Die EU-Frauenquote kommt – aber auch für Deutschland?

Artikel als PDF (Download)

Nach mehr als zehn Jahren war es am 07.06.2022 so weit: Der europäische Gesetzgeber konnte eine politische Einigung über einen Kommissionsvorschlag aus dem Jahr 2012 erzielen. Gemeint ist die „Richtlinie zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht geschäftsführenden Direktoren oder Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften“ in der Europäischen Union oder kurz: die „EU Women on Boards“-Richtlinie. Die Zielrichtung der Richtlinie ist grundsätzlich geschlechterneutral: Sofern in einem betroffenen Gremium mehr Frauen als Männer säßen, würden auch Männer von der Regelung profitieren. Ob in Deutschland Umsetzungsbedarf besteht, ist noch nicht ganz klar – Grund genug, sich die Neuerungen aus Brüssel und mögliche Implikationen für deutsche Unternehmen im Detail anzuschauen.

Nachdem der ursprüngliche Richtlinienvorschlag aus dem Jahr 2012 [COM/2012/0614 final – 2012/299 (COD)] durch mehrere Mitgliedstaaten, auch Deutschland, ein Jahrzehnt lang blockiert worden war, setzte die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen die Umsetzung Anfang 2022 erneut auf die Agenda. Politisches Ziel war zunächst, den bereits 2012 in dem Richtlinienvorschlag vorgesehenen Anteil von mindestens 40% des unterrepräsentierten Geschlechts unter den nicht geschäftsführenden Direktoren (oder Aufsichtsratsmitgliedern) börsennotierter Gesellschaften als Mindestziel festzulegen. Nach etlichen Diskussionsrunden im Rahmen des Trilogs zwischen der Kommission, dem Parlament und dem Ministerrat zeichnete sich ab, dass sich keine breite Mehrheit für die Zielvorgabe von 40% bilden würde. Der Kompromisstext, der als vorläufige Vereinbarung (Provisional Agreement; siehe hier, zuletzt abgerufen am 27.07.2022) am 16.06.2022 vom Europäischen Parlament veröffentlicht worden ist. sieht daher einen Kompromiss vor. Der finale Richtlinientext wird voraussichtlich im Oktober bzw. November dieses Jahres vorliegen.

Die vorläufige Vereinbarung bestimmt, dass in börsennotierten Unternehmen mit Sitz in der Europäischen Union entweder künftig 40% der Aufsichtsratsmitglieder oder 33% aller Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder dem unterrepräsentierten Geschlecht angehören. Das zweite Kriterium kam auf Drängen einzelner Mitgliedstaaten zustande, die gegenwärtig noch gar keine gesetzlichen Regelungen mit Blick auf die Zusammensetzung der Führungsgremien erlassen haben und den Widerstand heimischer Unternehmen fürchteten. Wie der Anteil der Organmitglieder von 33% konkret berechnet werden soll, ist noch unklar: Man könnte Vorstand und Aufsichtsrat zusammen betrachten und die Zahl der Mitglieder des unterrepräsentierten Geschlechts durch die Zahl aller Mitglieder teilen. Alternativ könnte man die Quoten für die beiden Gremien getrennt ermitteln und dann den Durchschnitt bilden. Es bleibt abzuwarten, ob die politische Absichtserklärung Handreichungen für die Anwender bereithält.

Trotz hart geführter Verhandlungen gibt es eine Reihe von Schlupflöchern in der vorläufigen Vereinbarung. Im Fokus steht hier insbesondere der vorläufige Artikel 8a, der eine Ausnahme von der Umsetzungspflicht normiert. So soll es den Mitgliedstaaten ermöglicht werden, von den Zielvorgaben der Richtlinie abzuweichen, sofern in dem jeweiligen Mitgliedstaat 20 Tage nach Veröffentlichung der Richtlinie im Amtsblatt vergleichbare nationale Regelungen gelten. Hierzu müssten zum einen Mindestzielvorgaben erfüllt werden und im Fall ihrer Nichteinhaltung wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Rechtsfolgen eintreten. Zu den Mindestzielvorgaben gehört die Anforderung, dass all jene börsennotierten Unternehmen, die unter den nationalen Rechtsvorschriften keiner Geschlechterquote unterworfen sind, jedenfalls eine individuelle quantitative Zielvorgabe für alle Vorstands- und Aufsichtsratsposten festgelegt haben. Ob die einschlägigen deutschen Vorschriften diese Anforderungen erfüllen, lässt sich aufgrund der Formulierung der vorläufigen Vereinbarung nicht eindeutig beantworten; hier könnten der finale Richtlinientext beziehungsweise die im Zusammenhang mit seiner Verabschiedung gegebenenfalls veröffentlichten Auslegungshilfen Klarheit bringen.

