Von der Beharrlichkeit des Unsinns – und was dagegen zu tun ist
Von Dr. Wendt Nassall
Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Diese seit dem 01.01.2002 geltende Vorschrift regelt zusammen mit den §§ 513 Abs. 1, 530, 531 ZPO den Umfang der Tatsachenprüfung des Berufungsgerichts: Die Tatsachenprüfung soll sich in der Regel auf den Tatsachenstoff beschränken, der bereits Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens war. Aber das besagt nicht, dass das Berufungsgericht die erstinstanzlichen Tatsachenfeststellungen nur auf Rechts- und Verfahrensfehler, ansonsten aber nicht zu überprüfen habe. Das hat der BGH schon kurze Zeit nach Inkrafttreten des § 529 ZPO klargestellt – und nicht nur das: Eine erneute Tatsachenfeststellung nach § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO setzt keine darauf bezogene Berufungsrüge voraus; das Berufungsgericht hat deshalb Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen der ersten Instanz selbst dann nachzugehen, wenn es sie unabhängig vom Parteivortrag gewonnen hat (BGH, Urteil vom 12.03.2004 – V ZR 257/03 = BGHZ 158, 269, 279).
Bei den Berufungsgerichten ist diese Botschaft aber nicht ausnahmslos angekommen, wie das BGH-Urteil vom 04.09.2019 (VII ZR 269/17) belegt: In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall hatte die Versicherungsnehmerin der Klägerin die Beklagte mit der Verlegung eines Kühlwasserschlauchs einer Maschine beauftragt. Nach Abschluss dieser Arbeiten war es zu einem Leitungswasserschaden gekommen, weil sich der Kühlwasservorlaufschlauch gelöst hatte. Das Landgericht hat ein Sachverständigengutachten zu der Frage der Ursächlichkeit der Ablösung des Kühlwasserschlauchs eingeholt und auf dieser Grundlage die Klage abgewiesen, da die Klägerin eine mangelhafte Leistung der Beklagten beim Anschluss des Kühlwasserschlauchs nicht habe beweisen können. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht nach § 522 Abs. 2 ZPO mit der Begründung abgewiesen, die Berufungsinstanz diene primär der Rechtsfehlerkontrolle. Sei die Tatsachenfeststellung oder die Beweiswürdigung der ersten Instanz als solche rechtsfehlerfrei, könne diese in der Berufungsinstanz grundsätzlich nicht mit Erfolg angegriffen werden; die Klägerin ersetze in der Berufungsbegründung nur die landgerichtliche Überzeugungsbildung durch ihre eigene; der bloße Wunsch, das Berufungsgericht möge die Beweise und den Sachvortrag der Parteien anders würdigen, begründe keinen Rechtsfehler, der vom Berufungsgericht zu korrigieren wäre. Das hat der BGH kassiert und auf seine gefestigte Rechtsprechung verwiesen, konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und der Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen der ersten Instanz (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) seien alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen; derartige konkrete Anhaltspunkte könnten sich unter anderem aus dem Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften auch aus dem Vortrag in der Berufungsinstanz ergeben; Zweifel lägen schon dann vor, wenn aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben werde, sich also deren Unrichtigkeit herausstelle. Bei der Berufungsinstanz handele es sich um eine zweite – wenn auch eingeschränkte – Tatsacheninstanz, deren Aufgabe in der Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls bestehe. Klickt man die Entscheidung in den einschlägigen Datenbanken an, öffnen sich Hinweise auf frühere Rechtsprechung, die damit fortgeführt werde – nichts Neues also. Aber offensichtlich notwendig: Es erben sich eben – das wissen wir seit Goethes Faust (Mephistopheles, Im Studierzimmer, Kapitel 7) – nicht nur Gesetz’ und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort – womit der Jurist leben kann –, sondern auch deren Unkenntnis oder gar Leugnung. So wird aus der an sich auf eine sinnvolle Wohltat, nämlich Verfahrensbeschleunigung, zielenden Regelung des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO eine unsinnige Plage.
Was also tun? Aufpassen und reagieren; bei Plagen gehört sich das so: Wer in der Berufungsinstanz einen Hinweisbeschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO mit dem hier vom BGH beanstandeten Inhalt erhält, muss das Berufungsgericht daran erinnern, dass es eben kein kleines Revisionsgericht ist, sondern eine Tatsacheninstanz; er darf nicht darauf spekulieren, das Berufungsgericht werde seinen Verfahrensfehler in seinem Zurückweisungsbeschluss endgültig festschreiben und er könne deshalb mit wehenden Fahnen in das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ziehen: Eine Revision ist nicht wegen eines Gehörverstoßes zuzulassen, wenn es der Beschwerdeführer versäumt hat, den Verstoß im Rahmen der ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf einen Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts zu rügen (BGH, Beschluss vom 17.03.2016 – IX ZR 211/14 = NJW-RR 2016, 699). Kommt das Berufungsgericht dagegen erst in seinem Zurückweisungsbeschluss zu der Selbstfehlerkenntnis, ein kleines Revisionsgericht zu sein, ist der Weg in eine erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde frei.
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