Schafft die Digitalisierung gewerbliche Schutzrechte ab? – Ein Anstoß zur Diskussion

Von Dr. Gösta Schindler, LL.M. (Chicago)

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Stellt man die Frage, welche Auswirkungen „die Digitalisierung“ auf die gewerblichen Schutzrechte (IP) hat, erhält man – wie in allen anderen Rechtsbereichen auch – meist reflexartig ein Sammelsurium von Schlagworten als Antwort, die mal mehr, mal weniger im Zusammenhang mit der Frage stehen. Es ist die Rede von „Legal-Tech“, „Blockchain“ und Ähnlichem. Der Wandel wird beschworen. Eine wirkliche Analyse – oder jedenfalls der Beginn einer solchen – bleibt aber bisher aus. Dabei lassen sich trotz aller bestehenden Unsicherheiten und Fragen, die eine komplexe Entwicklung mit sich bringt, schon jetzt einige Thesen aufstellen und daraus notwendige Handlungsanweisungen ableiten:
1. Klassisches IP bleibt auch in einem „Zeitalter der Digitalisierung“ relevant. Es muss aber anders gedacht und eingesetzt werden.
2. Know-how-Schutz muss stärker ins Bewusstsein rücken.
3. IP-Schutz und -Verteidigung müssen als Unternehmensziel gedacht werden und nicht (nur) als Aufgabe der Rechtsabteilung.
4. Die Digitalisierung kostet Geld. Die Investition in IP ist dabei unerlässlich – auch mit dem Risiko, das IP nachher nicht selbst zu verwerten.

Aber was meint überhaupt „Digitalisierung“? Im Kontext der nachfolgenden Gedanken soll dieser Begriff eine Entwicklung beschreiben, die unter anderem folgende Parameter aufweist:

  • Exponentielle Veränderungen; schnelleres Aufkommen disruptiver Produkte oder Dienstleistungen, die bisherige Produkte oder Dienstleistungen vollständig verdrängen.
  • Transformation von Wirtschaftsmodellen, also die Veränderung eines zum Beispiel produzierenden Gewerbes zu einem Dienstleistungs- oder Mischunternehmen, etwa die Herausbildung von Plattformanbietern.
  • Dynamischere (agile) Formen der Produkt-/Serviceentwicklung nehmen zu.

Wie wirkt sich also die so verstandene Digitalisierung auf IP im Sinne von Marken, Designs, Patenten und Know-how aus? Oder bleibt alles beim Alten?

These 1:
Klassisches IP bleibt auch in einem Zeitalter der „Digitalisierung“ relevant. Es muss aber anders gedacht und eingesetzt werden.
Es wird auch während und nach der Digitalisierung produzierendes Gewerbe und Dienstleistungen geben. Auch der Wettbewerb und die Notwendigkeit, sich gegen Wettbewerber zu behaupten, werden von den Digitalisierungsentwicklungen nicht in Frage gestellt. Damit könnte man zunächst unterstellen, dass auch der Herkunftshinweis der Marken, der ästhetische Schutz der Designs oder technologische Errungenschaften, die als Patente geschützt werden, dieselbe Berechtigung behalten wie bisher.
Bei genauerer Betrachtung kommen aber Zweifel auf. Lässt sich das Prinzip von Registerrechten mit teilweise aufwendigen Anmeldeprozeduren, langen Schutzzeiten und nicht unerheblichen Kosten in Einklang bringen mit agiler Projektentwicklung, kürzeren Produktzyklen und einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass die nächste Disruption schon hinter der nächsten Ecke wartet?
Die Antwort ist: Ja. In- und externe Berater müssen sich aber umstellen, um ein relevantes IP-Portfolio aufzubauen und zu erhalten:

