Wessen Rechtsstreit ist es eigentlich – oder gilt die Dispositionsmaxime nicht im Urkundenprozess?

Von Alexander Druckenbrodt

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Die Dispositionsmaxime im Zivilprozess bezeichnet die Befugnis der Parteien, über Inhalt und Gang des Verfahrens im Ganzen zu verfügen, und ist als Grundprinzip letztlich die Übertragung der im materiellen Recht geltenden Privatautonomie auf den Zivilprozess. Die Parteien können sogar Vereinbarungen über die Bewertung präjudizieller Rechtsverhältnisse für das Gericht bindend treffen, solange sie mit dem deutschen Ordre public in Einklang stehen. Einschränkungen betreffen Nebenentscheidungen des Gerichts, insbesondere Kostenentscheidungen gem. § 308 Abs. 2 ZPO sowie Entscheidungen über die Vollstreckbarkeit von Urteilen gem. §§ 708, 709, 721 und 938 ZPO sowie die richterliche Hinweis- und Aufklärungspflicht gem. § 139 Abs. 1 ZPO.

In jüngerer Zeit sind nun zwei obergerichtliche Entscheidungen zur Statthaftigkeit eines Rechtsstreits im Urkundenprozess ergangen, die die Frage aufwerfen, ob über die vorstehend genannten Einschränkungen hinaus die Dispositionsmaxime auch im Urkundenprozess eingeschränkt ist. Beide Entscheidungen gehen davon aus, dass ein Verfahren im Urkundenprozess nur dann statthaft ist, wenn sämtliche anspruchsbegründenden Tatsachen tatsächlich durch Urkundenbeweis unterlegt sind, selbst wenn diese zwischen den Parteien unstreitig sind.

Die neuere obergerichtliche Rechtsprechung
Den ersten Schritt in diese Richtung machte das OLG München mit einem Urteil vom 21.09.2011, in dem es auf die als solche ausdrücklich dargestellte Mindermeinung von Greger im Kommentar von Zöller zu § 597 ZPO abstellte, ohne dies in irgendeiner Form zu thematisieren.

Dagegen stellte sich das OLG Schleswig in seinem Urteil vom 31.08.2013 dem vor allem in den späten 60er und frühen 70er Jahren ausgetragenen Meinungsstreit und schloss sich der Mindermeinung an, wonach sämtliche Anspruchsvoraussetzungen durch Urkunden unterlegt sein müssen. Dabei argumentiert das OLG Schleswig insbesondere mit dem angeblichen Zweck des Urkundenprozesses, nämlich denjenigen Kläger zu privilegieren, der seinen Anspruch mit Urkunden als besonders sicherem Beweismittel beweisen könne. Darüber hinaus seien Urkunden in der Regel mit dem Willen des Schuldners selbst errichtet. Einschränkungen werden nur dort vorgenommen, wenn durch eine Urkunde lediglich ein an sich möglicher Zeugen- oder Sachverständigenbeweis ersetzt werden soll.

Demgegenüber sei es nicht Zweck des Urkundenprozesses, den Kläger zu privilegieren, falls der Beklagte die Anspruchsvoraussetzungen nicht bestreite, sondern andere Einwendungen gegen den Anspruch geltend mache, da es ansonsten eines Bezugs auf Urkunden nicht bedurft hätte und der Gesetzgeber zudem für solche Konstellationen andere prozessuale Möglichkeiten – etwa § 302 Abs. 1 ZPO oder § 305 ZPO – vorgesehen hätte.

Das OLG Schleswig bemängelt dann die Inkonsequenz in der Linie der höchstrichterlichen Auffassung, wonach für den Urkundenprozess zumindest eine sich auf die Klageforderung beziehende Urkunde begriffsnotwendig sei und die Berücksichtigung unstreitiger Tatsachen nur die Möglichkeit geben solle, Lücken zu füllen. Dies führe zu Abgrenzungsschwierigkeiten in der Frage, wann eine bloße Lücke in der Beweisführung zu sehen sei; objektivierbare Kriterien für eine Entscheidung dieser Fragen seien nicht erkennbar.

Rezeption der Entscheidungen
Die Entscheidung des OLG Schleswig hat in der zivilprozessualen Literatur durchaus Beachtung gefunden, wobei die Bewertungen unterschiedlich ausfallen.

So stimmen die Autoren Leidig/Jöbges (NJW 2014, 892–895) der Entscheidung des OLG Schleswig zu und stützen sich in ihrer Argumentation vor allem auf den klassischen Auslegungskanon. Dabei nehmen die Autoren zunächst eine Auslegung von § 592 Abs. 1 Satz 1 ZPO anhand des Wortlauts, genauer gesagt, einzig hinsichtlich der Wendung „die sämtlichen […] Tatsachen“, vor und kommen zu dem für sich genommen nicht zu beanstandenden Ergebnis, dass das Wort „sämtlich“ für „ausnahmslos bzw. durchweg“ stehe.

