Begrüßenswerter Referentenentwurf des BMJ mit Raum für Nachschärfungen

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Die mit Beginn der Covid-19-Pandemie eingeführte Regelung des § 1 Abs. 2 Covid-19-Gesetz, wonach Hauptversammlungen erstmals rein virtuell ohne physische Präsenz der Aktionäre am Versammlungsort abgehalten werden konnten, wird mit Ablauf des 31.08.2022 außer Kraft treten. Aufgrund der überwiegend positiven Praxiserfahrungen während der Coronapandemie hat das Bundesministerium der Justiz (BMJ) am 09.02.2022 einen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften veröffentlicht. Die virtuelle Hauptversammlung soll als gleichwertige Alternative zur Präsenz- und Hybridhauptversammlung dauerhaft gesetzlich normiert werden. Der folgende Beitrag gibt einen Kurzüberblick über die geplanten Neuregelungen sowohl für börsennotierte als auch für nicht börsennotierte Aktiengesellschaften.

Satzungsregelung erforderlich (Opt-in)

Die Präsenzversammlung bleibt weiterhin die gesetzliche Grundform der Hauptversammlung, so dass ohne ausdrückliche Regelung in der Satzung das rein virtuelle Format künftig verschlossen bleibt. Eine Ausnahme besteht nur für Hauptversammlungen, die bis einschließlich 31.08.2023 einberufen werden. In diesem Übergangszeitraum kann der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats nochmals ohne Satzungsgrundlage entscheiden, die Hauptversammlung als virtuelle Versammlung nach Maßgabe der neuen gesetzlichen Vorgaben durchzuführen. Damit besteht die Möglichkeit, in der ordentlichen Hauptversammlung 2023 die notwendige Satzungsänderung zu beschließen, ohne nach dem Wegfall der pandemiebedingten Sonderregelung zwischenzeitlich zu einer Präsenzversammlung zurückkehren zu müssen.

Für die Gestaltung der Satzungsgrundlage bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder bestimmt die Satzung unmittelbar, dass die Versammlung in jedem Fall als virtuelle Hauptversammlung abgehalten wird, oder sie ermächtigt den Vorstand dazu, diese Entscheidung im Einzelfall zu treffen (§ 118 Abs. 1 Satz 1 AktG-E). In beiden Fällen ist die Satzungsbestimmung beziehungsweise -ermächtigung auf maximal fünf Jahre zu befristen und spätestens dann wieder zu erneuern (§ 118a Abs. 3 bis 5 AktG-E).

Wesentliche Voraussetzungen der virtuellen Hauptversammlung

Die Aktionärsrechte sind bei einer virtuellen Hauptversammlung wie folgt zu gewährleisten (§ 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis Nr. 8 AktG-E):

• Aktionäre müssen die Versammlung vollständig in Bild und Ton verfolgen können, etwa durch Verwendung von Livestreams über die Internetseite, ein Aktionärsportal oder Videokonferenzdienste (Nr. 1).

• Die Stimmrechtsausübung sowie die Vollmachtserteilung erfolgen im Wege elektronischer Kommunikation (elektronische Teilnahme oder elektronische Briefwahl) (Nr. 2).

• Aktionäre müssen in der virtuellen Hauptversammlung (nur) „Anträge, die keine Gegenanträge nach § 126 AktG sind“ im Wege elektronischer Kommunikation stellen können (Nr. 3).

• Das Auskunftsrecht nach § 131 AktG im Wege elektronischer Kommunikation wird eingeräumt (Nr. 4).

• Die Vorabveröffentlichung des Vorstandsberichts oder seines wesentlichen Inhalts erfolgt bis spätestens am siebten Tag vor der Versammlung (Nr. 5).

• Aktionäre erhalten das Recht, vor der Hauptversammlung Stellungnahmen, die allen anderen Aktionären zugänglich zu machen sind, im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen (Nr. 6).

• Aktionären muss eine Redemöglichkeit in der Versammlung im Wege der Videokommunikation eingeräumt werden (Nr. 7).

• Es besteht die Möglichkeit zum Widerspruch gegen einen Beschluss der Hauptversammlung im Wege elektronischer Kommunikation (Nr. 8).

