Im Blickpunkt: Die aktuelle Entscheidung des OLG Frankfurt am Main

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Einführung

Der Kläger begehrte als Insolvenzverwalter über das Vermögen des Einzelhandelsunternehmens für Drogerieartikel Schlecker Schadensersatz in Höhe von rund 212 Millionen Euro von den Beklagten, die zu den in Deutschland führenden Anbietern von Drogeriemarkenartikeln in den Bereichen Körperpflege, Wasch- und Reinigungsmittel gehören. Die Klage war als sogenannte Follow-on-Klage geltend gemacht worden: Die Grundlage für den Vorwurf, die Beklagten hätten einen Kartellverstoß begangen, der sie zum Schadensersatz verpflichtete, war ein vom Bundeskartellamt festgestellter und bebußter kartellrechtswidriger Informationsaustausch. An diesem Informationsaustausch hatten sich die Beklagten sowie weitere, im Verfahren als Streithelfer beigetretene Anbieter von Drogeriemarkenartikeln in zeitlich wie inhaltlich unterschiedlichem Umfang zwischen März 2004 und November 2006 im Rahmen eines seit den 90er Jahren verbandsmäßig eingerichteten Arbeitskreises beteiligt. Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen, die vom Insolvenzverwalter eingelegte Berufung wies das OLG Frankfurt am Main (Az. 11 U 98/18, Urteil vom 12.05.2020) mit einer von der des Landgerichts abweichenden Begründung zurück. Das OLG Frankfurt am Main ging davon aus, dass nach § 33 Abs. 4 GWB bindend feststehe, dass die Beklagten Kartellrechtsverstöße begangen hätten. Schlecker sei als unmittelbarer Abnehmer der Beklagten auch kartellbetroffen im Sinne der neuesten Rechtsprechung des BGH im Urteil „Schienenkartell II“ (KZR 24/17) des BGH vom 28.01.2020. Jedoch habe sich mit der für die Haftungsausfüllung gemäß § 287 ZPO erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht feststellen lassen, dass der Informationsaustausch zu einem kausalen Schaden bei dem Insolvenzschuldner geführt habe. Der Schaden stehe nicht bereits aufgrund der Feststellungen des Bundeskartellamts in den gegen die Beklagten ergangenen Bußgeldbescheiden bindend fest. Bereits bei Quoten- und Kundenschutzkartellen – dies waren die Kartelle, die den beiden „Schienenkartell“-Urteilen des BGH zugrunde lagen [dem Urteil „Schienenkartell I“ vom 11.12.2018 (KZR 26/17) und dem oben erwähnten Urteil vom 28.01.2020] – streite kein Anscheinsbeweis dafür, dass die im Rahmen des Kartells erzielten Preise im Schnitt über denjenigen lägen, die sich ohne die wettbewerbsschränkende Absprache gebildet hätten. Dies gelte erst recht für einen reinen Informationsaustausch. Ob statt des Anscheinsbeweises eine entsprechende tatsächliche Vermutung im Sinne eines Erfahrungssatzes für einen reinen Austausch wettbewerbsrelevanter Informationen gelte, könne offenbleiben. Jedenfalls komme dieser für den Informationsaustausch kein maßgebliches Gewicht zu. Es lägen vielmehr zahlreiche Indizien vor, die einer preissteigernden Wirkung entgegenstünden. So sprächen die konkreten Marktgegebenheiten, die Praxis und der Gegenstand des Informationsaustauschs unter Berücksichtigung insbesondere der legalen Zielsetzung des Arbeitskreises, die fehlende Kartelldisziplin und die starke Verhandlungsposition von Schlecker gegen einen ursächlich auf das wettbewerbswidrige Verhalten zurückzuführenden Schaden. Der Kläger hatte auch ein Privatgutachten vorgelegt. Dies reichte dem Oberlandesgericht aber auch nicht aus, um einen Schaden anzunehmen. Das Gutachten leide gemäß den nachvollziehbaren Ausführungen der Beklagten unter methodischen Fehlern und Widersprüchen der ökonometrischen Analyse und Berechnung, insbesondere bei der Auswahl und Ermittlung zugrundeliegender Anknüpfungstatsachen. Diesen Einwänden sei der Kläger nicht substantiiert entgegengetreten, so das Oberlandesgericht, das deshalb keinen Anlass für eine weitergehende Sachverhaltsaufklärung sah.

