, dass wir zu allen relevanten Informationen und Systemen jederzeit überall Zugriff haben werden. Gleichzeitig legten wir die Lupe auf einige Begleitumstände, die damals noch unbekannt waren, etwa die Tatsachen, dass

  • Legal-Tech Standards benötigt, um sich flächendeckend durchzusetzen;
  • Legal-Tech nicht skalieren wird, wenn es proprietär gedacht, gestaltet und implementiert wird;
  • Legal-Tech-Lösungen selbst nur ein Teil eines Gesamtsystems sind, in das sie sich nahtlos integrieren müssen;
  • Legal-Tech immer im Werden begriffen sein wird: Neue Applikationen und Lösungen müssen mit Bestandssystemen kompatibel sein, so wie Programme mit Betriebssystemen kompatibel sind;
  • wir Zeugen einer isolierten Optimierung (=Optimization in Isolation) werden, in der jeder seinen Prozess verbessert – oftmals zu Lasten der vor- und nachgelagerten Prozesse; und als größten Hemmschuh, dass
  • die Akteure dieser neuen Welt bislang keine Schnittstellen untereinander vorhalten und wir, wollen wir kooperieren, auf das Senden und Empfangen von E-Mails angewiesen sind.

Das war die Geburtsstunde der „Common Legal Platform“.

Was ist und warum braucht der Rechtsmarkt eine „Common Legal Platform“?
Hierzu wurde vieles geschrieben – so etwa im Deutschen AnwaltSpiegel („Der Zeitpunkt zum Handeln ist jetzt“, ­siehe hier) und noch mehr diskutiert. Allein, realisiert worden ist wenig. Doch der Reihe nach:

Die Grundidee
Wenn das Ziel von Legal-Tech ist, durch Digitalisierung und Automatisierung das Leben und Arbeiten von Anwälten – oder besser: Akteuren im Rechtsmarkt – zu erleichtern, so ist die Idee der „Common Legal Platform“ die Operationalisierung dieser Vision und damit die Frage: Wie bekomme ich diese neue schöne Welt ohne umständliche System- und Medienbrüche auf mein Smartphone, meinen Laptop oder den Monitor?

  • Es gibt zahllose juristische Datenbanken mit Entscheidungen, Kommentaren, Sekundärliteratur – jede für sich eine eigene Welt.
  • Es gibt Organisationen und Verbände, die hervorragende Vorlagen erarbeiten, Standards empfehlen, Beispiele geben – jede für sich.
  • Es gibt unzählige Anbieter von Legal-Tech-Lösungen für alle Bereiche des juristischen Arbeitens – jeder nach seiner eigenen Taxonomie, eigenen Datenformaten, eigenen Logiken und ohne Standardschnittstellen.
  • Neben Legal-Tech erstarken Legal-Services allerorten – nur: Wie kann ich diese technisch und prozessual in mein System einbinden?
  • Ich will mit der Gegenseite oder dem zukünftigen Partner an einem Dokument arbeiten – welche Kollaborationsplattform soll es sein: deine oder meine oder eine dritte? So richtig wohl fühle ich mich allerdings nur auf meiner eigenen …
  • Ich will meinen Kunden Zugriff auf alternative Klauseln geben und ihnen erklären, warum ich diese Variante empfehle, dass ich nicht weiter abweichen werde oder welche Auswirkungen eine andere Klausel hätte – kurz:
  • Ich will meine Prozesse und eigenen CLM-Systeme mit meiner Kollaborationsplattform verknüpfen. Stand heute: unmöglich.

Wie eine solche „Common Legal Platform“ aussehen könnte, haben wir im November 2017 auf der Liquid-Legal-Konferenz vorgestellt. Die Herausgeber von „Liquid Legal“ und späteren Mitgründer des Liquid Legal Institute e.V. hatten zu einer Abendveranstaltung eingeladen, um ihrer Idee Konturen zu geben. Der Abend wurde ein großartiger Erfolg! Die Gespräche zogen sich bis spät in die Nacht … – „Ja, das wäre etwas, eine solche Plattform bräuchte der Rechtsmarkt, dann würde die Transformation gelingen!“, war der Tenor!