  • Nichttraditionelle Marken müssen offensiver als Option mitgedacht werden: Gewährleistungsmarken für Plattformbetreiber und Farbmarken für Produkte können zum Beispiel helfen, sich von ansonsten schnelllebigen Entwicklungen unabhängig zu machen. Auch traditionelle Markenformen behalten ihre Berechtigung. Allerdings macht es hier vielleicht (wieder) Sinn, Aufwand in die Entwicklung einer „zeitlosen“ Core-Brand zu investieren, anstatt für eine große Vielzahl von Produkten mit möglicherweise nur kurzer Lebensdauer einzelne Marken anzumelden.
  • Im Designbereich kann möglicherweise stärker auf nichteingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster vertraut werden und nur im Einzelfall – für die „Landmark-Produkte“ ein Registerrecht erworben werden. Um dem damit verbundenen Recherche- und Dokumentationsaufwand gerecht zu werden, sind klare, transparente Prozesse wichtig. Diese aufzusetzen mag zwar hohen Initialaufwand begründen. Schon kurzfristig werden diese Transaktionskosten aber von den ersparten Aufwendungen für Registerrechte und deren Verwaltung aufgehoben.
  • Patente bleiben sicherlich die komplexeste Variable der Gleichung. Schon die Beurteilung, ob eine patentfähige Erfindung vorliegt oder nicht, ist mit Kosten verbunden. Die weitergehende Entscheidung, ob es sich lohnt, in den zeit- und kostenintensiven Anmeldeprozess einzusteigen, ist abstrakt nicht zu erleichtern. Allerdings gibt es viele Branchen, in denen eine „Grundlagenerfindung“ aufgrund der Veränderungsgeschwindigkeit ihrer Produkte unwahrscheinlich ist. Im Rahmen der Digitalisierung wird sich der Fokus hier auf „Freedom to operate“-Analysen verlagern, anstatt zu versuchen, selbst Ausschließlichkeitsrechte zu erlangen. In anderen Bereichen – man denke an die Pharmaindustrie – wird sich hingegen vielleicht sogar ein erhöhtes Bedürfnis für Patentschutz einstellen, weil neben der Wirkstoffentwicklung auch Herstellungs- oder Verwendungsverfahren eine breitere und damit auch längerfristige Verwendung versprechen, die wenigen kurzfristigen Schwankungen unterworfen ist.

These 2:
Know-how-Schutz muss stärker ins Bewusstsein rücken.
Eine Konsequenz der ersten These ist, dass Formalprozesse abnehmen. Die mit Registerrechten automatisch einhergehende Manifestation von Wissen (wer hat wann was mit wessen Hilfe oder auf welcher Informationsbasis entwickelt und angemeldet) entfällt. Interne Wissenswahrung wird damit für jedes Unternehmen noch wichtiger. Ansonsten droht die Gefahr, dass mit den – wohl ebenfalls zunehmenden – Mitarbeiterwechseln Kenntnisse abfließen, die das Fortkommen des eigenen Unternehmens behindern oder im schlimmsten Fall sogar das Bestehen des Unternehmens in Frage stellen. Gleichermaßen besteht das Risiko, dass das eigene Know-how dem Mitbewerber zugutekommt.
Mechanismen des Know-how-Schutzes, der Dokumentation und Sicherung des unternehmenseigenen Wissens müssen also stärker in den Fokus von Unternehmensleitung und Rechtsabteilungen rücken. Aufklärung der Mitarbeiter ist in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Aufgabe. Oftmals wird vielen Mitarbeitern nicht bewusst sein, dass das, was sie als „ihre“ Kenntnisse ansehen, an sich Unternehmenswissen ist, das nicht ohne weiteres überall sonst eingesetzt werden darf. Gleichzeitig müssen Unternehmensleitungen Vorkehrungen treffen, um sich (arbeits-)vertraglich und durch verpflichtende Dokumentationsprozesse vor drohendem Brain-Drain zu schützen und sich von einzelnen Wissensträgern im Unternehmen unabhängig zu machen.

