Die virtuelle AG-Hauptversammlung ist verfassungsgemäß

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Als Reaktion auf die mit der Coronapandemie verbundenen Versammlungsbeschränkungen hat der Gesetzgeber mit der Einführung des „Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie“ (GesRuaCOVBekG) vom 27.03.2020 vorübergehende Ausnahmebestimmungen für die Erleichterung der Durchführung von AG-Hauptversammlungen ­geschaffen. So wird in § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG die virtuelle AG-Hauptversammlung ermöglicht.
Mit der Verfassungsmäßigkeit des § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG beschäftigte sich die 2. Kammer für Handelssachen des LG Köln in einem Hinweisbeschluss vom 26.02.2021 (Az. 82 O 53/20, in: ZIP 2021, 1219). Dem liegt eine Anfechtungsklage gegen Beschlüsse einer virtuellen Hauptversammlung aus dem Jahr 2020 zugrunde.

Tenor
Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass § 1 Abs. 2 ­GesRuaCOVBekG verfassungsrechtlich und europarechtlich unbedenklich sei.
Der Anfechtungskläger trug vor, dass der Gesetzgeber des GesRuaCOVBekG die virtuelle Hauptversammlung nicht hätte ermöglichen müssen, da bereits das Abhalten einer Onlinehauptversammlung im Sinne einer Zwei-Wege-Kommunikation technisch möglich sei. Das ­LG Köln stellte allerdings fest, dass es derzeit an standardisierten und rechtssicheren Plattformen für Onlinehauptversammlungen fehle, die als gleichwertiger Ersatz für Präsenzversammlungen gelten könnten. Zweck des GesRuaCOVBekG sei es, den Gesellschaften während der Coronapandemie die Beschlussfassung zu ermöglichen und mithin deren Handlungsfähigkeit zu bewahren. Dieser Zweck würde dann vereitelt, wenn ein nicht rechts­sicheres Verfahren zur Durchführung einer Onlinehauptversammlung vorgeschrieben wäre. Da die betroffenen Gesellschaften im Jahr 2020 keine Erfahrungen mit ausschließlich elektronischer Teilnahme von Aktionären an Hauptversammlungen gemacht hätten, sei es auch nicht unverhältnismäßig gewesen, dass der Gesetzgeber unter erheblicher Einschränkung der Teilnahmerechte eine virtuelle Hauptversammlung im Wege der Bild- und Ton­übertragung zur Verfügung gestellt hat.

Gesetzgeberischer Hintergrund
Um die Handlungsfähigkeit der Gesellschaften angesichts der andauernden Versammlungsbeschränkungen auch weiterhin zu gewährleisten, entschied sich der Gesetzgeber im Einklang mit den Ausführungen des LG Köln für die Ermöglichung rein virtueller Hauptversammlungen ohne physische Anwesenheit der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten durch den Vorstand (BT-Drs. 19/18110, S. 17).
Die Durchführung einer solchen Hauptversammlung setzt gemäß § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG voraus, dass (a) die Bild- und Tonübertragung der gesamten Versammlung erfolgt, (2) die Stimmrechtsausübung der Aktionäre über elektronische Kommunikation (Briefwahl oder elektronische Teilnahme) sowie Vollmachtserteilung möglich ist, (3) den Aktionären ein Fragerecht im Wege der elektronischen Kommunikation eingeräumt wird und (4) den Aktionären, die ihre Stimmrechte ausgeübt haben, eine Möglichkeit zum Widerspruch eingeräumt wird.