Weiter ergebe die historische Auslegung, dass die Beifügung von Urkunden zur Klageschrift vorgesehen war und die Existenz dieser Urkunden als Bedingung des klägerischen Prozessrechts bezeichnet wurde.

Auch nach systematischer Auslegung, insbesondere im Zusammenspiel von §§ 592, 597 Abs. 2 ZPO, ergebe sich kein Verweis auf die allgemeinen Beweisregeln der ZPO, vielmehr bilde § 597 Abs. 2 ZPO eine spezielle Ausnahme von der Geständnisfiktion des § 331 Abs. 1 ZPO.

Im Rahmen der teleologischen Auslegung wird dann postuliert, dass der Urkundenprozess den Kläger privilegiere, da Urkunden im Allgemeinen ein besonderer Beweiswert zukomme.

Dagegen beklagt der Autor Dötsch (NZBau 2013, 767/768), dass eine Streitfrage aufgewärmt werde, deren höchstrichterliche Klärung sich bereits zum 130. Mal gejährt habe. Dabei hätten sich weder das Reichsgericht noch der BGH leichtfertig der im Schrifttum geäußerten abweichenden Auffassung verschlossen. Gerade der BGH habe es sich nicht leichtgemacht, sondern sich eingehend mit der geäußerten Gegenauffassung auseinandergesetzt. Zwar bringe der unklare Begriff der „Lückenfüllung“ Abgrenzungsprobleme mit sich; dem allerdings mit der Forderung nach einer lückenlosen Urkundenbeweiskette zu begegnen, sei äußerst formal und daher schon aus diesem Grund nicht überzeugend. Darüber hinaus biete die Ausnahmevorschrift des § 597 Abs. 2 ZPO für den Fall, dass der Kläger nicht alle Tatsachen urkundlich zu belegen vermag, dem Beklagten die Möglichkeit, durch Fernbleiben den Kläger zur Abstandnahme vom Urkundenprozess zu zwingen, wenn er bestimmte anspruchsbegründende Tatsachen nicht im Rahmen der prozessualen Wahrheitspflicht bestreiten könne.

Der Dispositionsmaxime eine Gasse
Die Auffassung des OLG Schleswig und der diese unterstützenden Autoren überzeugen gerade mit Blick auf die im Zivilprozess geltende Dispositionsmaxime genauso wenig wie die höchstrichterliche Rechtsprechung.

So besteht etwa bei den Anhängern der Gegenauffassung weitgehend Einigkeit darüber, dass offenkundige Tatsachen im Sinne von § 291 ZPO auch im Urkundenprozess keines Beweises bedürfen. Zur Rechtfertigung heißt es etwa bei Stürner (NJW 1972, 1257–1260) hierzu, dass es undenkbar sei, dass ein Klageanspruch nur mit allgemeinkundigen Tatsachen begründet werden könnte. Ein Beispiel eines nur mit offenkundigen Tatsachen zu begründenden Klageanspruchs wären etwa Ansprüche aus einer Auslobung gemäß § 657 BGB, die eine öffentliche Bekanntmachung des Auslobenden einer Belohnung für die Vornahme einer Handlung voraussetzen. Verschwindet etwa ein Haustier und wird dieses nach Auslobung einer Belohnung unter großer Anteilnahme der Medien dem Auslobenden zurückgegeben, ist ohne weiteres vorstellbar, dass die Voraussetzungen des Anspruchs aus § 657 BGB für ein Gericht offenkundig sind, selbst wenn weder der Aushang noch ein Zeitungsartikel beigefügt sind.

Gerade die vom OLG Schleswig und anderen Kritikern bemängelten Abgrenzungsschwierigkeiten, vor allem die Fragen, wie viele Urkunden nach Ansicht des BGH denn vorzulegen seien und ob etwa eine Mehr- oder Überzahl von Anspruchsgrundlagen durch Urkunden beweisbar sein müsse und wann lediglich von einer bloßen Lücke in der Beweisführung auszugehen sei, waren vorprogrammiert. Tatsächlich sind objektivierbare Kriterien zur Entscheidung dieser Frage nicht erkennbar. Das Argument des BGH, dass eine sich auf den Urkundenprozess beziehende Urkunde für einen Urkundenprozess begriffsnotwendig sei, überzeugt mit Blick auf § 593 ZPO nicht. Notwendig für eine Klageerhebung im Urkundenprozess ist gemäß § 593 Abs. 1 ZPO zunächst nur, dass in der Klage die Erklärung enthalten sein muss, im Urkundenprozess klagen zu wollen. Gemäß § 593 Abs. 2

Satz 1 ZPO ist dagegen nicht Voraussetzung, dass der Klageschrift auch Urkunden beigefügt werden müssen, diese können – soweit erforderlich – vielmehr auch weiteren vorbereitenden Schriftsätzen beigefügt werden.