Anwesenheit vor Ort und elektronische Teilnahme

Sowohl die Mitglieder des Vorstands als auch die Mitglieder des Aufsichtsrats sind zur physischen Teilnahme am Ort der Versammlung verpflichtet (§ 118 Abs. 2 AktG-E). Gleiches gilt für den Versammlungsleiter und den Notar (§ 130 Abs. 1a AktG-E). Für den Abschlussprüfer gilt dies nur, wenn die Hauptversammlung über die Feststellung des Jahresabschlusses oder die Billigung des Konzernabschlusses zu beschließen hat, mithin im Regelfall nur bei der KGaA (§ 286 Abs. 1 Satz 1 AktG). Für die Mitglieder des Aufsichtsrats kann die Satzung bei der virtuellen Hauptversammlung bestimmte Fälle vorsehen, in denen diese im Wege der Bild- und Tonübertragung teilnehmen dürfen, § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG (mittels Zwei-Wege-Direktverbindung). Für Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft soll die Anwesenheit am Versammlungsort möglich sein (§ 118a Abs. 2 Satz 2 AktG-E). Eine elektronische Teilnahme der Aktionäre (§ 118 Abs. 1 Satz 2 AktG) in Form einer Zwei-Wege-Direktverbindung ist jedoch weiterhin keine zwingende Voraussetzung der virtuellen Hauptversammlung.

Vorverlagerung von Gegenanträgen und Wahlvorschlägen

Im Vorfeld der Hauptversammlung eingereichte und von der Gesellschaft gemäß § 126 AktG zugänglich zu machende Gegenanträge und Wahlvorschläge gelten nun als im Zeitpunkt der Zugänglichmachung gestellt (§ 126 Abs. 4 AktG-E). Die Gesellschaft muss deshalb zwingend bereits ab dem Zeitpunkt des Zugänglichmachens zugleich auch eine Stimmabgabe zu dem betreffenden Gegenantrag oder Wahlvorschlag ermöglichen. Die Gegenanträge müssen dann in das elektronische Abstimmungssystem im Aktionärsportal eingebunden werden. Dabei soll eine Abstimmung wohl selbst dann erfolgen, wenn sich der Antragsteller zur Hauptversammlung nicht angemeldet hat oder sich nicht mehr legitimieren konnte.

In der virtuellen Hauptversammlung selbst sind spontane Gegenanträge grundsätzlich nicht mehr möglich, es sei denn die Gesellschaft gestattet dies in der Einberufung. Die Gesellschaften werden künftig sorgfältig abwägen müssen, wie sie mit dieser Option im Einzelfall umgehen. Die Zulassung spontaner Gegenanträge birgt einerseits das Risiko unvorhersehbarer Unwägbarkeiten für den Verlauf der Hauptversammlung. Andererseits erhält sie die Flexibilität, um auf Sachverhaltsentwicklungen in den 14 Tagen vor der Hauptversammlung reagieren zu können. Die Praxis behilft sich häufig damit, dass inhaltlich angepasste Beschlussvorschläge durch einen Aktionär über einen Gegenantrag in die Versammlung eingebracht werden. Bei Aufsichtsratswahlen ist es etwa denkbar, dass sich erst kurz vor oder in der Hauptversammlung abzeichnet, dass ein vorgeschlagenes Aufsichtsratsmitglied nicht die notwendige Mehrheit erhält. Auch in diesem Fall kann in der Hauptversammlung nur dann kurzfristig eine neue Person zur Wahl vorgeschlagen werden, wenn die Gesellschaft dies in der Einberufung zuvor gestattet hat.

Auskunfts- und Nachfragerecht der Aktionäre

Die Änderung des Auskunftsrechts der Aktionäre beabsichtigt die Entzerrung der Hauptversammlung und die Erhöhung der Qualität der Fragenbeantwortung. Der Vorstand kann vorgeben, dass die Aktionäre ihre Fragen bis spätestens vier Tage vor der Hauptversammlung im Wege der elektronischen Kommunikation einzureichen haben (§ 131 Abs. 1a AktG-E). Zudem kann er den Umfang der Einreichung von Fragen beschränken und die Berechtigung zur Frageneinreichung davon abhängig machen, dass sich die Aktionäre ordnungsgemäß zur Hauptversammlung angemeldet haben (§ 131 Abs. 1b AktG-E). Fristgerecht eingereichte Fragen müssen vor der Versammlung allen Aktionären zugänglich gemacht werden, bei börsennotierten Gesellschaften erfolgt dies über die Internetseite der Gesellschaft (§ 131 Abs. 1c AktG-E).

