Anfang 2020 sah alles danach aus, dass das neue Jahrzehnt im Scheinwerferlicht der Nachhaltigkeit stehen werde. Das Thema Klimawandel und Klimaschutz bewegte die Gemüter. Mit dem im Januar 2020 veröffentlichten Merkblatt der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken wurde klar: Schon nach geltendem Recht sollten sich Finanzunternehmen – ebenso wie Unternehmen der Realwirtschaft – (auch) mit denjenigen Chancen und Risiken beschäftigen, die für sie aus Nachhaltigkeitsaspekten resultieren. Weitere enorme Herausforderungen ergaben sich für die Unternehmen aus der Digitalisierung und aus geopolitischen Entwicklungen.
Heute hat sich die Welt schlagartig verändert. Das Coronavirus ist omnipräsent, und die erforderlichen Maßnahmen zu seiner Eindämmung haben gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft im Allgemeinen und auf die Wirtschaft im Besonderen. Aktuell stehen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie, die daraus resultierenden Folgen für die Wirtschaft und die Suche nach Wegen aus diesem Dilemma im Mittelpunkt der Diskussion. Doch die Trias aus Klimawandel/Klimaschutz, Digitalisierung und Geopolitik ist damit nicht vom Tisch. Vielmehr kommt die Coronakrise als neue Herausforderung noch mit hinzu. Aus der Trias ist also quasi ein Quadrupel geworden. Ein sorgfältiger und vorausschauender Geschäftsleiter sollte sich (auch) aus rechtlicher Sicht mit allen Themenstellungen aus diesem Quadrupel angemessen auseinandersetzen und das Thema Nachhaltigkeit nicht aus den Augen verlieren.
Einleitende Überlegungen
Die Coronakrise und das Bemühen um mehr Nachhaltigkeit in der Wirtschaft stehen sich nicht unversöhnlich gegenüber. Vielmehr wird klar, wie wichtig es ist, künftige Krisen, die durch ein nicht hinreichend nachhaltiges Wirtschaften ausgelöst oder begünstigt werden könnten, nach Möglichkeit zu vermeiden oder abzumildern oder zumindest bestmöglich auf sie vorbereitet zu sein. Stichworte sind: Kosteneffizienz klimaschützender Maßnahmen, Resilienz gegenüber Auswirkungen des Klimawandels, Transparenz in der Lieferkette, wechselseitige Abhängigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft. Rechtliche Kardinalpflicht eines jeden Geschäftsleiters ist dabei die langfristige Bestandssicherung des Unternehmens. Gerade bei Strategie- und Investitionsentscheidungen ist es essentiell, diese auf Grundlage angemessener Information zu treffen. Nachhaltigkeitsaspekte können hierbei nicht einfach ausgeblendet werden.
European Green Deal der EU-Kommission
Die EU-Kommission und der Europäische Rat wollen auch angesichts der Coronakrise weiterhin an dem European Green Deal festhalten. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat in ihrer Stellungnahme zur Covid-19-Pandemie Mitte April 2020 ebenfalls zum Ausdruck gebracht, dass das Ziel weiter ein starker European Green Deal bleiben müsse. Mit dem im Dezember 2019 vorgestellten European Green Deal zielt die EU-Kommission auf die Umgestaltung der EU-Wirtschaft für eine nachhaltige Zukunft ab.
Anfang März 2020 hat die EU-Kommission einen Entwurf für das Herzstück des Green Deal, das EU-Klimagesetz, vorgelegt. Darin soll Treibhausneutralität bis 2050 als rechtsverbindliches Ziel vorgesehen werden. EU-Institutionen und EU-Mitgliedsstaaten sollen verpflichtet werden, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Zudem möchte die EU-Kommission die bisherige EU-Zielvorgabe für die Verringerung der Treibhausgasemissionen bis 2030 überprüfen und im Herbst 2020 eine neue Zielvorgabe vorlegen. Der weitere Weg des Entwurfs durch den Europäischen Rat und das Europäische Parlament bleibt abzuwarten. Bundeskanzlerin Merkel hat die Pläne der EU-Kommission für eine neue Zielvorgabe bis 2030 beim Petersberger Klimadialog 2020 unlängst begrüßt. Bereits zuvor hatte Bundeskanzlerin Merkel geäußert, dass man während der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 weiterhin auch den Klimaschutz auf der Agenda habe.
