BAG: Keine Folgepflicht des Arbeitnehmers bei unbilliger Weisung durch den Arbeitgeber
Von Dr. Christian Bloth
Ausgangslage
Arbeitnehmer ist nach § 611a Abs. 1 Satz 1 BGB, wer im „Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet“ ist. Und weiter: „Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen.“ Kernpunkt des Arbeitsverhältnisses ist es, dass der Arbeitgeber die Arbeitsaufgaben des Arbeitnehmers durch Weisungen konkretisiert, und zwar in dem Rahmen, den Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung und Tarifvertrag abstecken. Ohne Weisung ist das Arbeitsverhältnis nicht „lebbar“. Die Mehrheit der Weisungen wird sich im Rahmen des „normalen Arbeitsablaufs“ halten, aber einige können einschneidende Wirkung haben, ja geradezu das Leben des Weisungsgebundenen verändern. Dies gilt insbesondere, wenn der Arbeitsvertrag keine Regelung zur Verteilung der Arbeitszeit oder zum Ort der Arbeit enthält. Ist ein Arbeitsort nicht vereinbart, so kann der Arbeitnehmer angewiesen werden, zumindest theoretisch, seine Arbeit weit entfernt von seinem Heimatort auszuüben – und dies ohne Beachtung einer für eine Änderungskündigung erforderlichen Frist.
Ist der Arbeitnehmer verpflichtet, einer solchen Weisung in jedem Fall Folge zu leisten? Wo hat die Weisung Grenzen? § 106 Satz 1 GewO lässt sich entnehmen, dass der Arbeitgeber Weisungen nur im Rahmen des „billigen Ermessens“ erteilen kann. Wie verhält sich der Arbeitnehmer, wenn er die Weisung für „unbillig“ hält? Ist er an sie gebunden, bis zum Beispiel das Arbeitsgericht die Unbilligkeit nach langem Prozess festgestellt hat? Dafür könnte § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB sprechen. Danach gilt, dass dann, wenn eine Leistungsbestimmung nicht nach billigem Ermessen erfolgt ist, diese durch Urteil zu treffen ist. Dies belastet den Arbeitnehmer nachhaltig, ist er doch dem Risiko der Abmahnung und Kündigung ausgesetzt, sollte er eine an sich unbillige Weisung nicht beachten. In unserem Beispiel: Er muss so lange an einem zugewiesenen Ort arbeiten, bis eine gerichtliche Klärung erreicht ist. Oder er kündigt von sich aus und tut damit eventuell genau das, was der Arbeitgeber mit der Weisung bezweckt: den Arbeitnehmer zur Aufgabe zu bewegen.
Dies hat in der Literatur dazu geführt, die Weisung als „Spielwiese des trennungswilligen Arbeitgebers“ zu bezeichnen. Zu dieser Problematik hat sich der 10. Senat des BAG in einem Beschluss vom 14.06.2017, AZ 10 AZR 330/16, grundsätzlich geäußert. Er hat an den 5. Senat die Frage gerichtet, ob er an seiner im Urteil vom 22.02.2012, 5 AZR 249/11 geäußerten Auffassung festhalten wolle, dass eine solche Weisung bis zur gerichtlichen Feststellung der Unverbindlichkeit für den Arbeitnehmer zu befolgen sei. Der 10. Senat vertrat eine andere Auffassung. In seinem Beschluss vom 14.09.2017, 5 AS 7/17, ließ der 5. Senat nunmehr verlautbaren, dass er an seiner Rechtsauffassung nicht mehr festhalte. Was bedeutet das?
Worum ging es?
Der Arbeitsvertrag enthielt eine Bestimmung, wonach der Arbeitgeber berechtigt war, dem Arbeitnehmer auch eine andere Tätigkeit, auch unter Veränderung des Arbeitsorts, zu übertragen. Der Arbeitnehmer war am Standort Dortmund eingesetzt, wo es zum einen mit dem Arbeitgeber, zum anderen mit den Kollegen zu nachhaltigen Störungen der Zusammenarbeit kam. Die Kollegen lehnten eine weitere Zusammenarbeit ab, so dass der Arbeitgeber den Kläger mit dreiwöchiger Vorlaufzeit „für zunächst“ sechs Monate an den Standort Berlin versetzte. Der Arbeitnehmer hielt dies für „unbillig“, nahm seine Tätigkeit in Berlin nicht auf, woraufhin er zweimal abgemahnt wurde und ihm sodann die Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausgesprochen wurde. Der Kläger war der Auffassung, er habe dieser aus seiner Sicht unbilligen Weisung nicht folgen müssen, wohingegen die beklagte Arbeitgeberin unter anderem darauf hinwies, dass selbst wenn die Weisung unbillig gewesen sei, diese bis zur gerichtlichen Klärung hätte befolgt werden müssen.