Das Bundesfamilienministerium geht davon aus, dass in Deutschland aufgrund der bereits bestehenden Maßnahmen – zuletzt durch das Zweite Führungspositionen-Gesetz (FüPoG II; siehe hier, zuletzt abgerufen am 27.07.2022) – kein weiterer Umsetzungsbedarf entsteht. Ob diese Annahme zutrifft, wird sich zeigen, wenn die politischen Absichtserklärungen und gegebenenfalls veröffentlichten Auslegungshilfen des europäischen Gesetzgebers vorliegen. Wenn die „EU Women on Boards“-Richtlinie auch in Deutschland umgesetzt werden müsste, könnten die neuen Zielvorgaben die deutsche Wirtschaft empfindlich treffen. Laut dem aktuellen Women-on-Board-Index, der die 160 im DAX, MDAX und SDAX sowie die außerhalb dieser Indizes im Regulierten Markt notierten, paritätisch mitbestimmten Unternehmen umfasst, lag der Anteil von Frauen in den Aufsichtsräten aller der 183 untersuchten Unternehmen im Durchschnitt bei 33,48% und der Anteil von Frauen im Aufsichtsrat und Vorstand (wobei der prozentuale Anteil der Frauen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder gebildet wird) bei 14,72% (FidAR, „Women-on-Board-Index“; siehe hier, zuletzt abgerufen am 27.07.2022). Die Mehrheit dieser Unternehmen würde daher gegenwärtig die Vorgaben der „EU Women on Boards“-Richtlinie nicht erfüllen.

Auch die Tatsache, dass die „EU Women on Boards“-Richtlinie aufgrund des zweiten Modells der 33%-Quote für beide Gremien eine Möglichkeit bietet, von der ursprünglich avisierten Quote von 40% für Aufsichtsratsmitglieder abzuweichen, stieß auf Kritik. Tatsächlich sah der ursprüngliche Richtlinienentwurf von 2012 keine Abweichungsoption vor. Insofern bleibt die „EU Women on Boards“-Richtlinie sogar hinter den interinstitutionell verhandelten Zielvorgaben zurück, die bereits vor zehn Jahren vorgeschlagen wurden. Hier bestand die Hoffnung auf eine progressivere Zielsetzung. Diese kritischen Stimmen finden Unterstützung in aktuellen Studien, die die Entwicklung und Anteile der Geschlechter bei der Besetzung von Aufsichtsrats- und Vorstandsposten untersuchen. Der Fortschritt ist, gerade in Deutschland, sehr langsam. So würde es bei der aktuellen Zuwachsrate des Frauenanteils bis 2041 dauern, in Aufsichtsräten und Vorständen Parität zwischen Frauen und Männern zu erreichen (Deloitte, „Jenseits der gläsernen Decke: Frauen in Führungsgremien“, 01.02.2022; siehe hier, zuletzt abgerufen am 27.07.2022).

Die Mehrzahl der europäischen Regierungen sowie europäischen Interessenverbände begrüßen daher den Schritt hin zu mehr Diversität in der europäischen Wirtschaft und erhoffen sich von der künftigen Besetzung von Führungspositionen neue Impulse.

Inwiefern deutsche Unternehmen von den neuen europäischen Vorgaben betroffen sein werden, bleibt genau zu beobachten. Hier könnte die finale politische Absichtserklärung Klarheit bringen. In jedem Fall dürfen die neuen Zielvorgaben nicht als Höchstgrenze missverstanden werden.

 

maria.boerner@allenovery.com

Aktuelle Beiträge