These 3:
IP-Schutz und -Verteidigung müssen als Unternehmensziel gedacht werden und nicht (nur) als Aufgabe der Rechtsabteilung.
Im Rahmen von Projektentwicklungsmethoden wird stets das „Aufbrechen von Silos“ gepredigt und die Notwendigkeit, sich von „Ressorts“ zu verabschieden und multidisziplinäre Teams zu bilden.
Diese richtigen Gedanken müssen auch auf die Arbeit mit Unternehmens-IP übertragen werden. IP wird erst dann werthaltig, wenn es auf Basis richtiger und vollständiger Informationen entwickelt, geschützt und verteidigt wird. Rechtsabteilungen allein können diese Aufgabe nicht leisten. Es ist auch nicht effizient, Rechtsabteilungen mit der Informationsbeschaffung von anderen Abteilungen und (wechselnden) Ansprechpartnern zu beauftragen. Zudem birgt dieses Vorgehen Risiken. Es erhöht das Risiko von Fehlentscheidungen, die dazu führen, dass IP nicht richtig geschützt und/oder verteidigt wird und dem Unternehmen damit nachhaltig schadet.
In der Konsequenz müssen Informationen ressortübergreifend verfügbar gemacht werden. Es ist zwingend erforderlich, dass alle Unternehmensmitglieder, die mit der Entwicklung von Produkten oder Dienstleistungen, mit der Marktforschung und oder auch den rechtlichen Aspekten der Unternehmenswerte befasst sind, Zugang zu denselben Informationen haben. Nur so kann eine Rechtsabteilung ihrer Beratungsfunktion nachkommen, nur so können alle anderen Unternehmensteile den von Rechtsabteilungen geschaffenen Mehrwert vollständig ausschöpfen.

These 4:
Die Digitalisierung kostet Geld. Die Investition in IP ist dabei unerlässlich – auch mit dem Risiko, das IP nachher nicht selbst zu verwerten.
Die oben aufgeführte erste These dahingehend zu verstehen, dass der Umgang mit Unternehmens-IP von nun an billiger werden wird, wäre ein Irrglaube. Denn auch, wenn im Vergleich zu klassischen Methoden der IP-Entwicklung und -verwaltung vielleicht langfristig geringere Kosten anfallen, ist bei Unternehmen, die die Digitalisierung leben, tatsächlich auch mit einem hohen Anteil an „Sunk Costs“ (bereits angefallenen Kosten) zu rechnen. Damit wird die Zweitverwertung von IP integraler Bestandteil des Lebenszyklus von Unternehmenswerten.
Agile Projektentwicklung bedingt, dass sich Ziele und Ergebnisse ändern. Diesen Änderungen kann nicht jedes IP Rechnung tragen. Marken, die man für langlebig und relevant erachtete, können bedeutungslos werden. Es kann effizient sein, solche Marken abzuschreiben und die investierten Kosten als „Sunk Costs“ zu betrachten. Vielleicht bieten sich aber auch Gelegenheiten, das einmal geschaffene IP im Wege der Zweitverwertung dennoch zu monetarisieren. Denn anderen Unternehmen mag es gerade gelegen kommen, für ihr Projekt (mit ungewissem Ausgang) nicht selbst zeitaufwendige Neuanmeldungen voranzutreiben. Der Rückgriff auf eine schon registrierte Marke kann eine attraktive Alternative darstellen. Gleiches gilt natürlich auch für die anderen Formen des IP – für Designs und natürlich auch das Patentportfolio eines Unternehmens.
Ob eine solche Zweitverwertung inhouse oder über Dritte erfolgt, ist anhand von Kapazitäten und sicher auch in Abhängigkeit von der Masse des in Rede stehenden IP zu beurteilen.

Fazit in der Momentaufnahme
Die hier skizzierten Gedanken zeigen auf, dass auch im Rahmen der Digitalisierung nicht alles Hergebrachte über Bord zu werfen ist. Gleichzeitig ist ein Festhalten an bisherigen Strukturen und Denkweisen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Sackgasse.
Eine kritische Bestandsaufnahme und ein bisschen Mut sind der erste Schritt in die richtige Richtung: Was machte die IP-Strategie des Unternehmens bisher aus, was hat sich rückblickend als nicht zielführend herausgestellt und warum? Welches IP hat dem Unternehmen langfristig geholfen, worauf hätte man verzichten können? Diese Fragen helfen, das Portfolio zu justieren und Bedarf im Status quo zu definieren. Der zweite – schwierigere – Schritt für die Rechtsabteilungen ist es dann, die Vision des Unternehmens kreativ zu begleiten, sich und andere Stakeholder zu zwingen, außerhalb bekannter Kategorien und Komfortzonen zu denken und sich kopfüber auch einmal in unbekannte IP-Gewässer zu stürzen.

So fängt Digitalisierung auch in der Rechtsabteilung an. Ganz ohne Legal-Tech und Blockchain.

schindler@buse.de

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