In erster Lesung angenommen hat der Europäische Rat im April 2020 bereits die Verordnung über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen. Mit dieser Verordnung wird ein EU-weites Klassifikationssystem eingeführt, das private Investitionen in nachhaltiges Wachstum fördern und zu einer klimaneutralen Wirtschaft beitragen soll. Zu diesem Zweck formuliert die Verordnung Kriterien zur Bestimmung, ob eine Wirtschaftstätigkeit als ökologisch nachhaltig einzustufen ist. Das ist der Fall, wenn die Wirtschaftstätigkeit einen wesentlichen Beitrag zu einem oder mehreren der folgenden Umweltziele leistet: a) Klimaschutz, b) Anpassung an den Klimawandel, c) nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, d) Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, e) Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, f) Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme. Die Taxonomie für die beiden ersten Ziele soll bis Ende 2020 erstellt und ab Ende 2021 angewandt werden. Für die vier weiteren Ziele soll sie bis Ende 2021 vorliegen und ab Ende 2022 angewandt werden.
Die Taxonomie ist ein wesentlicher Bestandteil der Sustainable-Finance-Strategie der EU-Kommission. In ihrem European Green Deal kündigte die EU-Kommission unter anderem auch eine überarbeitete Sustainable-Finance-Strategie an. Die Konsultation zu dieser Renewed Sustainable Finance Strategy hat die EU-Kommission nunmehr im April 2020 gestartet. In dem Konsultationsdokument bekräftigt die EU-Kommission, an dem European Green Deal und dem Sustainable-Finance-Projekt auch und gerade angesichts der Coronakrise festhalten zu wollen.
Bereits seit Ende Februar 2020 läuft zudem die Konsultation zur Überarbeitung der sogenannten CSR-Richtlinie (RL 2014/95/EU). Mit den nationalen Umsetzungsgesetzen (in Deutschland das CSR-RUG, vgl. dazu Depping/Walden, DAS 10/2017) wurde für bestimmte größere Unternehmen, beginnend ab dem Geschäftsjahr 2017, die nichtfinanzielle Berichterstattung verpflichtend. Nach Auffassung der EU-Kommission müssen die Unternehmen die Offenlegung nichtfinanzieller Informationen weiter verbessern. Die derzeit von Unternehmen offengelegten nichtfinanziellen Informationen würden die Bedürfnisse der betreffenden Nutzer nicht angemessen erfüllen. Die Überarbeitung der CSR-Richtlinie soll ebenfalls zur Stärkung der Grundlagen für nachhaltige Investitionen beitragen.
Last, but not least hat die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen neuen „Marshallplan“ angekündigt: Die zur Bekämpfung der Coronakrise mobilisierten Mittel müssten „klug und nachhaltig“ investiert werden. Ziel sei es, ein moderneres, nachhaltigeres und widerstandsfähigeres Europa aufzubauen.
Zahlreiche namhafte deutsche Unternehmen haben im Vorfeld des Petersberger Klimadialogs 2020 gefordert, dass Konjunktur- und Investitionsprogramme zur Bewältigung der Coronakrise klimafreundlich ausgerichtet werden sollten. Bundeskanzlerin Merkel hat sich entsprechend geäußert. Auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hatte klargemacht, dass staatliche Maßnahmen Kriterien der Nachhaltigkeit in den Vordergrund stellen müssten („Weichen stellen für Nachhaltigkeit“).
Umgang der Unternehmen mit Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen
Bestehende und künftige Nachhaltigkeitsrisiken werden sich infolge der Coronakrise nicht grundlegend verändern oder reduzieren. Gleichzeitig nehmen die mit nachhaltigkeitsorientierten Geschäftsmodellen verbundenen Chancen weiter zu. Hierzu tragen unter anderem auch die vorbezeichneten Bestrebungen zur Förderung nachhaltiger Investitionen bei. Gemäß den geltenden rechtlichen Vorschriften muss sich die Geschäftsleitung angemessen (auch) mit Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen auseinandersetzen. Das vieldiskutierte, im Januar 2020 final veröffentlichte Merkblatt der BaFin zum Umgang mit Nachhaltigkeitsrisiken hat daher Fortbestand: Es soll gesetzliche oder aufsichtliche Vorgaben im Hinblick auf Nachhaltigkeitsrisiken weder abschwächen noch erweitern. Das Merkblatt gilt unmittelbar nur für Finanzunternehmen, ist aber für Unternehmen der Realwirtschaft nicht minder interessant.