Die Realisierung
Allerdings hat eine „Common Legal Platform“ neben der technischen Seite auch eine viel verzwicktere Dimension: Wie können wir sicherstellen, dass sie vom (Rechts-)Markt auch angenommen wird? Die (technische) Realisierung, das war uns von Anfang an klar, ist nicht das Kernproblem – sondern die Nutzbarkeit und vor allem die Akzeptanz! Wie kann es gelingen, dass Wettbewerber wie die Big Four, die Magic-Circle-Kanzleien, die Inhouse-Teams der DAX-Konzerne, aber auch die vielen kleineren Kanzleien, Rechtsabteilungen, Legal-Tech-/Legal-Services-Anbieter und nicht zuletzt die Universitäten, juristischen Fachverlage, die öffentliche Hand, die Justiz bei einer solchen gemeinsamen Plattform mitmachen?
Der Schlüssel, so waren wir uns von Anfang an einig, liegt im Begriff „Common“ und damit einer neutralen, nicht den kommerziellen Interessen einzelner Marktteilnehmer unterworfenen Instanz, der Schaffung eines paritätisch besetzten Konsortiums als Eigentümer und Betreiber dieser „allgemeinen“ Plattform. Die „Allmende“ diente uns als Bild: die juristische Gemeindewiese, die all denjenigen zur Verfügung steht, die die Gemeinschaftsregeln beachten. Halten sich alle an die Regeln, vermeiden wir die Tragik der Allmende, die „Tragedy of the Commons“, zum Nutzen aller!

Wo stehen wir heute?
Die Idee fand Zuspruch in einem Maße, das uns förmlich zwang, den nächsten Schritt zu wagen. Mit den für die Gründung eines Vereins erforderlichen sieben Gleichgesinnten wurde 2018 das Liquid Legal Institute e.V. geboren, mit dem satzungsgemäßen Vereinszweck: die Grundlagenforschung und Schritte zur Realisierung der „Common Legal Platform“ zu befördern.
Unter den Gründern gab es zwei Strömungen: Die einen wollten sofort zur Tat schreiten, Gelder einsammeln, ein Konsortium gründen und Teams mit der Entwicklung eines „minimum viable product“ beauftragen. Die anderen riefen „Halt!“ und fragten, ob wir denn sicher wüssten, was die verschiedenen Nutzer einer CLP eigentlich wirklich erwarteten, welches Problem wir genau für wen lösten und ob es nicht vielleicht ganz andere Antworten gäbe, als direkt auf eine Lösung zu springen. Das überzeugte uns, und wir nahmen uns die Zeit, in einem ersten Schritt die Profis vom Hasso-Plattner-Institut zu konsultieren zur Beantwortung der Grundsatzfrage: ­„Warum findet Kollaboration im Rechtsmarkt heute nicht statt?“ Zwei Teams, bestehend aus jeweils zehn Studenten und betreut von Mitgliedern des Liquid Legal Institute, sollten darauf unter Anwendung der Design-Thinking-Methode eine Antwort finden. Ein paar Monate, zahlreiche Interviews und mehrere Präsentationen später hatten wir die Antwort: It’s a wicked problem!
Was dies bedeutet, kann ab August dieses Jahres im zweiten „Liquid Legal“-Kompendium aus dem Springer-Verlag nachgelesen werden („Liquid Legal – Towards a Common Legal Platform“), zusammen mit 30 weiteren Artikeln, die sich allesamt auf die Frage fokussieren: Wie kann ich als Teilnehmer des Rechtsmarkts von einer „Common Legal Platform“ profitieren?
Die Antworten, die die Autoren geben, sind so vielfältig und ideenreich wie die Vorstellungen, die sich die Zuhörer regelmäßig bilden, wenn sie zum ersten Mal von einer „Common Legal Platform“ hören – die Phantasie kennt keine Grenzen.
Nun wissen wir oder glauben zumindest zu wissen, was die Vision ist, und haben einmal die „Minimum Requirements“ und die „Principles“ einer solchen Plattform aufgeschrieben – und auf GitHub veröffentlicht (siehe hier), so dass sie allen Interessierten zugänglich sind. Seitens des Liquid Legal Institute laden wir jetzt schon zur Diskussion und Kommentierung ein. Wir halten auch immer wieder inne, versuchen von anderen zu lernen und fragen uns:

  • Nach welchen Prinzipien arbeitet die Open-Source-Community in der Informatik schon seit vielen Jahren? Was macht sie so erfolgreich?
  • Wie arbeiten die großen IT-Giganten (Microsoft mit MS Teams, aber auch Google und Amazon), die im Bereich Plattformen permanent neue Maßstäbe setzen?
  • Was machen die anderen Initiativen, gibt es vielleicht schon ein brauchbares Konzept oder Produkte, die wir unterstützen sollten (etwa Reynen Court)?

Und dann kam Lupl, …
… für uns, wie wohl für die meisten im Markt, völlig überraschend und aus heiterem Himmel.
In einem Interview im Deutschen AnwaltSpiegel stellte Dr. Cornelius Brandi, bei CMS einer der maßgeblichen Mitinitiatoren des Projekts, Lupl erstmals der Öffentlichkeit vor (siehe hier). Aber was präsentierte er eigentlich?
Eine Ankündigung: Man habe verstanden, was benötigt werde, und werde nun liefern. Mehr als 10.000 Juristen hätten daran mitgewirkt, viele Rechtsabteilungen wären begeistert, man könne nun betatesten, und 2021 gehe es dann so richtig los.

Also, was ist Lupl?
Lupl greift erfreulicherweise die zentralen Ideen der „Common Legal Platform“ auf und erklärt selbstbewusst, sie technisch umgesetzt zu haben – mehr könne man zum heutigen Zeitpunkt leider nicht sagen. Wäre dies tatsächlich der Fall, würden wir uns freuen und böten unsere tatkräftige Unterstützung an. Denn wir glauben an die Macht der „Coopetition“ und sehen in der Kollaboration den einzigen Hebel, um mit den Herausforderungen der Transformation Schritt zu halten – das ist unser Vereinszweck, wir stehen dazu!
Und was ist Lupl nicht?
Allerdings sehen wir auch deutlich, was Lupl nicht ist: eine neutrale (gemeinschaftlich gehaltene) juristische Person, die nicht nach kommerziellen Maßstäben zu messen ist, sondern allgemeinen Zwecken dient. Es scheint relativ naheliegend, dass Lupl die Herzen der Rechtsabteilungen gewinnen wird – vorausgesetzt, die Umgebung kann alles und kostet nichts. Schwieriger allerdings scheint es schon, die anwaltliche Konkurrenz zu gewinnen.
Wäre die Akzeptanz von Lupl für die BigFour, den Magic Circle und die starke Konkurrenz in Deutschland nicht ein eklatantes Eingeständnis ihres eigenen Zögerns und der Ziellosigkeit in den letzten fünf Jahren der Legal-Tech-Welle? Und kann ein in Konkurrenz erdachtes Modell eines Mitbewerbers als zentrale strategische Lösung überhaupt in Betracht kommen? Und die anderen? Würden die Fachverlage, die Universitäten, die vielen Anbieter von Software und Services, die Behörden und Gerichte Lupl nutzen?
Es bleibt zu hoffen – denn ein Lupl fehlt! Allerdings zeigt die Erfahrung, dass ein „Roll-out by Surprise“ sehr riskant ist! Die Arbeiten an Lupl laufen seit zwei Jahren – hätte man da nicht einmal eine Wasserstandsmeldung geben und andere Stakeholder einladen können, Input oder Feedback zu geben? Wir hätten sicherlich tatkräftig unterstützt – aber nur, wenn wir alle gewinnen! Der Rechtsmarkt braucht keine weitere proprietäre Plattform! Wir brauchen den Mut, neue Wege zu gehen – zusammen!
Wir sollten den 2017 gesponnenen Faden der offenen Diskussion aufnehmen!

Bei Fragen und Anregungen zu der „Common Legal Platform“ erreichen Sie uns unter folgender E-Mail-Adresse: clp@liquid-legal-institute.org.

k.jacob@liquid-legal-institute.org

d.schindler@liquid-legal-institute.org

b.waltl@liquid-legal-institute.org

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