Schadenersatzansprüche gegen Kartellanten nun auch bei ausschließlicher Belieferung durch am Kartell unbeteiligte Unternehmen
Von Dr. Anni Kollmann und Dr. Christian Aufdermauer
Am 05.06.2014 hat der EuGH das mit Spannung erwartete Urteil (C-557/12) zur Frage der Haftung von Kartellanten für außerhalb des Kartellbereichs bzw. im sogenannten „Kartellschatten“ liegende Sachverhalte gefällt und damit die Möglichkeiten und Grenzen zivilrechtlicher Haftung für kartellrechtswidriges Verhalten aufgezeigt.
Werden von Kartellaußenseitern im Umfeld kartellrechtswidrig überhöhter Preise höhere Preise verlangt, als sie von den Kartellaußenseitern ohne Kartell verlangt worden wären, können die betroffenen Abnehmer der Kartellaußenseiter von den Kartellanten Ersatz des ihnen dadurch entstandenen Schadens verlangen, auch wenn sie keine unmittelbare oder mittelbare vertragliche Beziehung zu den Kartellanten haben.
Verfahrensgang
Die Kommission verhängte 2007 gegen die Teilnehmer des sogenannten „Aufzug- und Fahrtreppen-Kartells“ Otis, Kone, Schindler und ThyssenKrupp Bußgelder in Höhe von 992 Millionen Euro wegen wettbewerbswidriger Absprachen in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Auch die österreichische Wettbewerbsbehörde verhängte unter anderem gegen Kone, Schindler und Otis Bußgelder wegen wettbewerbswidriger Absprachen auf dem österreichischen Markt für Aufzüge und Fahrtreppen.
Die ÖBB-Infrastruktur AG, eine Tochtergesellschaft der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), fühlte sich durch das Kartell geschädigt. Zwar hatte sie die Produkte aus dem Aufzugs- bzw. Fahrtreppenbereich nicht unmittelbar oder mittelbar von den am Kartell Beteiligten, sondern von anderen Unternehmen erworben. Allerdings hätten diese im Windschatten (bzw. unter dem Preisschirm) des Kartells höhere Preise ansetzen können, als dies ohne das Kartell der Fall gewesen wäre. Eine Schadenersatzklage gegen die Kartellbeteiligten, die unter anderem in Höhe von rund 1,84 Millionen Euro auf Preisschirmeffekte gestützt war, wurde in erster Instanz abgewiesen. In zweiter Instanz wurde der Klage stattgegeben.
Der danach mit dem Fall befasste österreichische Oberste Gerichtshof wandte sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH. Nach der österreichischen Rechtsprechung könne Schadenersatz wegen außervertraglicher Haftung nur bei Nachweis eines adäquaten Kausalzusammenhangs und Verstoßes gegen den Schutzzweck einer Norm verlangt werden. Nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs würden aber Schäden durch Preisschirmeffekte weder adäquat kausal durch das Kartell begründet, noch seien sie von dem Schutzzweck des Kartellverbots erfasst und könnten daher nicht gegen Kartellanten geltend gemacht werden.
Im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens stellte der Oberste Gerichtshof deshalb die Frage, ob das Kartellverbot des Art. 101 AEUV dahingehend auszulegen sei, dass jedermann von Kartellanten den Ersatz auch des Schadens verlangen könne, der entstehe, wenn ein Kartellaußenseiter seine Preise im Windschatten des Kartells mehr anhebe, als er dies ohne das Kartell getan hätte, so dass nach dem Effektivitätsgrundsatz ein Schadenersatzanspruch nach nationalem Recht zuzusprechen sei.
In ihren Schlussanträgen wurde dies von der Generalanwältin Kokott befürwortet. Insbesondere sei die Kausalität des Kartells für Schäden aus Preisschirmeffekten einheitlich aus Art. 101 AEUV zu beantworten (dazu: Schnelle/Soyez, Deutscher AnwaltSpiegel, Ausgabe 04, S. 12).
Die Entscheidung des EuGH
Der EuGH beruft sich auf seine „Jedermann“-Rechtsprechung (Manfredi u.a., Courage und Crehan sowie Donau Chemie u.a.) und stellt fest, dass die praktische Wirksamkeit des Art. 101 AEUV beeinträchtigt wäre, wenn nicht „jeder“ Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen könne, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist. Daher könne jedermann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen, wenn zwischen dem Schaden und einem nach Art. 101 AEUV verbotenen Kartell oder Verhalten ein ursächlicher Zusammenhang bestehe.
Anders als von der Generalanwältin Kokott befürwortet, sieht der EuGH jedoch die Frage der Kausalität in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung als Teil der Regelungen über die Ausübung des Rechts auf Schadenersatz im nationalen Recht verortet. Allerdings dürfe die Auslegung des nationalen Kausalitätsbegriffs nicht den unionsrechtlichen Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz verletzen. Bezogen auf den Effektivitätsgrundsatz, dürfe das nationale Recht die Ausübung der durch Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
In Bezug auf Schäden aus Preisschirmeffekten stellt der EuGH fest, dass der Marktpreis einer der wichtigsten Gesichtspunkte für Unternehmen bei ihrer eigenen Preiskalkulation sei. Wenn ein Kartell den Marktpreis künstlich hochhielte, sei nicht ausgeschlossen, dass sich Kartellaußenseiter entschlössen, ihren Preis mehr anzuheben, als sie dies ohne Kartell getan hätten. Auch wenn die Preiskalkulation eine autonome Entscheidung des Kartellaußenseiters sei, treffe er sie unter Bezugnahme auf den wettbewerbswidrig verfälschten Marktpreis. Dann gehörten Schäden aus Preisschirmeffekten aber zu möglichen Folgen des Kartells, die den Kartellbeteiligten nicht verborgen bleiben könnten.
