„Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn, So nehmt auch mich zum Genossen an, Ich sei, gewährt mir die Bitte, In eurem Bunde der Dritte.“
Nein, um Bürgschaft, wie die Schlusszeilen aus Schillers Ballade nahelegen, geht es hier nicht, sondern um eine Art Gegenstück, den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter.
Er ist bekanntlich dadurch gekennzeichnet, dass ein am Vertrag nicht Beteiligter in die Vertragswirkungen nur hinsichtlich der vertraglichen Verhaltenspflichten einbezogen ist, ohne – anders als beim Vertrag zugunsten Dritter – die vertragsmäßige Leistung oder eine vertragliche Nebenleistung beanspruchen zu können. Da diese Einbeziehung zwischen den Vertragspartnern in den wenigsten Fällen ausdrücklich vereinbart wird, kann sie sich nur aus der Auslegung des Vertrags ergeben nach den Geboten von Treu und Glauben (§§ 157, 241 Abs. 2 BGB). Der BGH nennt dafür vier Kriterien: Erstens muss der Dritte mit der Hauptleistung des Gläubigers bestimmungsgemäß in Berührung kommen. Zweitens muss der Gläubiger ein schutzwürdiges Interesse an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Vertrags haben. Drittens muss die Einbeziehung des Dritten dem schutzpflichtigen Berater bekannt oder für ihn zumindest erkennbar sein. Viertens darf der Dritte wegen des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts nicht bereits über einen inhaltsgleichen vertraglichen Anspruch verfügen [vgl. nur BGH, Urteil vom 21.07.2016 – IX ZR 252/15 = BGHZ 211, 251, 255 (Rz. 16)]. Entwickelt wurde die im Gesetz nicht geregelte „Rechtsfigur“ des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zu Miet- und Werkverträgen; im Jahr 1956 bekam sie ihren Namen (Larenz, NJW 1956, 1193). Im Bereich der Miet- und Werkverträge spielt sie in der Rechtsprechung des BGH in den vergangenen Jahren, ja Jahrzehnten kaum noch eine Rolle. Von – zunehmender – Bedeutung ist sie aber auf dem Gebiet der Beraterverträge: So können Gesellschafter und Geschäftsführer einer GmbH in den Schutzbereich des zwischen dieser und einem Steuerberater geschlossenen Vertrags einbezogen sein, der die Prüfung einer möglichen Insolvenzreife der GmbH zum Gegenstand hat (BGH, Urteil vom 14.06.2012 – IX ZR 145/11 = BGHZ 193, 297); Gleiches gilt für die Ehefrau eines Mandanten, der seinen Rechtsanwalt mit den Verhandlungen über eine Versorgungszusage beauftragt (BGH, Urteil vom 01.10.1987 – IX ZR 117/86 = WM 1987, 1520, 1521).
„Freundschafts- oder Familienbande sowie eine gewisse Mitbetroffenheit allein gewähren einem Dritten noch nicht Zutritt zum Schutzbereich des anwaltlichen Vertragsbunds.“
Die Grenzen der an den Geboten von Treu und Glauben (§ 157 BGB) orientierten Auslegung eines Vertrags im Hinblick auf eine etwaige Schutzwirkung zugunsten Dritter, die Abgrenzung zwischen „Treue“ und „Wahn“, verdeutlicht das BGH-Urteil vom 09.07.2020 – IX ZR 289/19: Im Jahr 2006 wurde die Mutter der Klägerinnen bei einem Verkehrsunfall schwerstverletzt. Schuld an dem Unfall war der Unfallgegner. Mit im Auto der Mutter saßen ihre beiden Töchter, die Klägerinnen, die aber nur leichte Verletzungen erlitten, welche im weiteren Verlauf keine Rolle spielten. Nach dem Unfall beauftragte die Mutter den beklagten Rechtsanwalt mit der Verfolgung ihrer eigenen unfallbedingten Schadensersatzansprüche. 2012 bzw. 2016 entwickelten die Klägerinnen starke Schuldgefühle gegenüber ihrer seit dem Unfall pflegebedürftigen Mutter; sie begaben sich deshalb in psychotherapeutische Behandlung und meinen, ihre Leiden seien auf den Unfall zurückzuführen; der Beklagte hätte im Rahmen des Mandats mit ihrer Mutter auch über die ihnen selbst zustehenden und inzwischen verjährten Ansprüche gegen den Unfallgegner aufklären und beraten müssen. Der BGH sah das anders: Die Klägerinnen seien an den Rechtsverhältnissen, die Gegenstand des Anwaltsvertrags geworden seien – nämlich den Schadensersatzansprüchen der Mutter –, persönlich nicht beteiligt gewesen. Außerdem entstehe die für die Annahme eines Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter erforderliche Leistungsnähe bei einem Anwaltsvertrag nicht bereits dann, wenn sich für den Rechtsanwalt Anhaltspunkte für eigene Ansprüche dem Mandanten nahestehender Dritter aus demselben Rechtsgrund und gegen denselben Anspruchsgegner ergäben. Schließlich sei für den Beklagten seinerzeit die Gefährdung von Vermögensinteressen der Klägerinnen nicht offenkundig gewesen; ihm habe sich nicht bereits bei Übernahme des Mandats aufdrängen müssen, dass die Klägerinnen wegen des familiären Alltags seit dem Unfallgeschehen im September 2006 Jahre später psychisch erkranken würden und ihnen deshalb möglicherweise eigene Schadensersatzansprüche gegen den Unfallgegner zustehen könnten.
Das ist der entscheidende Punkt: Freundschafts- oder Familienbande sowie eine gewisse Mitbetroffenheit von dem Anlass der Mandatierung allein gewähren einem Dritten noch nicht Zutritt zum Schutzbereich des anwaltlichen „Vertragsbunds“. Anders verhält es sich erst, wenn sich dem Anwalt aufdrängen muss, dass bei dem Mandat auch Interessen des dem Mandanten nahestehenden Dritten im Spiel sind. Die Erweiterung des Schutzbereichs des Anwaltsvertrags in personeller Hinsicht unterliegt den gleichen Regeln, die in sachlicher Hinsicht gelten: Auch bei einem gegenständlich beschränkten Mandat ist der Anwalt zu Hinweisen und Warnungen außerhalb des eigentlichen Vertragsgegenstands verpflichtet. Diese Warn- und Hinweispflichten folgen aus § 242 BGB und knüpfen an das Informations- und Wissensgefälle zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten an. Sie setzen voraus, dass die dem Mandanten drohenden Gefahren dem Anwalt bekannt und auch offenkundig sind oder sich ihm bei ordnungsgemäßer Mandatsbearbeitung aufdrängen und dass der Anwalt Grund zu der Annahme hat, der Mandant sei sich der Gefahren nicht bewusst (BGH, Urteil vom 21.06.2018 – IX ZR 90/17 – NJW 2018, 2476, 2477).