Das Geschäft mit der Wahrheit ist komplizierter, als man meint: die Webfehler der Strafprozessordnung
Von Dr. Eren Basar

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Worum es geht

Das mediale Interesse an gerichtlichen Strafverfahren ist ungebrochen. Kaum ein Tag, an dem in der (Lokal-)Presse nicht über ein spektakuläres Verfahren berichtet wird. Die Öffentlichkeit verfolgt die Verhandlungen oft mit gebanntem Blick. Dahinter steht die weitverbreitete Erwartung, dass die Hauptverhandlung die Wahrheit ans Licht bringt und damit geklärt wird, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht. Das Geschäft mit der Wahrheit ist allerdings komplizierter, als man meint: Einige jüngere Entscheidungen haben offengelegt, dass selbst bei Anwendung der verfahrenssichernden Vorschriften in der StPO Fehlurteile entstehen können. Über Ursachen und Defizite des deutschen Strafverfahrens streitet die Fachwelt seit jeher. Für den einer Straftat verdächtigen Bürger bleibt die Hauptverhandlung eine gefährliche Veranstaltung.

Die Luft knistert. Die Staatsanwaltschaft hat gerade den letzten Zeugen präsentiert. Das Verfahren, und damit die Freiheit des Angeklagten, steht auf Messers Schneide. Man sieht den Verteidiger ein letztes Mal Luft holen, bevor er sich zu seinem Plädoyer erhebt. Das flammende Plädoyer sorgt für emotionalen Aufruhr, es tost Applaus und das Gericht ist überzeugt. Freispruch und natürlich Blitzlichtgewitter.

So oder so ähnlich stellen sich viele Bürger die Hauptverhandlung im Strafrecht vor. Es bedarf keiner Ausführungen, dass dieses Bild natürlich durch die Welt des Films und Fernsehens geprägt ist und mit der Realität nicht viel zu tun hat. Das deutsche Strafprozessrecht unterscheidet sich in vielen Punkten von dem im Fernsehen oft gezeichneten angloamerikanischen Bild. Das liegt nicht nur daran, dass in Deutschland keine Jury vorhanden ist. Sowohl Beschuldigte oder Angeklagte im Strafprozess als auch Rechtsanwälte, die keine Berührung mit dem Strafverfahrensrecht haben, machen sich meist ein völlig anderes Bild von der Rechtswirklichkeit der strafrechtlichen Hauptverhandlung als diejenigen, die damit täglich zu tun haben. Dies gilt besonders für Unternehmer, Unternehmen und Unternehmensanwälte. Nicht selten ist man als spezialisierter Rechtsanwalt mit der Situation konfrontiert, dass sowohl Mandanten als auch deren bisherige Verteidiger nach einigen Prozesstagen die Hilfe des Spezialisten suchen. Sätze wie „der Richter hört unseren Argumenten überhaupt nicht zu“, die „Zeugenaussagen werden selektiv gewürdigt“, „Schriftsätze werden nicht zur Kenntnis genommen“ und „Beweisanträge werden nicht beschieden“ sind keine Seltenheit. Unternehmer, die gewohnt sind zu entscheiden, sehen sich mit einem Gericht konfrontiert, das nicht aus der Welt der Wirtschaft kommt, sondern aus der Welt der Paragraphen und der Kriminalfälle. Diese Welt formt eine andere Sicht auf das Leben.

Hauptverhandlung im Strafrecht: über den größtmöglichen Irrtum

Der größte Irrtum, dem viele Nichtspezialisten erliegen, besteht in der Annahme, dass das nach Gerechtigkeit strebende Gericht – anders als die Staatsanwaltschaft – völlig ohne Ausgangshypothese in die Hauptverhandlung geht und sich seine Meinung (so wie im Zivilrecht) nach dem Für und Wider aller vorgetragenen Argumente bilden wird. Die Genetik der StPO fördert dies nicht. Die Unschuldsvermutung, die gerne bemüht wird, ist ein verfassungsrechtliches Postulat, das in der Psychologie der deutschen Hauptverhandlung kein Korrelat enthält. Dies soll keine „Richterschelte“ sein. Es ist die StPO, die einen Webfehler enthält, der die gedankliche Voreingenommenheit des in der Sache entscheidenden Gerichts gegen den Angeklagten einfordert. Jede Anklage muss, bevor über sie verhandelt werden kann, durch das Gericht zugelassen werden. Die Staatsanwaltschaft sendet hierzu die Anklage samt Akten und Beweismitteln an das Gericht und beantragt die Eröffnung des Hauptverfahrens. Das Gericht studiert die Akten und muss darüber entscheiden, ob es angesichts der Aktenlage die Verurteilung für wahrscheinlich hält. Wenn das Gericht die Anklage zulässt, hat es sich somit – vom Gesetz vorgesehen – bereits eine Meinung gebildet. Es versteht sich von selbst, dass sich im Kopf des Richters ein erstes

