Der „Brexit“ und seine Auswirkungen auf den Gerichtsstandort London haben den Wettbewerb der nationalen Justizstandorte in Europa intensiviert. Auch die deutsche Justiz versucht, mit Initiativen wie „Law – Made in Germany“ und Diskussionen um die Modernisierung des Zivilprozesses und die Einrichtung von Commercial Courts ihre Attraktivität für große internationale Wirtschaftsstreitigkeiten zu steigern. Innerhalb Deutschlands will Baden-Württemberg in diesem Wettbewerb zukünftig eine Spitzenposition belegen und hat angekündigt, dass an den Landgerichten Stuttgart und Mannheim ab dem 01.11.2020 der erste Commercial Court in Deutschland seine Arbeit aufnehmen soll. Die Hintergründe und Ziele dieser neuen Spruchkörper sowie die hiermit verbundenen Neuerungen für die zivilgerichtliche Streitbeilegung werden in diesem Beitrag zusammengefasst.
Wettbewerb der Justizstandorte
Das deutsche Recht und die deutsche Justiz genießen international einen hervorragenden Ruf und haben mit gut ausgebildeten Juristen, zuverlässigen und unabhängigen Gerichten, kostengünstigen Verfahren und effizienten Beweisregeln viel zu bieten. Trotzdem machen Parteien in großen internationalen Wirtschaftsstreitigkeiten häufig einen Bogen um deutsche Gerichte und verhandeln stattdessen zum Beispiel in London und anderen internationalen „Dispute-Resolution-Hubs“. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Teilweise wird die verstärkte Nutzung der Schiedsgerichtsbarkeit und anderer alternativer Streitbeilegungsformen angeführt, teilweise aber auch die Schwächen des deutschen AGB-Rechts im B2B-Verkehr, die föderale Struktur, Defizite in der Digitalisierung deutscher Gerichtsverfahren, Mängel in der Verfahrensführung und personellen Ausstattung der Gerichte und natürlich die Dominanz der englischen Wirtschafts- und Rechtssprache.
Gleichzeitig gibt es seit längerer Zeit einen internationalen, vor allem in Asien verbreiteten Trend, die nationale Rechtsordnung und den eigenen Rechtsdienstleistungssektor grenzüberschreitend als Produkt zu vermarkten. Mit dem Brexit hat dieser Trend auch innerhalb Europas eine intensive Dynamik entwickelt. Nach dem Vorbild des namensgebenden „London Commercial Court“ sind unter anderem in Paris („International Chamber of the Paris Court of Appeal“, seit 2018), in Amsterdam („Netherlands Commercial Court“, seit 2019), in Brüssel („Brussels International Business Court“, ab 2020) und Zürich („Zurich International Commercial Court“, voraussichtlich ab 2021) neue Spruchkörper geschaffen oder angekündigt worden, die um die Poleposition bei der Beilegung von internationalen Wirtschaftsstreitigkeiten buhlen.
Modernisierung und Internationalisierung des Zivilprozesses in Deutschland
Vor diesem Hintergrund wird auch in Deutschland die Modernisierung und Internationalisierung gerichtlicher Zivilverfahren seit Jahren diskutiert und zunehmend in Angriff genommen. Im Juli 2020 hat eine Arbeitsgruppe der OLG-Präsidenten ihre Thesen zur Modernisierung des Zivilprozesses veröffentlicht (siehe hier).
Neben verschiedenen Verbesserungen des elektronischen Rechtsverkehrs sind darin in Anlehnung an die bewährte Praxis in internationalen Schiedsverfahren unter anderem ein Termin zur Strukturierung des Verfahrens und des Prozessstoffs, die Flexibilisierung der Beweisaufnahme durch rein virtuelle Verhandlungen und schriftliche Zeugenerklärungen sowie die Einführung eines schriftlichen Wortprotokolls vorgesehen. Dies sind Schritte in die richtige Richtung, auch wenn die vielfach notwendige Umsetzung der Thesen durch die Rechtspolitik noch aussteht.
Die Verwendung von Englisch als Gerichtssprache ist im OLG-Bezirk Köln bereits seit einigen Jahren möglich, auch wenn das Modellprojekt anfangs noch auf wenig Interesse stieß. Im Jahr 2018 haben auch die Landgerichte in Frankfurt am Main und Hamburg Kammern für englischsprachige Zivil- und Handelssachen eingerichtet, bei denen Verfahren mit Zustimmung beider Parteien auf Englisch geführt werden können. Begleitet werden diese Initiativen durch einen im Jahr 2018 über den Bundesrat erneut eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen (BR-Drs. 53/18), der auch die Abfassung gerichtlicher Protokolle, Beschlüsse und Urteile in englischer Sprache erlauben würde. Der Gesetzentwurf wurde allerdings vom Bundestag noch nicht aufgegriffen, so dass bisher das gerichtliche Verfahren nicht vollständig auf Englisch geführt werden kann.
Commercial Courts in Stuttgart und Mannheim
Baden-Württemberg plant nun ab dem 01.11.2020 die Einführung des deutschlandweit ersten Commercial Court mit Untergliederungen in den „Stuttgart Commercial Court“ und den „Mannheim Commercial Court“ auf der Grundlage der bestehenden Rechtslage. Der Commercial Court ist insbesondere für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten und Streitigkeiten im B2B-Bereich mit hohen Streitwerten und internationalem Bezug vorgesehen. Zu diesem Zweck sollen an den Landgerichten Stuttgart und Mannheim jeweils eine neue Zivilkammer und eine Kammer für Handelssachen geschaffen werden, die für große und komplexe Wirtschaftsstreitigkeiten zuständig sind. Die konkrete Zuständigkeit und der vorgesehene Mindeststreitwert für diese neuen Spruchkörper wird in den Geschäftsverteilungsplänen der beiden Landgerichte definiert werden.