Einflussnahme der Investoren
Unseres Erachtens werden (insbesondere institutionelle) Investoren Nachhaltigkeitsaspekten künftig nicht weniger Beachtung schenken. Das liegt angesichts der fortbestehenden Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen auf der Hand. Pars pro Toto steht die Erklärung von Larry Fink, dass Blackrock an seinem nachhaltigkeitsorientierten Investmentansatz festhalte, ja sogar langfristiges Denken noch nie so wichtig gewesen sei wie heute. Purpose-orientierte Unternehmen und Investoren mit einem langfristigen Ansatz kämen besser durch die aktuelle Coronakrise und ihre Folgen.
Sustainable Corporate Governance
Spätestens seitdem sich der US-amerikanische Business Roundtable im Sommer 2019 vom strikten Shareholdervalueansatz abgewandt hat und die grundlegende Verpflichtung der Unternehmen gegenüber allen Stakeholdern betont, reißt die Diskussion um das Thema Sustainable Corporate Governance nicht mehr ab. Das wird sich nach unserer Einschätzung auch infolge der Coronakrise nicht ändern. Durch das ARUG II hielt das Thema Nachhaltigkeit Einzug in die Regelungen zur Vorstandsvergütung. Die Präambel des neuen Deutschen Corporate Governance Kodexes widmet sich unter anderem dem Einfluss von Sozial- und Umweltfaktoren auf den Unternehmenserfolg (vgl. Walden, DAS 25/2019).
Beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos wurde intensiv über den sogenannten Stakeholder-Capitalism diskutiert. Klaus Schwab, Gründer des Weltwirtschaftsforums, fordert, dass in der Coronakrise gerade Stakeholderunternehmen unterstützt werden müssten.
Die EU-Kommission möchte in den Unternehmen – parallel und ergänzend zu ihrer Sustainable-Finance-Strategie – eine Kultur der Sustainable Corporate Governance etablieren. Die diesbezüglichen Überlegungen werden auf Basis entsprechender Untersuchungen weiter vorangetrieben. Zu nennen ist hier insbesondere eine von der EU-Kommission in Auftrag gegebene Studie über die Pflichten der Geschäftsleitung und die nachhaltige Unternehmensführung.
Unabhängig davon bleibt es auch in Coronazeiten bei der aktuellen rechtlichen Ausgangslage: Hiernach muss die Geschäftsleitung bei ihren Entscheidungen auch Nachhaltigkeitsaspekte angemessen berücksichtigen.
NAP-Monitoring, Lieferkettengesetz und Human-Rights-Litigation
Bereits Ende 2019 war bekanntgeworden, dass die Ergebnisse der ersten Runde des Monitorings zum Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) unbefriedigend waren. Das hat die Rufe nach einem Lieferkettengesetz lauter werden lassen. Angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise wird sich die Diskussion um verbindliche Sorgfaltspflichten in der Lieferkette kaum entspannen. Entwicklungsminister Gerd Müller will weiter an dem Ziel nachhaltiger globaler Lieferketten festhalten. Auch auf EU-Ebene bestehen deutliche Absichten zu einer diesbezüglichen Regulierung. Die EU-Kommission will das Projekt eines europäischen Lieferkettengesetzes mit Nachdruck vorantreiben. Das weitere Vorgehen beruht auf einer viele Hundert Seiten starken Studie zu Sorgfaltspflichten in der Lieferkette, deren Ergebnis in eine ähnliche Richtung deutet wie die erste Runde des deutschen NAP-Monitorings. Freiwilligkeit als Konzept reicht daher aus Sicht des EU-Justizkommissars Didier Reynders nicht aus, der nun zweierlei angeht: Eine öffentliche Konsultation im Jahr 2020 im Anschluss an die Studie und 2021 die Vorlage eines Gesetzesvorschlages für ein europäisches Lieferkettengesetz. In Deutschland wird aktuell die zweite Runde des NAP-Monitorings durchgeführt. Es sieht aber eher nicht danach aus, dass die Pläne der EU-Kommission hiervon noch beeinflusst werden. Unternehmen tun daher gut daran, sich frühzeitig auf künftige verbindliche Sorgfaltspflichten in der Lieferkette vorzubereiten.
Schließlich reißen auch die Haftungsrisiken der Unternehmen aus der sogenannten Human-Rights-Litigation infolge der Coronakrise nicht ab. Dies gilt auch für den potentiell besonders relevanten Teilbereich der sogenannten Climate-Change-Litigation (vgl. Walden/Depping/Etzel, DisputeResolution 3/2018).