Seit dem Geschäftsjahr 2002 richtet sich der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) als Ausdruck einer Selbstverpflichtung der Wirtschaft an börsennotierte Gesellschaften und Gesellschaften mit Kapitalmarktzugang. Sie haben gemäß § 161 Abs. 1 Satz 2 AktG die Pflicht zur Abgabe einer Entsprechungserklärung („comply or explain“); fehlende oder fehlerhafte Erklärungen haben rechtliche Auswirkungen im Hinblick auf Haftung und Wirksamkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen. Allen übrigen Gesellschaften sollen die Empfehlungen und Anregungen des Kodexes zur Orientierung dienen. Der Kodex wird jährlich von der Regierungskommission im Dialog mit Politik, Unternehmen und weiteren Stakeholdern überprüft und modifiziert, um die Best Practice der Leitung und Überwachung von Gesellschaften anhand nationaler und internationaler Standards angemessen abzubilden.
DCGK bemüht sich zunehmend um Konzentration
Seit 20.03.2020 gilt ein vollständig neugefasstes Kodexwerk. Die Änderungen betreffen unter anderem die Einführung von Grundsätzen, die Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder, das Vergütungsmodell für Vorstände mit weitgehenden Vorgaben zu Inhalt, Ablauf und Überprüfung, den Wegfall des eigenständigen Corporate-Governance-Berichts und die Aufwertung der Erklärung zur Unternehmensführung zum zentralen Berichtsinstrument. Nach weitgehendem Konsens bleibt der DCGK trotz jüngst verstärkter Aktivitäten des Gesetzgebers [etwa Gesetz zur Umsetzung der zweiten Aktionärsrechterichtlinie (ARUG II) zum 01.01.2020] und mehrfach ausgedehnter Verpflichtung zur Berichterstattung zu sogenannten nichtfinanziellen Informationen, die die finanzielle Wertschöpfung durch diversifizierte Indikatoren zur Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Verantwortung (erneute Konsultation der EU zur 2017 in Deutschland umgesetzten Richtlinie 2014/95/EU) ergänzen sollen (Impact-Valuation), die akzeptierte Richtschnur für Transparenz und gute Unternehmensführung in gemeinsamer Verantwortung der Gesellschaftsorgane.
Public Corporate Governance entwickelt sich eher zäh
Nachdem einige Bundesländer und kommunale Gebietskörperschaften vorgeprescht waren, hat die Bundesregierung nach langjährigen Beratungen am 01.07.2009 „Grundsätze guter Unternehmens- und Beteiligungsführung im Bereich des Bundes” verabschiedet, die neben einem umfangreichen und teils schwer lesbaren Public Corporate Governance Kodex des Bundes (PCGK) Grundsätze zur Beteiligungsverwaltung und zur Auswahl von Aufsichtsratsmitgliedern enthielten (Deutscher AnwaltSpiegel 09/2009, S. 11/12). Obwohl im Bund etwa die Deutsche Bahn und Bundesländer wie Berlin eine über die jeweilige Homepage zugängliche Berichterstattung der Gesellschaften unterschiedlicher Rechtsformen zur Corporate Governance vorschreiben, ist die öffentliche Rezeption der Besonderheiten öffentlicher Unternehmensführung blass geblieben. Das liegt nicht nur daran, dass viele öffentliche Körperschaften es über mehr als ein Jahrzehnt unterlassen haben, ihre Kodizes fortzuschreiben, sie haben auch kein besonderes Interesse an einer Wissenschaft und Praxis einbeziehenden Debatte über die Besonderheiten der Zielsetzung, Steuerung und Kontrolle öffentlicher Unternehmen gezeigt.
Klimawandel, Demographie, Einwanderung und soziale Ungleichgewichte, Abkehr vom Freihandel und jüngst die Coronapandemie sind nicht nur mit dem Ruf nach staatlichem Interventionismus, sondern zunehmend auch mit dem verstärkten (Re-)Investment der Körperschaften in öffentliche und ehemals privatisierte Unternehmen verknüpft. Gleichzeitig sind neue Fragen nach demokratischer Legitimation, ethischer und internationaler Verantwortung, leichterem Informationszugang der Medien und Öffentlichkeit oder steigender Verantwortung für Integration, Ausbildung und Beschäftigungsfähigkeit aufgeworfen.
Musterentwurf bringt Bewegung in die Diskussion
In diese Lücke stößt die Initiative einer Expertengruppe, die am 07.01.2020 den Deutschen Public Corporate Governance-Musterkodex (D-PCGM) vorgestellt hat (abrufbar unter www.pcg-musterkodex). Die Expertenkommission umfasst namhafte Wissenschaftler, Praktiker und Sachverständige, die sich mit den Besonderheiten der Steuerung und Überwachung öffentlicher Unternehmen auseinandersetzen. Die verfolgten Ziele und aufgezeigten Potentiale des in zehn Kapitel gegliederten D-PCGK gehen über den Kernbereich operativ verantwortungsvoller Unternehmensführung weit hinaus. Es ist das besondere Anliegen des Kodexes, den an globale Herausforderungen angepassten Ordnungsrahmen für öffentliches Wirtschaften zu berücksichtigen sowie die nachhaltige Sicherung des öffentlichen Interesses und der Ausrichtung der öffentlichen Unternehmen am öffentlichen Auftrag, deren Effektivität und Effizienz bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben und damit letztlich das Vertrauen in Politik, Verwaltung und öffentliche Unternehmen zu fördern.