Für seine Entscheidung hierüber bedarf der Vorstand gemäß § 1 Abs. 6 GesRuaCOVBekG der Zustimmung des Aufsichtsrats.
Ein Recht auf Antwort soll den Aktionären ausweislich der Gesetzesbegründung und entgegen der Auffassung des LG Köln allerdings nicht gewährt werden (BT-Drs. 19/18110, S. 26). Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 ­GesRuaCOVBekG entscheidet der Vorstand nach pflichtgemäßem, freiem Ermessen darüber, wie er Fragen beantwortet. Zudem kann das Auskunftsrecht nach § 131 AktG eingeschränkt werden, indem Fragen nur in elektronischer Form und bis spätestens zwei Tage vor der Versammlung akzeptiert werden müssen (BT-Drs. 19/18110, S. 26). Die Ermöglichung von Gegenanträgen im Sinne der ­§§ 126 f. AktG in der Hauptversammlung ist von der Regelung indes nicht vorgesehen. Gemäß § 1 Abs. 7 GesRuaCOVBekG führt eine Verletzung von § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG, ­­§ 118 Abs. 1 Satz 3–5, Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 AktG und Formerfordernissen für Mitteilungen nach § 125 AktG nur bei Vorsatz zur Anfechtbarkeit.
Eine zur Anfechtbarkeit führende Verletzung des eingeschränkten Auskunftsrechts nach § 1 Abs. 2 Satz 2 ­GesRuaCOVBekG kann weiter nur dann in Frage kommen, wenn der Vorstand entweder Fragen unbeantwortet lässt, obwohl eine Antwort innerhalb einer angemessenen Gesamtdauer der Versammlung möglich gewesen wäre, oder wenn er eine willkürliche Auswahl der zu beantwortenden Fragen trifft. Zulässig sei allerdings eine Auswahl nach der Höhe des Aktienbesitzes (BT-Drs. 19/18110, ­S. 26; vgl. Schäfer, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem Corona-Gesetz, NZG 2020, 481).

