Berliner Arbeitsrichter urteilen erstmals über Anrechenbarkeit von Urlaubsgeld und Sonderzahlungen auf den Mindestlohn
Von Dr. Wolfgang Lipinski und Katharina Domni
Das Arbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat mit Urteil vom 04.03.2015 (Az. 54 Ca 14420/14) als erstes Gericht zur Thematik „Mindestlohn“ entschieden, dass Urlaubsgeld und nach Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelte jährliche Sonderzahlungen auf den Mindestlohn nicht anrechenbar sind und eine Änderungskündigung, die dies bezweckt, unzulässig ist.
Sachverhalt
Im zu entscheidenden Fall erhielt die Arbeitnehmerin neben einer Grundvergütung von 6,44 Euro je Stunde eine Leistungszulage und Schichtzuschläge. Darüber hinaus standen ihr ein zusätzliches Urlaubsgeld sowie eine nach Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelte jährliche Sonderzahlung zu. Im Hinblick auf die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns zum 01.01.2015 sprach die Arbeitgeberin eine Änderungskündigung aus, um das Arbeitsverhältnis künftig mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro bei Wegfall der Leistungszulage, des zusätzlichen Urlaubsgeldes und der Jahressonderzahlung fortzusetzen. Hiergegen legte die Arbeitnehmerin eine Änderungskündigungsschutzklage ein.
Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin-Brandenburg
Nach Ansicht der Berliner Arbeitsrichter war die Änderungskündigung unwirksam, da mit ihr eine unzulässige Anrechnung von Leistungen auf den Mindestlohn erreicht werden sollte. Die Änderungskündigung sollte lediglich bewirken, dass das Urlaubsgeld und die jährliche Sonderzahlung für die Berechnung des Mindestlohns berücksichtigt werden. Diese Leistungen würden aber nicht dem Zweck des Mindestlohns dienen, der in der unmittelbaren Vergütung der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers besteht. Die Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor.
Das Prinzip der funktionalen Gleichwertigkeit als Beurteilung der Mindestlohnfähigkeit
Mit dem Urteil hat das Arbeitsgericht Berlin-Brandenburg als erstes Gericht über die Frage der Anrechenbarkeit von jährlichen Einmal- und Sonderzahlungen auf den Mindestlohn entschieden. Das Mindestlohngesetz selbst legt nicht fest, welche Zahlungen des Arbeitsgebers auf das Grundgehalt zur Berechnung des Mindestlohns angerechnet werden können, obwohl dies vom Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Mindestlohngesetzes vom 23.05.2014 ausdrücklich gefordert wurde (BT-Drs. 18/1558, S. 61).
In der Literatur besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass – unabhängig von der Bezeichnung – grundsätzlich nur solche Vergütungen auf das Grundgehalt angerechnet werden können, die ihrer Zwecksetzung nach wie die Grundvergütung als finanzielle Gegenleistung zu der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers angesehen werden und somit der Grundvergütung funktional gleichwertig sind (vgl. ErfK ArbR/Franzen, 15. Aufl. 2015, § 1 MiLoG Rn. 11 f.; Lakies, MiLoG, 1. Aufl. 2015, § 1 Rn. 40). Dieser Grundsatz wurde auch in der Gesetzesbegründung zum Tarifautonomiestärkungsgesetz (BT-Drs. 18/1558, S. 67) hervorgehoben.
Zurück geht diese Ansicht auf die Entscheidungen des EuGH zur Entsenderichtlinie 96/71/EG vom 14.04.2005 (C-341/02 – Kommission/Deutschland) und vom 07.11.2013 (Az. C-522/12 – Isbir), wonach nur solche finanziellen Leistungen auf den Mindestlohn angerechnet werden können, die das Verhältnis zwischen der „Normalleistung“ des Arbeitnehmers und der ihm gegenüber erbrachten Gegenleistung nicht verändern.
Nach Ansicht des EuGH entfällt die Möglichkeit der Anrechnung, wenn mit der Zahlung eine besondere Leistung oder Belastung honoriert werden soll. Das BAG hat unter anderem in dem Urteil vom 16.04.2014 (Az. 4 AZR 802/11) das Prinzip der funktionalen Gleichwertigkeit bestätigt. Danach ist bei der Anrechnung darauf abzustellen, ob die finanzielle Leistung ihrem Zweck nach die „normale“ Arbeitsleistung des Arbeitnehmers entgelten soll. Der zu ermittelnde Zweck der jeweiligen Leistung des Arbeitgebers ergibt sich aus den individuellen (= Arbeitsvertrag) oder kollektiven (= Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung) Regelungen. Die Funktion des Vergütungsbestandteils muss gleichwertig mit der Vergütung der Arbeitsleistung sein.