Ein Auskunftsrecht „in“ der Hauptversammlung steht Aktionären künftig nicht mehr zu. Allerdings ist im Anschluss an die Beantwortung der vorab eingereichten Aktionärsfragen den Aktionären ein Nachfragerecht zu den in der Versammlung gegebenen Antworten des Vorstands (wohl auch des Aufsichtsrats) einzuräumen (§ 131 Abs. 1d AktG-E). Diese Nachfragen sollen im Wege der elektronischen Kommunikation erfolgen. Das Nachfragerecht wird jedoch dadurch eingeschränkt, dass ein sachlicher Zusammenhang zu der Vorfrage und ihrer Beantwortung durch den Vorstand bestehen muss. Unklar ist noch, ob die Nachfrage allen Aktionären, allen Aktionären, die eine Frage eingereicht hatten oder nur demjenigen Aktionär zusteht, der die eigentliche Vorfrage dazu gestellt hatte. Der Versammlungsleiter kann auf der Grundlage einer Satzungsermächtigung das Nachfragerecht des Aktionärs zeitlich angemessen beschränken und Näheres dazu bestimmen (§ 131 Abs. 2 Satz 2 AktG).

Einreichung von Stellungnahmen und Redemöglichkeit

Um die Interaktion zwischen Aktionären und der Verwaltung anzunähern und den Informationsprozess auf das Vorfeld der Hauptversammlung zu verlagern, sollen Aktionäre die Möglichkeit erhalten, vor der Hauptversammlung Stellungnahmen zu den Gegenständen der Tagesordnung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen und in der Hauptversammlung zu reden (§ 130a AktG-E). In der bisherigen Praxis der virtuellen Hauptversammlungen wurden diese Möglichkeiten nur vereinzelt freiwillig erprobt.

Die Wahl des elektronischen Kommunikationsmittels liegt ebenso wie der Umfang der Stellungnahme im Ermessen des Vorstands. Die Stellungnahmen sind bis spätestens vier Tage vor der Hauptversammlung einzureichen. Eingereichte Stellungnahmen sind allen Aktionären zugänglich zu machen, bei börsennotierten Gesellschaften erfolgt dies über die Internetseite der Gesellschaft. § 126 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, 3 und 6 AktG gilt entsprechend. Stellungnahmen müssen nur in der Sprache und Form zugänglich gemacht werden, in der sie eingereicht wurden, das heißt, nicht in deutscher Sprache verfasste Redebeiträge müssen von der Gesellschaft für die Veröffentlichung nicht übersetzt werden.

In der Hauptversammlung müssen Aktionäre zudem die Möglichkeit erhalten, per Video im Wege einer Zwei-Wege-Direktverbindung live zu der Verwaltung und den zugeschalteten Aktionären zu sprechen. Eine Chatfunktion im Aktionärsportal ist dafür nicht ausreichend. Die Gesellschaft kann in der Einberufung einen angemessenen Gesamtzeitraum für die Redebeiträge aller Aktionäre und eine angemessene Gesamtzahl möglicher Redebeiträge festlegen. Über die Reihenfolge der Redebeiträge entscheidet der Versammlungsleiter. Die Redemöglichkeit besteht nur, wenn die Aktionäre spätestens vier Tage vor der Hauptversammlung ihren Redebeitrag angemeldet haben. Diese Anmeldung erfolgt separat von der Anmeldung zur Hauptversammlung und kann auf ordnungsgemäß angemeldete Aktionäre beschränkt werden. Wenn die Anzahl der angemeldeten Redebeiträge die Anzahl der von der Gesellschaft zugelassenen Redebeiträge überschreitet, entscheidet die zeitliche Reihenfolge des Eingangs der Anmeldung über die Zulassung des Redebeitrags. Die übrigen angemeldeten Redebeiträge müssen nicht zugelassen werden. Die eröffnete Videokommunikation bleibt auf den Redebeitrag beschränkt, so dass keine Fragen und Nachfragen, keine Verfahrensanträge und keine Gegenanträge und Wahlvorschläge gestellt bzw. unterbreitet werden dürfen.

Fazit

Der Referentenentwurf ist aus Sicht der Praxis zu begrüßen. Er setzt für das virtuelle Format im Wesentlichen den weiterentwickelten Rechtsrahmen, der nach den Diskussionen in Wissenschaft und Praxis zuletzt zu erwarten war. An einzelnen Stellen besteht im weiteren Gesetzgebungsverfahren gleichwohl noch Raum für Klarstellung. Konzeptionell wäre es zudem zu begrüßen, wenn der Gesetzgeber die vorgesehene Verlagerung wesentlicher Informations- und Entscheidungsprozesse einschließlich der damit verbundenen Aktionärsrechte in das Vorfeld der Hauptversammlung in gleicher Weise auch für die Präsenz- und Hybridversammlung normierte. Anderenfalls steht zu erwarten, dass das virtuelle Format die Präsenzversammlung als neue Grundform der Hauptversammlung ablösen und Letztere allein aus diesem Grund ins Hintertreffen geraten wird.

ralph.schilha@noerr.com

timm.gassner@noerr.com

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