Bestehen und möglicher Verfall von Urlaubsansprüchen: Spätestens jeweils Ende September sollten Arbeitgeber eindeutig informieren
Von Dr. Christoph Kurzböck und Alexander von Chrzanowski
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entwickelt – gezwungenermaßen – das deutsche Urlaubsrecht fort. Schon jetzt führt ein Blick in den Gesetzestext zuverlässig in die Irre; nahezu keine der dortigen Regelungen kann wörtlich genommen werden.
Aktuell setzt das BAG mit einer Entscheidung vom 19.02.2019 (9 AZR 541/15) erneute Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs um. Dieser hatte eine Vorlagefrage des Bundesarbeitsgerichts in dem jetzt entschiedenen Verfahren mit Urteil vom 06.11.2018 beantwortet (C-684/16). Zugrunde liegt die Auslegung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Dabei geht es um die Frage, inwieweit ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer auf den drohenden Verfall des bezahlten Jahresurlaubs hinweisen oder den Urlaub sogar selbst anordnen muss.
Fallgestaltung
In dem entschiedenen Fall war ein Wissenschaftler der Max-Planck-Gesellschaft bis zum 31.12.2013 beschäftigt. Ende Oktober 2013 bat die Gesellschaft den Arbeitnehmer darum, den Urlaub vor Ende des Arbeitsverhältnisses zu nehmen. Dem kam der Wissenschaftler nicht nach und verklagte den Arbeitgeber nach Ende des Arbeitsverhältnisses auf Abgeltung von 51 Urlaubstagen aus den Jahren 2012 und 2013.
Nach § 7 Abs. 3 Bundesurlaubsgesetz (BurlG) muss gesetzlicher Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden, eine Übertragung auf das nächste Kalenderjahr ist nur aus dringenden betrieblichen oder in der Person des Arbeitnehmers liegenden Gründen gerechtfertigt. Wird der Urlaub nicht übertragen, so verfällt er. Danach wäre der Urlaub aus 2012 und 2013 mit Ablauf des jeweiligen Jahres verfallen. Da zudem bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs die Wünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen sind, wird Urlaub regelmäßig nicht einseitig vom Arbeitgeber vorgegeben, sondern zunächst vom Arbeitnehmer beantragt und vom Arbeitgeber gewährt.
Das Bundesarbeitsgericht hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die deutsche Regelung eines Verfalls des Jahresurlaubs zum Ende des Bezugszeitraums zulässig ist oder ob gegebenenfalls der Arbeitgeber einseitig Urlaub anordnen muss. Zudem wollte das BAG wissen, ob sich Besonderheiten daraus ergeben, dass der betroffene Arbeitnehmer nicht bei einer staatlichen Stelle beschäftigt war. Hintergrund dieser Frage ist, dass europäische Richtlinien an die Mitgliedstaaten gerichtet sind. Diese müssen die Richtlinien in nationales Recht umsetzen. Kommen sie dem nicht innerhalb der Umsetzungsfrist nach und gewährt eine Richtlinie Einzelnen klare, genaue, nicht von Bedingungen abhängige Rechte, dann können sich diese Einzelnen gegenüber den Mitgliedstaaten auf diese Rechte aus der Richtlinie berufen. Diese direkte Anwendbarkeit einer Richtlinie besteht jedoch nur gegenüber staatlichen Stellen, nicht aber gegenüber Privatpersonen.
Entscheidung von EuGH und BAG
Der EuGH hat bei Entscheidung der Vorlagefrage zunächst auf seine ständige Rechtsprechung verwiesen, wonach bezahlter Jahresurlaub ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union ist. Nationale Abweichungen seien daher nur in dem Maße zulässig, wie sie in der Richtlinie 2003/88/EG selbst zugelassen sind. Zudem stützt sich der EuGH auf Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Auch danach steht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Recht auf bezahlten Jahresurlaub zu (sowie auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten).
Nach Ansicht des EuGH kann die Wahrnehmung des Urlaubsanspruchs nicht vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert werden – mit dem Risiko, dass zugunsten des Arbeitgebers der Anspruch verfällt, wenn der Arbeitnehmer keinen entsprechenden Urlaubsantrag gestellt hat. Andererseits gehen die Mitwirkungspflichten des Arbeitgebers auch nicht soweit, dass er seine Arbeitnehmer zwingen muss, ihren Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen.
Zur Durchsetzung der Arbeitszeitrichtlinie ist der Arbeitgeber im Ergebnis verpflichtet, „konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun“. Dabei müsse der Arbeitgeber klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub, wenn der Arbeitnehmer ihn nicht nimmt, am Jahresende oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird. Die Beweislast trägt der Arbeitgeber, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen bezahlten Jahresurlaub nicht genommen hat.