Eine Anrechnung kommt nicht in Betracht bei nicht als Bestandteil des Mindestlohns definierten Leistungen, die der Arbeitnehmer für vom Arbeitgeber angeordnete, unter besonderen Bedingungen abgeleistete Arbeitsstunden erhält (etwa Überstundenzuschlag, Schmutz- und Gefahrenzulage). Darüber hinaus können jährlich ausbezahlte Leistungen nur dann auf den Mindestlohn angerechnet werden, wenn sie anteilig jeweils zu dem nach § 2 MiLoG maßgeblichen Fälligkeitstag tatsächlich und unwiderruflich gezahlt werden und gemäß dem Prinzip der funktionalen Gleichwertigkeit nicht an weitere Voraussetzungen wie z.B. die Betriebstreue geknüpft sind (vgl. Lakies, a.a.O., § 1 Rn. 47; Schweibert/Leßmann, DB 2014, 1866, 1869).
In Bezug auf das Urlaubsgeld verneinen einige Stimmen in der Literatur die Anrechenbarkeit auf den Mindestlohn, da das zum Urlaubsentgelt zusätzlich ausgezahlte Urlaubsgeld nicht auf die finanzielle Gegenleistung zu der Arbeitspflicht, sondern auf den Ausgleich der Zusatzkosten, die durch den Urlaub entstehen können, und auf eine verbesserte Erholungsmöglichkeit gerichtet ist (vgl. Lakies, a.a.O., § 1 Rn. 51; Schubert/Jerchel/Düwell, MiLoG, 1. Aufl. 2015, § 1 Rn. 140; Ulber, RdA 2014, 176, 181).
Mit dieser Entscheidung scheint sich – vorerst – eine erste „gerichtliche Tendenz“ abzuzeichnen. Danach sind weder das Urlaubsgeld noch die nach Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelte jährliche Sonderzahlung als unmittelbare finanzielle Gegenleistung zur Arbeitsleistung anzusehen und unterliegen nicht dem Prinzip der funktionalen Gleichwertigkeit.
Handlungsbedarf für Unternehmen: Anpassung der Arbeitsverträge und Betriebsvereinbarungen
Da die Berufung zum LAG zugelassen wurde, bleibt abzuwarten, ob die beklagte Arbeitgeberin das Rechtsmittel einlegt und sich die Rechtsansicht in der nächsten Instanz bestätigt.
Sollte sich die Auffassung der Berliner Arbeitsrichter durchsetzen, besteht für Unternehmen, deren Arbeitnehmer neben dem regulären monatlichen Fixgehalt weitere Vergütungsbestandteile erhalten, gegebenenfalls Handlungsbedarf. In einem ersten Schritt ist zu analysieren, welche finanziellen Leistungen der Arbeitnehmer aufgrund welcher Anspruchsgrundlage – also etwa Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag – erhält. Anschließend sind die gezahlten Leistungen dahingehend zu überprüfen, inwieweit sie nach dem Prinzip der funktionalen Gleichwertigkeit auf den Mindestlohn angerechnet werden können. Ergibt sich danach, dass die anrechenbaren Leistungen nicht genügen, um eine Vergütung in Höhe von 8,50 Euro pro Zeitstunde zu gewährleisten, müssen die zugrundeliegenden Vereinbarungen überarbeitet werden.
Bestehende Betriebsvereinbarungen sollten nach Möglichkeit mit dem Betriebsrat neu verhandelt und möglichst so gestaltet werden, dass die in der Betriebsvereinbarung enthaltenen finanziellen Volumina zukünftig auf den Mindestlohn angerechnet werden können. Eine Anpassung der bestehenden Arbeitsverträge in dem Sinne, die der Grundvergütung funktional gleichwertigen Einmalzahlungen zukünftig monatlich auszuzahlen oder zu streichen und im Gegenzug die Grundvergütung anzuheben, ist regelmäßig nur mit Einverständnis des Arbeitnehmers durch Vertragsänderung zu erreichen. Die Anpassung des Arbeitsvertrags im Wege einer Änderungskündigung durchzusetzen bringt – wie im Urteil des Arbeitsgerichts Berlin-Brandenburg gesehen, das sich hierbei letztlich im Einklang mit der sehr strengen BAG-Rechtsprechung bei der Änderungskündigung zur Entgeltabsenkung befindet – keinen Erfolg. Im Hinblick auf neu abzuschließende Arbeitsverträge ist eine Umstellung der Vergütungszahlung im Sinne der „Anrechnungsvorgaben“ der Rechtsprechung aber unproblematisch, solange und soweit diesbezügliche Regelungen nicht vorrangig in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen gelten.