Im Rahmen der Vorlageentscheidung wurde vorgebracht, dass eine Haftung für Schäden aus Preisschirmeffekten die Bereitschaft der betroffenen Unternehmen zur Teilnahme an der Kronzeugenregelung vermindern könnte, was gleichermaßen dem Effektivitätsgrundsatz widerspreche. Dieser Argumentation trat der EuGH mit dem Hinweis entgegen, dass die Kronzeugenregelung allein ein Instrument der Kommission ohne Gesetzeskraft sei und dem Einzelnen nicht das Recht nehmen könne, vor den nationalen Gerichten Schadenersatz zu verlangen.
Ein durch Preisschirmeffekte Geschädigter kann nach dem Urteil des EuGH dann Schadenersatz verlangen, wenn erwiesen ist, dass das Kartell nach den Umständen des konkreten Falls und insbesondere den Besonderheiten des betreffenden Markts ein „Umbrella Pricing“ durch eigenständig handelnde Dritte zur Folge haben konnte und wenn diese Umstände und Besonderheiten den Kartellbeteiligten nicht verborgen bleiben konnten. Der EuGH beantwortet die Vorlagefrage dahingehend, dass Art. 101 AEUV verletzt ist, wenn die Geltendmachung von Schäden aus Preisschirmeffekten aus Rechtsgründen (Adäquanz, Schutzzweck des Kartellverbots) kategorisch ausgeschlossen ist.
Anmerkung
Die Entscheidung des EuGH stellt eine (weitere) Etappe zur Handhabung des Preisschirmeffekts bei der Geltendmachung von Kartellschadenersatz dar. Der EuGH hat die grundsätzliche Möglichkeit eröffnet, Schäden aus Preisschirmeffekten einzuklagen. Ein praktischer Hinweis, unter welchen konkreten Voraussetzungen Schäden aus Preisschirmeffekten zugesprochen werden können, ist nunmehr von der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in dieser Sache zu erwarten, die auch für die deutsche Praxis von gesteigerter Relevanz sein könnte.
Wie im österreichischen Recht ist auch die deliktische Haftung im deutschen Recht durch das Erfordernis eines adäquat-kausalen Schadens und der Verletzung des Schutzzwecks der Norm beschränkt. Die Verhinderung von Preisschirmeffekten kann nach der Entscheidung des EuGH nicht mehr per se vom Schutzzweck des Art. 101 AEUV ausgenommen werden. Ferner kann nicht mehr kategorisch ausgeschlossen werden, dass Schäden aus Preisschirmeffekten adäquat-kausal auf ein Kartell zurückzuführen sind. Dass umgekehrt Schäden aus Preisschirmeffekten immer adäquat-kausal auf das Kartell zurückzuführen sind, hat der EuGH dagegen gerade nicht entschieden. Vielmehr muss im Einzelfall nachgewiesen werden, dass das Kartell Preisschirmeffekte zur Folge haben konnte und dass diese Umstände den Kartellbeteiligten nicht verborgen bleiben konnten – eine Hürde, die es je nach Beschaffenheit des Produkts und den Besonderheiten des Markts, beispielsweise bei Abhängigkeit der kartellbefangenen Produkte von stark volatilen Rohstoffpreisen, erst einmal zu überwinden gilt.
Zukünftig könnte die Frage der Beweislast auch durch die EU-Richtlinie für Kartellschadenersatz beeinflusst werden. Diese von der Europäischen Kommission erarbeitete Richtlinie zur Vereinheitlichung der privaten Durchsetzung von Kartellschadenersatz sieht Vermutungsregeln für das Entstehen von Kartellschäden vor. Inwiefern dies auch Kartellschäden wegen Preisschirmeffekten betrifft, bleibt abzuwarten. Für die Kausalität trägt nach deutschem Recht grundsätzlich der Kartellgeschädigte die Beweislast, was den durch Preisschirmeffekte Geschädigten derzeit vor veritable Beweisschwierigkeiten stellt.
Jedenfalls könnte die gleichermaßen in der Vorlagefrage diskutierte Problematik, dass die Bereitschaft für Kronzeugenanträge aufgrund der künftig gesteigerten Haftung für Preisschirmeffekte zurückgehen dürfte, mit Umsetzung der Richtlinie entschärft werden. Die Europäische Kommission hat die Problematik der gestiegenen Gefahr drohender Schadenersatzklagen in Bezug auf die Bereitschaft von Kartellanten, Kronzeugenanträge zu stellen, bereits erkannt und die Möglichkeit der unmittelbaren Inanspruchnahme von Kronzeugen durch Geschädigte grundsätzlich auf die eigenen unmittelbaren und mittelbaren Kunden oder Fälle, in denen von den Mitkartellanten keine vollständige Befriedigung erlangt werden kann, beschränkt.
Nationale Gerichte werden künftig ihre Urteile an der Rechtsprechung des EuGH zu „Umbrella Pricing“ auszurichten haben. Die zuständigen Gerichte trifft die Aufgabe, den Nachweis der Kausalität eines begangenen Kartellrechtsverstoßes für etwaiges „Umbrella Pricing“ im Einzelfall zu prüfen, nachdem der EuGH einem kategorischen Ausschluss der Kausalität eines Kartellverstoßes für „Umbrella Pricing“ unter rechtlichen Gesichtspunkten eine Absage erteilt hat.
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