Die Entscheidung
In seinem Urteil aus dem Jahre 2012 hatte der 5. Senat des BAG noch ausdrücklich festgestellt, dass – unter Verweis auf § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB – über eine „unbillige Leistungsbestimmung“ das Arbeitsgericht entscheide, weswegen der Arbeitnehmer sich über sie nicht hinwegsetzen dürfe, sondern die Gerichte anrufen müsse. Dies sei aus einer das Arbeitsverhältnis prägenden Weisungsgebundenheit herzuleiten. Es wird also dem Kläger die Belastung zugewiesen, die gerichtliche Klärung herbeizuführen. Bis zur Klärung muss der Arbeitnehmer danach der Weisung folgen und – wie hier – zum Beispiel in Berlin arbeiten. Sollte sich die Weisung in der gerichtlichen Klärung als unbillig erweisen, ist dies für den Arbeitgeber folgenlos. Eine gerichtliche Klärung mag nach Ablauf des Zeitraums von sechs Monaten noch nicht ergangen sein. Der Arbeitgeber hätte sanktionslos erhalten, was er haben wollte.
Dieses Urteil war beachtlicher Kritik ausgesetzt, die nun beim 10. Senat Gehör fand. Dieser legte seine abweichende Ansicht in einem ausführlichen Beschluss dar. Er begründete seine Auffassung mit verschiedenen rechtssystematischen Aspekten, aber auch aus Erwägungen zum Charakter des Arbeitsverhältnisses selbst.
§ 106 GewO selbst enthalte keinen Hinweis auf eine Rechtsfolge, wenn eine Weisung „unbillig“ sei. Weisungen könnten jedoch nur Bindung entfalten, wenn sie „billig“ seien. Ihre Unbilligkeit führe – dies sei die Rechtsfolge – zur Unverbindlichkeit. § 315 Abs. 3 Satz 2 BGB passe als Rechtsfolge nicht in diesen Kontext, insbesondere weil hier geregelt sei, dass eine „Ersatzleistungsbestimmung“ durch das Gericht erfolge. Eine solche Bestimmung der Leistung des Arbeitnehmers könne aber ein Gericht nicht vornehmen, da es damit in die Organisationshoheit des Arbeitgebers eingreife.
Weiterhin verweist der 10. Senat auf die gesetzgeberischen Materialien zu § 106 GewO, wonach die Ausübung von Weisungen eher im „partnerschaftlichen Miteinander“ als im „Über- oder Unterordnungsverhältnis“ erfolgen solle. Ein solches Verständnis vertrage keine sanktionsbewehrte Bindungswirkung an unbillige Weisungen, gleichsam wie bei einem vorläufig vollziehbaren Verwaltungsakt.
Das Nichtbefolgen einer aus Sicht des Arbeitnehmers unbilligen Weisung, so der 10. Senat, sei für diesen auch nicht risikolos, da, wenn sie sich als verbindlich erweise, der Arbeitgeber daran Sanktionen knüpfen könne. So habe der Arbeitnehmer bei Nichtausübung der ange-wiesenen Tätigkeit keinen Anspruch auf Vergütung. Wird hingegen festgestellt, dass die Weisung unbillig war – und hat somit der Arbeitnehmer die Weisung zu Recht nicht befolgt –, ist eine eventuelle Sanktion hinfällig bzw. der Arbeitnehmer hat einen Vergütungsanspruch, ohne zur Nachholung verpflichtet zu sein. Letzteres unterscheidet sich im Ergebnis von der Auffassung, wonach der Arbeitnehmer auch an die unbillige Weisung gebunden ist – er leistet, ohne dazu verpflichtet zu sein, der Arbeitgeber erhält eine Leistung ohne Risiko, zu der er so nicht berechtigt ist. Ein Vergütungsrisiko trägt er nicht.
Der Senat kam somit zu dem Schluss, dass der Arbeitnehmer unbilligen Weisungen nicht vorläufig folgen müsse und somit der Arbeitgeber alleine aufgrund des Umstandes der Nichtbefolgung keine Sanktionen herleiten könne. Nur „billige“ Weisungen entfalten Bindungswirkung gegenüber dem Arbeitnehmer und können bei Nichtbefolgen Sanktionen auslösen. Nachdem sich der angerufene 5. Senat nunmehr der Auffassung des 10. Senats angeschlossen hat, ist die in der Literatur so bezeichnete „Spielwiese für trennungswillige Arbeitgeber“ geschlossen. Dabei darf allerdings nicht verkannt werden, wie es der 10. Senat auch sagt, dass das Risiko dem Arbeitnehmer nicht genommen ist, sich entscheiden zu müssen, ob er einer Weisung folgt oder nicht. Aber: Auch der Arbeitgeber trägt nun ein Risiko, wenn er unbillige Weisungen erteilt, insbesondere ein Vergütungsrisiko.
christian.bloth@kallan-legal.de