Insofern ist der D-PCGM bewusst keine kompakte Leitlinie für die Unternehmensorgane, auf die sich der DCGK nach Kritik aus den Unternehmen zu beschränken bemüht, sondern ein ausführlicher Instrumentenkasten zur systematischen Unterstützung für die Erarbeitung oder Überarbeitung eines für die jeweilige Gebietskörperschaft als situationsgerecht empfundenen und von deren Gremien politisch zu beschließenden PCGK. Der mögliche Nachteil eines zu umfangreichen und Details ausführenden Kodexes wird in Kauf genommen, um das öffentliche „Biotop“ des Wirtschaftens angemessen erfassen zu können, denn die öffentlichen Stakeholder sind eben mannigfaltiger, und die Wege möglicher Einflussnahmen auf die Organentscheidungen sind vor dem Hintergrund politischer Erwartungen subtiler als in der Privatwirtschaft.
In den Empfehlungen, die sich mit der besonderen Rolle der Gebietskörperschaft als Gesellschafter befassen, wird neben manchen Selbstverständlichkeiten auch auf spezifische Zielkonflikte eingegangen. In den Gesellschafterzielen soll das gesetzlich vorgeschriebene wichtige öffentliche Interesse mit Leistungs-/Wirkungszielen und Finanzzielen unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeitszielen veranschaulicht und aussagekräftig dargestellt werden, welche Unternehmen wie viele Finanzmittel der Gebietskörperschaft erhalten und welche Ziele dabei verfolgt werden. Dass allerdings Potentiale eines integrierten Personalmanagements mit den Gesellschaftern wie gemeinsame Maßnahmen von Verwaltung und Unternehmen im Bereich der Personalgewinnung (etwa gemeinsames Jobportal, gemeinsame Marketingmöglichkeiten) und Personalentwicklung (etwa gemeinsame Coaching- und Mentoringprogramme, Jobrotation) sowie einer integrierten Gleichstellungsarbeit in einen Public Kodex gehören, erscheint zweifelhaft.
Hinweise auf die Notwendigkeit eines professionellen Beteiligungsmanagements sind zweifellos unabdingbar. In den Detailausführungen, wonach etwa das Geschäftsführungsorgan im Wirtschaftsplan in allgemeinverständlicher Form darstellen soll, welche Sponsoringleistungen an welche Organisationen geplant sind, schlagen sich offenbar negative Einzelerfahrungen nieder. Uneingeschränkte Zustimmung verdienen die Ausführungen zur Zusammensetzung und dem Agieren des Aufsichtsorgans und der Transparenz der Interessenkonflikte. Hier sind Parallelen zum DCGK unübersehbar.
Die Ausführungen zum Integritäts- und Compliancemanagement sind im Kontext der ansonsten ausführlichen Empfehlungen auf das Notwendigste beschränkt. Hinweise zur Notwendigkeit einer Risikoanalyse der oft in gefahrgeneigten Geschäftsfeldern tätigen öffentlichen Gesellschaften (etwa Ver- und Entsorgung) und vor dem Hintergrund der Sorgfaltspflichten beim vielfach subventionierten Umgang mit Steuergeldern, die nur in Ausnahmefällen den Verzicht auf die Einführung eines Compliancemanagementsystems nahelegen, fehlen weitgehend. Dabei liegen aus zahlreichen öffentlichen Sektoren inzwischen nützliche Erfahrungen zu Complianceanforderungen vor.
Das Beteiligungsmanagement der Gebietskörperschaft soll über deren Bevollmächtigte in den Unternehmensorganen auf die Verankerung des PCGK in der Satzung der Unternehmen in öffentlicher oder privater Rechtsform hinwirken oder dies bei entsprechenden Gesellschaftsanteilen durch Beschluss in der Gesellschafterversammlung sicherstellen. Die Transparenz soll wie beim DCGK erfolgen, indem Geschäftsführungs- und Aufsichtsorgan den Bericht jährlich als Teil der Erklärung zur Unternehmensführung analog zu § 289f HGB nach dem Grundsatz „comply or explain“ darzustellen haben. Der Bericht soll Gegenstand der Beratung im zuständigen politischen Gremium der Gebietskörperschaft sein. Im Hinblick auf die gewünschte Transparenz gegenüber den Bürgern wären auch Grundsätze im Umgang mit den Medien hilfreich, zumal das Spannungsfeld zwischen Datenschutz und Informationsfreiheit ziemlich virulent ist.
Werden die Signale aufgenommen?
Der D-PCGM soll regelmäßig vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Entwicklungen von der Expertenkommission überprüft und bei Bedarf angepasst werden. Hierzu führt die Kommission ein kontinuierliches Konsultationsverfahren durch. Fachkreise und Öffentlichkeit sind eingeladen, schriftliche Stellungnahmen zu verfassen, die von der Kommission in die weiteren Erörterungen aufgenommen und – sofern keine Einwendungen bestehen – auf deren Internetseite veröffentlicht werden. Angesichts der unter dem Deckmantel der Daseinsvorsorge und Konjunkturförderung durchaus mit Sorge zu betrachtenden Ausweitung des öffentlichen Sektors ist eine lebhafte Diskussion von Public Corporate Governance zweifellos wünschenswert.