Sachverhalt und Hintergrund des Urteils

Das Urteil des OLG Frankfurt am Main beruht auf der jüngeren Rechtsprechung des BGH zu Kartellschadensersatzklagen, die sich als Follow-on-Klagen auf die Bindungswirkung einer kartellbehördlichen Entscheidung, sei es der Kommission, sei es des Bundeskartellamts, stützen. Die Instanzgerichte hatten regelmäßig einen sogenannten Anscheinsbeweis für die Kartellbetroffenheit der jeweiligen Erwerbsvorgänge, die zum Schaden führten, angenommen, ebenso wie für das Vorliegen eines Schadens in Form einer Preisüberhöhung, die aus dem kartellrechtswidrigen Verhalten resultierte. In dem bereits erwähnten Urteil „Schienenkartell I“ hatte der BGH die Existenz eines Anscheinsbeweises verneint, weil Kartelle in ihrer Zielrichtung, Umsetzung und Intensität sehr unterschiedlich seien und die Sachverhalte regelmäßig nicht die für einen Anscheinsbeweis erforderliche Typizität aufwiesen. Der BGH hatte zunächst im Urteil „Schienenkartell I“, dann noch deutlicher im Urteil „Schienenkartell II“ angenommen, dass es aber eine tatsächliche Vermutung für die Kartellbetroffenheit der entsprechenden Vorgänge gab, ebenso für den Schaden, der aus dem Kartell resultierte. Der BGH verlangte eine umfassende Würdigung aller Indizien und des gesamten Vortrags beider Parteien. Der tatsächlichen Vermutung komme aber eine hohe Bedeutung in dieser Gesamtwürdigung zu, so der BGH. Im Wesentlichen in Übereinstimmung mit den Kriterien, die der BGH zur Verneinung des Anscheinsbeweises angeführt hatte, nämlich Kartelldisziplin, Intensität des Kartells sowie Marktabdeckung des Kartells („Marktanteil der Kartellanten“), ging das OLG Frankfurt am Main davon aus, dass das Gewicht der tatsächlichen Vermutung durch den konkreten Sachverhalt überspielt werde. Das Oberlandesgericht stellte dabei entscheidend auf die Art des Kartellverstoßes ab, nämlich einen reinen Informationsaustausch. In den zugrundeliegenden Bußgeldbescheiden aus den Jahren 2008, 2011 und 2013 hatte das Bundeskartellamt insgesamt gegen 15 Unternehmen und den Markenverband e.V. Bußgelder verhängt. Der Informationsaustausch fand in den Jahren 2004 bis 2006 im Rahmen regelmäßig stattfindender Treffen eines Arbeitskreises des Markenverbands statt. Die Bußgeldverfahren unter anderem auch gegen Beklagte des Verfahrens vor dem OLG Frankfurt am Main waren im Zeitraum zwischen 2008 und 2011 mit rechtskräftigen Bußgeldbescheiden im Wege der einvernehmlichen Verfahrensbeendigung beendet worden. In den Sitzungen des erwähnten Arbeitskreises hatten die Unternehmensvertreter regelmäßig wettbewerblich sensible Informationen ausgetauscht. Es fand ein regelmäßiger Austausch statt über beabsichtigte kundenübergreifende Bruttopreiserhöhungen sowie über den aktuellen Stand der Verhandlungen mit ausgewählten, großen Einzelhändlern bei Jahresgesprächen und Sonderforderungen. Ebenso erfolgte ein Austausch über nicht öffentlich zugängliche Vertriebskennzahlen, bei dem in identifizierender Form Vertriebsstrukturen und -kosten sowie die jeweilige Behandlung und Gewährung von Zahlungszielen gegenüber dem Handel offengelegt wurden. Nach den Feststellungen des Bundeskartellamts erhielten die Mitgliedsunternehmen durch den Informationsaustausch einen Wissensvorsprung und konnten damit die Ungewissheiten hinsichtlich des Marktgeschehens verringern. Die Mitteilungen über Preiserhöhungsabsichten sowie Verhandlungen bei Sonderforderungen und Jahresgesprächen der anderen Unternehmen erlaubten ihnen, ihre jeweilige Preis- sowie Verhandlungsstrategie bezüglich Jahresgesprächen und Sonderforderungen den Gegebenheiten anzupassen. Gleichermaßen standen ihnen durch den Austausch über Vertriebskennzahlen sensible Informationen der anderen Unternehmen zur Verfügung, die sie ebenfalls für ihre Verhandlungen und Planungen nutzen und damit ihre Verhandlungsposition gegenüber ihren Abnehmern, somit auch gegenüber Schlecker, verbessern konnten.