(Tat-)Bild formt, das es nicht mehr so ohne weiteres abstreifen wird. Vor einem solchen Effekt ist im Übrigen niemand gefeit. Auch junge Verteidiger, die von den Gerichten zum ersten Mal zu Pflichtverteidigern bestellt werden und mit der Bestellung als Erstes die Akte zum Studium erhalten (noch bevor sie den Mandanten sprechen), berichten davon, dass der Blick in die Akte oftmals ein einseitiges Bild erzeugt und es nicht immer einfach ist, sich davon wieder zu lösen. Die Akte enthält in der Regel das Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen und ist naturgemäß – dies gehört zur Berufssicht der Polizei – getragen von kriminalistischem Misstrauen. Der Verteidiger hat qua Aufgabe eine diametral entgegengesetzte Sicht. Durch das Studium der Akte und der Zulassung der Anklage wird das Gericht (bewusst oder unbewusst) notwendigerweise von der polizeilichen Sicht eingenommen. Dieser Webfehler des deutschen Strafprozessrechts setzt sich in der Verhandlungsleitung fort, das geht bis hin zur Befragung der Zeugen durch den Richter. Wenn die Verteidigung ihr Fragerecht (regelmäßig als Letzte!) erhält, ist die Meinungsbildung beim Richter vielleicht schon abgeschlossen.

Psychologische Spezialkenntnisse

Schon in den 80er und 90er Jahren hat einer der renommiertesten Hochschullehrer auf dem Gebiet des Prozessrechts diesen Webfehler offengelegt und in einem Experiment aufgezeigt, dass durch das Aktenstudium erzeugte Voreingenommenheit dazu führt, dass Richter häufiger verurteilen als Richter, die über keine Aktenkenntnis verfügen. Die Kritik ist seit jeher Teil der Strafrechtswissenschaften. In der öffentlichen und veröffentlichten Meinung blitzt sie nur (kurz) in „Skandal“-Verfahren“ auf. Außerhalb dieser Prozesse hat die Kritik leider kaum Widerhall gefunden.

Jüngst hat der 39. Strafverteidigertag in Lübeck jedoch Reformen gefordert. Ideen zur Lösung des Problems gibt es viele. Sie reichen von der Abschaffung des Zwischenverfahrens bis hin zur Ersetzung des Richters, der über die Zulassung der Anklage entscheiden muss, durch einen nicht mit dem Verfahren befassten Richter. Ein anderer Vorschlag geht dahin, dass die Anklagezulassung nur eine formelle Prüfung beinhalten soll, ohne dass der Richter die Akte liest. Eine Reform wäre sicherlich zu begrüßen. Sie würde für mehr Akzeptanz bei den Betroffenen sorgen und würde rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen. Hierauf verlassen kann sich der Spezialist aber nicht. Anträge zur Verfahrensgestaltung, Einlassungen des Mandanten, Prozessrügen, Beweisanträge, Erklärungen und Widersprüche zu Beweiserhebungen können nur dann Effektivität entfalten, wenn die Genetik der StPO und die Psychologie der Hauptverhandlung beherrscht werden. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man mit einem Strafverfahren in Berührung kommt und die richtigen Schlüsse ziehen:

Die (moderne) Verteidigung beginnt deswegen nicht mehr am ersten Prozesstag, sondern weit davor. Idealerweise beginnt sie schon vor Einleitung eines Ermittlungsverfahrens, spätestens aber dann. Seine Argumente im Ermittlungsverfahren zurückzuhalten und für den Richter „aufzuheben“ ist keine Option. Dies kann – neuerdings auch in Wirtschaftsstrafverfahren – die Freiheit des Mandanten kosten.

basar@strafrecht.de

 

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