Auch die Nachfrage zu einer etwaigen direkten Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie gegenüber nichtstaatlichen Dritten beantwortet der EuGH. Er bestätigt seine Rechtsprechung, nach der in einem Rechtsstreit zwischen Privaten eine (unzureichend umgesetzte) Richtlinie nicht direkt angewandt werden kann. Allerdings stelle der Anspruch auf bezahlten Urlaub nach Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta zugleich Europäisches Primärrecht dar. Auch wenn Bestimmungen des Primärrechts in erster Linie an Mitgliedstaaten gerichtet seien, sei nicht ausgeschlossen, dass diese auch für Rechtsbeziehungen zwischen Privatpersonen gelten könnten. Zudem gehe ein Recht auf bezahlten Urlaub nach der Charta zugleich mit einer Pflicht des Arbeitgebers zu einer entsprechenden Gewährung einher, richtet sich also auch direkt an Dritte. Daher schlussfolgert der EuGH, dass nötigenfalls nationale Regelungen auch zu Lasten privater Arbeitgeber unangewendet bleiben müssen, sofern sie nicht im Einklang mit Art. 31 Abs. 2 der Charta ausgelegt werden können.
Diese Vorgaben hat das BAG umgesetzt und sieht nunmehr eine Initiativlast des Arbeitgebers für die Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Nach der bislang lediglich veröffentlichten Pressemitteilung des BAG kann ein Verfall von Urlaub regelmäßig nur noch eintreten, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert hat, Urlaub zu nehmen, und klar und rechtzeitig darauf hingewiesen hat, dass der Urlaub andernfalls mit Zeitablauf erlischt. Zur Überprüfung dieser tatsächlichen Voraussetzungen hat das BAG an das Landesarbeitsgericht München zurückverwiesen.
Folgen
Künftig werden Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer deutlich vor Ablauf des Urlaubszeitraums dazu auffordern müssen, ihren Urlaub zu nehmen, und zugleich darauf hinweisen müssen, dass dieser Anspruch andernfalls mit Ablauf bestimmter Fristen erlischt. Dabei handelt es sich regelmäßig um das Urlaubsjahr, bei befristet beschäftigten Arbeitnehmern das Ende des Befristungszeitraums.
Weitere Einzelheiten zu Zeitpunkt und Umfang der Aufforderung sind derzeit unklar.
Nicht ausreichen dürfte es, einen solchen Hinweis lediglich einmalig im Arbeitsvertrag oder etwaigen Anlagen dazu „zu vergraben“. Fraglich ist, ob eine allgemeine Information an die Belegschaft (beispielsweise an einem Schwarzen Brett) ausreicht oder ob eine individuelle Nachricht erforderlich ist, gegebenenfalls auch mit Angabe der noch verbleibenden Urlaubstage. Pauschale Hinweise am Anfang eines Jahres erfüllen die Anforderungen nur dem Wortlaut nach und haben zudem ihre eigenen Risiken: Nimmt ein Arbeitnehmer zu Beginn eines Jahres umfangreich Urlaub und beendet sodann sein Arbeitsverhältnis noch in der ersten Jahreshälfte, so kann ein zu viel gewährter Urlaub nicht zurückgefordert werden, § 5 Abs. 3 BUrlG.
Weiterhin könnte ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats für das Erinnern an die Urlaubsanträge nach § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG bestehen. Schließlich stellt sich die Frage der sprachlichen Verständlichkeit: Eine transparente Information über die Folgen unterbliebener Urlaubsanträge wird nur in einer verständlichen Sprache erfolgen können, gegenüber nicht Deutsch sprechenden Arbeitnehmern daher in deren Sprache.
Der „sichere Weg“ wird darin bestehen, spätestens Ende September alle Arbeitnehmer mit individuellen Anschreiben über die noch bestehenden Urlaubsansprüche zu informieren, zum Urlaubsabbau aufzufordern und auf den Verfall der Ansprüche hinzuweisen. Um bestehende Zweifel daran auszuräumen, dass der Arbeitnehmer das Schreiben in deutscher Sprache verstehen kann, sollte es vorsichtshalber in die Muttersprache des jeweiligen Arbeitnehmers übersetzt werden. Zum Nachweis des Zugangs der Aufforderung ist eine individuelle Bestätigung des Erhalts des Schreibens durch den jeweiligen Arbeitnehmer der sicherste Weg. Praktikabel wird es dagegen sein, ein Verfahren zu installieren, das den Erhalt der Informationen nahelegt, beispielsweise eine allgemeine Information am Schwarzen Brett oder per E-Mail-Rundverteiler mit dem Hinweis auf die individuell zu übergebende Information, die beispielsweise mit der Lohnabrechnung übermittelt wird.
Den Hinweisen des EuGH auf die unmittelbare Wirkung von Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta auch direkt zwischen Privaten lässt sich schließlich entnehmen, dass es künftig auch weitere Entscheidungen zum bezahlten Jahresurlaub, zu täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten und zur Begrenzung der Höchstarbeitszeit geben wird, die das Potential zur Änderung des deutschen Arbeitsrechts haben.
alexander.chrzanowski@roedl.com