Verfassungsmäßigkeit von § 1 GesRuaCOVBekG
Die formelle Verfassungsmäßigkeit des ­§ 1 GesRuaCOVBekG ist nicht zu beanstanden. Etwas anderes könnte allenfalls für die materielle Verfassungsmäßigkeit gelten. Dem Vorwurf des Anfechtungsklägers, das Abhalten einer Onlinehauptversammlung im Sinne einer Zwei-Wege-Kommunikation sei technisch möglich gewesen, so dass ­§ 1 GesRuaCOVBekG überflüssig sei, ist zu entgegnen, dass in dem Vorgehen des Gesetzgebers kein Verstoß jedenfalls gegen die hier einschlägige Aktionärsrechterichtlinie (ARRL) gesehen werden kann. Art. 8 I b ARRL führt die „Zweiweg-Direktverbindung“ nur als eine Alternative im Rahmen der Teilnahme an der Hauptversammlung auf elektronischem Wege auf.
Wie aus den obigen Ausführungen hervorgeht, werden die Teilnahmerechte im Rahmen der virtuellen Hauptversammlung jedoch deutlich eingeschränkt.
Dem LG Köln ist zuzustimmen, wenn es ausführt, dass die Einführung des GesRuaCOVBekG unter Zugrundelegung des Bedürfnisses zur Fassung von wichtigen Hauptversammlungsbeschlüssen selbst unter Einschränkung der Teilnahmerechte der Aktionäre nicht unverhältnismäßig sei und insofern eine notwendige Reaktion des Gesetzgebers auf die Notlage des „Lockdowns“ und der anhaltenden Versammlungsrestriktionen darstelle.
Hinzukommend muss auch hier auf die ARRL verwiesen werden. So sieht Art. 9 Abs. 1 ARRL sowohl ein Fragerecht der Aktionäre als auch eine Antwortpflicht der Gesellschaft vor. Dies gilt nach Art. 9 Abs. 2 ARRL aber vorbehaltlich etwaiger Maßnahmen, die die Mitgliedsstaaten ergreifen, um unter anderem den ordnungsgemäßen Ablauf von Hauptversammlungen und den Schutz der Geschäftsinteressen der Gesellschaften zu gewährleisten. § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG soll die Durchführung von Hauptversammlungen ohne physische Anwesenheit unter Wahrung der Versammlungsverbote ermöglichen, um den Gesellschaften ihre Handlungsfähigkeit nicht zu versagen. Die zwingende jährliche Hauptversammlung muss gemäß § 175 Abs. 1 Satz 2 AktG in den ersten acht Monaten des Geschäftsjahrs stattfinden. Auch außerordentliche Hauptversammlungen könnten ohne entsprechende Maßnahmen nicht mehr stattfinden, so dass es unmöglich wäre, Hauptversammlungsbeschlüsse auf herkömmlichem Weg herbeizuführen (vgl. Schäfer, Die virtuelle Hauptversammlung nach dem Corona-Gesetz, NZG 2020, 481). Zu nennen sind unter anderem die für die Gesellschaft unabdingbare Feststellung des Jahresabschlusses gemäß § 173 AktG und die Beschlussfassung über die Gewinnverwendung nach § 174 AktG.
Zur Vermeidung einer Überflutung des Vorstands mit elektronischen Fragen erscheint die vom Gesetzgeber erläuterte Fragenauswahl nach Maßgabe der Höhe des jeweiligen Aktienbesitzes nachvollziehbar. Im Schrifttum wird die Differenzierung allerdings kritisiert (so etwa: Kubis, in: Münchener Kommentar zum AktG, 4. Auflage 2018, § 119 Rn. 163). Ein Problem könnte sich etwa wegen Art. 4 ARRL ergeben, wonach alle Aktionäre, die sich bei der Teilnahme an der Hauptversammlung und der Ausübung der Stimmrechte in der gleichen Lage befinden, gleich behandelt werden müssen.
Das LG Köln lehnt die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung zwar ab, bietet hierfür aber keine Begründung.
Die Kammer ist zwar zur eigenen Bildung einer Überzeugung der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der Vorschrift verpflichtet, hätte im letzteren Fall allerdings keine Verwerfungskompetenz (vgl. etwa Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 11. Auflage 2018, 4. Teil Rn. 135.). Das Verfahren hätte dann ausgesetzt und die Vorlagefrage nach der Gültigkeit der Norm dem BVerfG zur Entscheidung gemäß Artikel 100 GG in Verbindung mit den §§ 80 ff. BVerfGG vorgelegt werden müssen. Eine abschließende Entscheidung könnte letztlich also nur durch das BVerfG vorgenommen werden. Dass sich das LG Köln von der Verfassungsmäßigkeit des § 1 GesRuaCOVBekG überzeugt hat, erscheint, ausgehend davon, dass dem Gesetzgeber wohl kein milderes und gleich effektives Mittel zur Verfügung stand, um Hauptversammlungen ohne Rechtseinbußen während der Coronapandemie kontaktlos zu ermöglichen, nachvollziehbar. Insbesondere eine Onlinehauptversammlung im Sinne einer Zwei-Wege-Kommunikation kann derzeit nicht rechtssicher durchgeführt werden, so dass die mit einer virtuellen Hauptversammlung verbundenen Einschränkungen der Teilnahmerechte hinzunehmen sind. Hinsichtlich der technischen Unsicherheit der Zwei-Wege-Kommunikation wäre eine substantiierte Begründung des LG Köln wünschenswert gewesen.

Ausblick
Die virtuelle AG-Hauptversammlung war zunächst nur für Gesellschafterbeschlüsse im Jahr 2020 vorgesehen. Der Anwendungszeitraum wurde nach Maßgabe des ­§ 8 GesRuaCOVBekG durch Verabschiedung der „Verordnung zur Verlängerung von Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie“ mit Wirkung zum 29.10.2020 jedoch bis zum 31.12.2021 verlängert.
Ob sich der Gesetzgeber unabhängig hiervon auch nach Ablauf des 31.12.2021 für die Möglichkeit der Einberufung einer rein virtuellen Hauptversammlung durch den Vorstand unter den obig ausgeführten Voraussetzungen, entweder in Form einer erneuten Corona-bedingten Verlängerung des GesRuaCOVBekG oder etwa in Form einer Änderung des § 118 AktG, entscheidet, bleibt abzuwarten, ist jedoch aus Praktikabilitätserwägungen anzudenken.

kraemer@tiefenbacher.de

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