Mit Blick auf die den Zivilprozess beherrschende Dispositionsmaxime muss vor allem die Frage beantwortet werden, warum ein Urkundenprozess ohne Urkunde – der mit Ausnahme vereinzelter Stimmen abgelehnt wird – eigentlich problematisch sein sollte.

Ein Argument hierzu lautet, dass die Statthaftigkeitsvoraussetzungen als besondere und entsprechend von Amts wegen zu prüfende Sachentscheidungsvoraussetzungen nicht zur Disposition der Parteien stünden. Dieses Argument stellt allerdings bei genauer Betrachtung lediglich einen Zirkelschluss dar, denn nur wenn man den Beweis auch unstreitiger anspruchsbegründender Tatsachen durch Urkunden fordert, könnte ein Absehen hiervon die Statthaftigkeitsvoraussetzungen des Urkundenprozesses betreffen.

Weiter wird argumentiert, dass der Beklagte durch die Forderung nach einer lückenlosen Beweisführung durch Urkunden vor den Nachteilen des Urkundenprozesses, insbesondere der vorläufigen Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung gemäß § 708 Nr. 4 ZPO, geschützt werde. Wie allerdings auch in anderen beschleunigten Verfahren, etwa bei der Anordnung eines Arrests oder dem Erlass einer einstweiligen Verfügung gemäß § 945 ZPO, hat der Gesetzgeber hinsichtlich Schäden, die aus der vorläufigen Vollstreckung des Vorbehaltsurteils resultieren, gemäß §§ 600 Abs. 2, 302 Abs. 4 Satz 3 ZPO einen verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruch gegen den Kläger normiert. Warum im Urkundenprozess noch ein weiterer Schutzmechanismus bestehen müsste, ist nicht ersichtlich. Dies, zumal gerade der Schadenersatzanspruch auch einer missbräuchlichen Verwendung des Urkundenprozesses durch den Kläger vorbeugt.

Aber auch die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellte Anforderung zumindest einer den Klageanspruch stützenden Urkunde ist mit Blick auf die Dispositionsmaxime zu hinterfragen. Die geäußerte Furcht vor einem „Urkundenprozess ohne Urkunde“ erscheint als Argument vorgeschoben. Zum einen ist gerade im Anwaltsprozess kaum vorstellbar, dass zu einem solchen Vorgehen geraten würde, weil der Kläger das Risiko trägt, dass von ihm nicht mit Urkundenbeweis unterlegte anspruchsbegründende Tatsachen durch den Beklagten bestritten werden. Zum anderen ist nicht einzusehen, warum man den Parteien ein solches – vielleicht sogar abgestimmtes – Vorgehen verwehren sollte, wie es auch mit Blick auf die Gleichwertigkeit zwischen Urkundenbeweis und Geständnis oder Nichtbestreiten hingenommen wird [Stein/Jonas/Berger, ZPO, 22. Aufl. (2013), § 597 ZPO Rn. 12].

Bleibt schließlich die Argumentation, dass der Gesetzgeber den Kläger, der seinen Anspruch ausschließlich auf Urkunden als besonders sicheres Beweismittel stützen kann, durch die Schaffung des Urkundenprozesses privilegieren wollte. Abgesehen davon, dass ein derartiger Wille des Gesetzgebers nicht in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gekommen ist, und vor dem Hintergrund, dass die Vorschriften über den Urkundenbeweis lediglich die öffentliche Urkunde besonders privilegieren, ist nicht nachvollziehbar, warum eine durch Urkunden belegte Tatsache prozessual wertvoller als eine zwischen den Parteien des Rechtsstreits unstreitige Tatsache sein sollte, zumal das Nichtbestreiten mit der Klageerwiderung urkundlich belegt wäre.

Fazit
Es besteht folglich kein Grund für die Einschränkung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, zumal neue Argumente fehlen und das Instrument des Urkundenprozesses leerlaufen könnte.

Ein Grund, die Dispositionsmaxime der Parteien im Urkundenprozess einzuschränken, besteht nicht, vielmehr sollte man den Parteien auch von Seiten der Gerichte zutrauen, dazu in der Lage zu sein, die für ihre Zwecke beste Verfahrensart zu wählen.

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Alexander.druckenbrodt@kayescholer.com

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