Das Verfahren vor dem Commercial Court soll in weiten Teilen auf Englisch geführt werden können. Grundlage für das Angebot von mündlichen Verhandlungen in englischer Sprache ist § 185 Abs. 2 GVG, wonach die Zuziehung eines Dolmetschers unterbleiben kann, wenn alle Beteiligten die fremde Sprache verstehen. Die Richter sollen außerdem von der nach § 142 Abs. 3 ZPO eröffneten Möglichkeit Gebrauch machen, von der Anordnung der Einreichung von deutschen Übersetzungen englischsprachiger Dokumente abzusehen. Dies bedeutet, dass Schriftsätze der Parteien sowie gerichtliche Verfügungen, Protokolle und Urteile weiterhin in Deutsch abgefasst sein müssen.
Der Commercial Court soll sich in einem weiteren Kernaspekt durch eine effiziente Verfahrensführung und den Einsatz moderner Kommunikationsmittel auszeichnen, was durch eine entsprechende technische und personelle Ausstattung ermöglicht werden soll. Baden-Württemberg beabsichtigt insbesondere, die neugeschaffenen Kammern mit erfahrenen Richtern zu besetzen, die neben ausgezeichneten Englischkenntnissen über besondere Sachkunde im Wirtschaftsrecht verfügen. Die Spruchkörper sollen stets mit drei Richtern besetzt sein und das Verfahren besonders effizient führen. Letzteres soll die Durchführung einer Verfahrenskonferenz, die Abschichtung des Prozessstoffes, die Durchführung auch von größeren Beweisaufnahmen an einem Stück und bei Bedarf den Einsatz von Wortprotokollen beinhalten. Damit geht Baden-Württemberg bei der Modernisierung des Zivilprozesses voran und setzt die im Thesenpapier der OLG-Präsidenten vorgesehen Schritte bereits teilweise um.
Das Paket soll abgerundet werden durch die Einrichtung entsprechender Senate bei den jeweils zuständigen Oberlandesgerichten in Stuttgart und Karlsruhe, die über Berufungen und Beschwerden des „Stuttgart Commercial Court“ und des „Mannheim Commercial Court“ entscheiden und dabei ebenfalls die besonderen Verfahrensformen des Commercial Court anwenden sollen. Die Landesjustizverwaltung möchte den Nutzern des Commercial Court dadurch ein möglichst umfassendes Angebot eröffnen. Die Kosten für die Schaffung des Commercial Court, einschließlich der Einrichtung neuer Räumlichkeiten für den „Stuttgart Commercial Court“ in der Nähe des Stuttgarter Flughafens, sollen aus dem Landeshaushalt bestritten werden. Es wird zwar allgemein diskutiert, die für die Berechnung der Gerichtsgebühren geltende Streitwerthöchstgrenze von 30 Millionen Euro anzuheben, im Zusammenhang mit der Errichtung des Commercial Court ist eine Änderung der Gerichtsgebühren aber nicht vorgesehen.
Fazit
Mit der Schaffung des ersten Commercial Court in Deutschland vollzieht Baden-Württemberg einen wichtigen Schritt zur Stärkung des Justizstandorts Deutschland. Dass es hier insgesamt einen erheblichen Nachholbedarf insbesondere bei der Ausstattung mit personellen und technischen Ressourcen gibt, ist nicht neu, wurde aber im Rahmen der Covid-19-Einschränkungen wieder besonders sichtbar. Richtig und längst überfällig ist es deshalb, dass die staatliche Gerichtsbarkeit (nicht nur, aber auch) für große Wirtschaftsstreitigkeiten mit internationalen Bezügen attraktiv ausgestaltet und mit zusätzlichen Ressourcen ausgestattet wird. Die Verbindung der Einführung englischsprachiger Spruchkörper, die es in anderen Bundesländern schon länger gibt, mit einer effizienten und modernen Verfahrensführung ist konsequent und notwendig. Nur so kann eine echte Alternative zu ausländischen Commercial Courts und zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, die ihre eigenen Nachteile (unter anderem hinsichtlich der Kosten) hat, etabliert werden.
Mit Spannung abzuwarten bleibt, wie die Zielsetzungen des Commercial Court in der Praxis umgesetzt und wie er von Anwälten und Unternehmen angenommen wird. Gerade bei kontrovers geführten Prozessen, bei denen sich die Parteien auch in Verfahrensfragen nicht einig sind, wird die Praxistauglichkeit des Konzepts auf den Prüfstand gestellt werden. Außerdem wird das Nebeneinander von deutscher und englischer Sprache in einem Gerichtsverfahren absehbar zu einer gewissen Sprachverwirrung führen, insbesondere etwa, wenn eine englische Zeugenaussage auf Deutsch im Wortlaut protokolliert werden soll. Zusätzlich ist es zur Steigerung der Attraktivität des deutschen Rechtssystems natürlich unerlässlich, dass auch Urteile vermehrt in englischer Sprache verfügbar sind, damit das deutsche Recht international zugänglicher und verständlicher wird. Die Errichtung des Commercial Court ist somit ein Schritt auf einem langen Weg, den die Landesjustizverwaltungen und der Bundesgesetzgeber nur gemeinsam gehen können.
Hinweis der Redaktion:
Das Interview mit Dr. Wilhelm Wolf, Präsident des LG Frankfurt am Main, über die Einrichtung einer englischsprachigen Kammer für Handelssachen (Deutscher AnwaltSpiegel Ausgabe 2/2018) finden Sie hier. (tw)