Würdigung

Das Urteil des OLG Frankfurt am Main ist zum alten Recht ergangen, also zum Rechtszustand vor dem Inkrafttreten der 9. GWB-Novelle am 01.06.2017. Das GWB in der heutigen Fassung sieht in § 33a Abs. 2 Satz 1 eine widerlegliche Vermutung bzgl. dessen, dass ein Kartell einen Schaden verursacht, vor. Diese Bestimmung, wie auch wesentliche Teile der 9. GWB-Novelle, gelten aber nach der Überleitungsvorschrift des § 186 Abs. 3 GWB nur für Schadensersatzansprüche, die nach dem 26.12.2016 entstanden sind. Für alle aktuell laufenden Kartellschadensersatzprozesse, insbesondere im Zucker-, Schienen- und LKW-Kartell, gelten daher die Regeln, die die Rechtsprechung zu den anwendbaren Bestimmungen des § 33 Abs. 3 GWB a.F. und § 823 Abs. 2 BGB entwickelt hat. Das Urteil des OLG Frankfurt am Main ist vor dem Hintergrund des Urteils des XIII. Zivilsenats des BGH in seinem Urteil „Schienenkartell II“, durch das die Position von Klägern in Kartellschadensersatzprozessen grundsätzlich gestärkt zu werden schien, etwas überraschend. Der BGH hatte insbesondere das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Kartellbetroffenheit, das insbesondere in Verfahren vor den Landgerichten eine große Rolle spielte und noch spielt, insofern relativiert, als wesentliche Teile der Prüfung, inwieweit sich ein Kartell auf den konkreten Erwerbsvorgang, der zum Schaden geführt haben soll, ausgewirkt hat, nicht mehr dem eher strengen Beweismaßstab des § 286 ZPO, sondern dem des § 287 ZPO mit entsprechenden Schätzungsmöglichkeiten unterworfen wurden. Vor diesem Hintergrund und angesichts der grundsätzlich angenommenen tatsächlichen Vermutung für den Eintritt eines Schadens infolge eines Kartellverstoßes wäre davon auszugehen, dass die im Rahmen des Kartells erzielten Preise tatsächlich im Schnitt über denjenigen liegen, die sich ohne die wettbewerbsbeschränkende Absprache gebildet hätten. Das OLG stellt entscheidend darauf ab, dass es sich bei dem Kartell, das Grundlage des Anspruchs sein soll, um einen sogenannten reinen Informationsaustausch gehandelt habe. Die vom OLG bemühten Indizien, die einer preissteigernden Wirkung entgegenstehen, nämlich die konkreten Marktgegebenheiten, die Praxis und der Gegenstand des Informationsaustauschs und die im Ausgangspunkt legale Zielsetzung des Arbeitskreises, lassen sich den öffentlich zugänglichen Fallberichten nicht entnehmen. Aus dem Urteil des OLG Frankfurt am Main ist zu schließen, dass es für den Erfolg einer Schadensersatzklage darauf ankommt, die Auswirkungen des konkreten Kartells zu schildern und ausführlich zu den Wirkungen des konkreten Vorwurfs, hier dem „reinen“ Informationsaustausch, vorzutragen. Die Berufung auf die bindende Bußgeldentscheidung reicht typischerweise nicht aus, da die Bußgeldentscheidungen in der Regel keine Ausführungen zu den Auswirkungen des Kartells auf die jeweiligen Kunden enthalten. Dies gilt erst recht für Bußgeldentscheidungen, die als Settlement-Entscheidungen ergehen. Die Erfolgsaussichten für eine Schadensersatzklage als Follow-on-Klage, mindestens aber der Aufwand für die Klägerseite, den Anspruch schlüssig darzustellen, hängen somit sehr wesentlich vom Inhalt und von der Qualität der Bußgeldentscheidung ab. Sofern die maßgebliche Bußgeldentscheidung keine weiteren Ausführungen zu Zielrichtung, Umsetzung und Intensität des Kartells enthält, befinden sich die Beklagten, die typischerweise auch die Kartelltäter sind, insofern im Vorteil, als ihnen der Sachverhalt vertraut ist und sie über die notwendigen Beweismittel verfügen, den Ablauf des Kartells in einer ihnen günstigen Weise darzustellen. Das Risiko der Qualität von Bußgeldbescheiden für die Follow-on-Klagen hat sich im vorliegenden Fall manifestiert. Das OLG Frankfurt am Main ist auch dem vom Kläger eingereichten Privatgutachten nicht weiter nachgegangen. In seinem Urteil „Schienenkartell II“ hat der BGH sogenannte Segelanweisungen für die Instanzgerichte gegeben, wie sie im Rahmen der grundsätzlich bestehenden tatsächlichen Vermutung für den Schadenseintritt und bei der Notwendigkeit, sämtliche Indizien, die für oder gegen einen Schaden sprechen können, zu würdigen, mit von den Parteien vorgelegten Sachverständigengutachten umgehen. Der BGH hat insofern deutlich gemacht, dass die Vorlage eines Privatgutachtens nicht notwendigerweise die Einholung eines gerichtlich beauftragten Sachverständigengutachtens erfordert. Das OLG Frankfurt am Main ist dem insofern gefolgt, als es sowohl das klägerische als auch die von dem Beklagten dagegen erhobenen ökonometrischen Einwendungen selbst gewürdigt und die Ausführungen des klägerischen Privatgutachtens als nicht ausreichend angesehen hat, zumal offenbar der Kläger den vorgebrachten Einwänden nicht substantiiert entgegengetreten ist. Diese Herangehensweise des OLG Frankfurt am Main wird Kläger in Zukunft veranlassen, qualifizierte Sachverständigengutachten zu erstellen, die auch gegen fachliche und sachverständig unterstütze Einwendungen der Beklagten verteidigt werden können. Das OLG Frankfurt am Main hat jedenfalls deutlich gemacht, dass die Vorgaben des BGH nach dem Urteil „Schienenkartell II“ kein Freibrief für Kläger sind, allein unter Berufung auf die jeweilige Bußgeldentscheidung Schadensersatzansprüche in erheblicher Höhe geltend zu machen, sondern dass die Anforderungen des BGH an die Art und den Umfang der Beweiswürdigung auch von den Parteien in ihrem Vortrag zu beachten sind.

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